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Deutschland braucht einen kräftigen Ruck

Forum - Deutschland braucht einen kräftigen Ruck
Still ruht die Spree: Im Land der Großen Koalitionen und ewigen Einigkeiten sind echte Debatten nicht vorgesehen. © Antonino Bartuccio/Huber Images, Heiko Kieflling

Nach der Bundestagswahl muss ein Wandel der Debattenkultur erfolgen und das konkordanzdemokratische Element zurückgedrängt werden.

Eckhard Jesse01.10.2021

Jetzt sind die Würfel gefallen – und sie sind es doch nicht. Zwar hat die SPD den ersten Platz erreicht, aber ob Olaf Scholz Kanzler wird, steht noch keineswegs fest. Das Ausbooten der Wählerschaft mag bedauerlich sein, ein Rückblick auf die zum Teil leidvolle deutsche Geschichte lässt freilich weitaus schlimmere Probleme erkennen. Vor diesem Hintergrund besteht ungeachtet mancher Misshelligkeiten kein großer Grund zur Klage.

Der deutsche Nationalstaat wurde 1871, also genau vor 150 Jahren, ins Leben gerufen. Deutschland hat im 20. Jahrhundert vier Systemwechsel erlebt: 1918/19 brach die autoritäre Monarchie des Kaiserreiches zusammen und die Weimarer Republik entstand, die erste Demokratie auf deutschem Boden. 1933 kamen die Nationalsozialisten an die Macht – sie lösten einen Zivilisationsbruch ohnegleichen aus. Das Dritte Reich, das sich als „Tausendjähriges Reich“ wähnte, wurde nach einem von ihm entfesselten Krieg ein Dutzend Jahre später durch die Alliierten bezwungen. Auf ein Interregnum von vier Jahren folg te im Westen eine neue Demokratie, dank der USA, Großbritanniens und Frankreichs, im Osten Deutschlands nun eine andere – eine rote – Diktatur. Die „Freiheitsrevolution“ in der DDR 1989 ging 1990 in eine „Einheitsrevolution“ über. Die Zeitspanne seit 1945 währt mit 76 Jahren mittlerweile länger a ls jene des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und des Dritten Reiches zusammen.

Gewiss, diese Erfolgsgeschichte war nach dem Ende des Nationalsozialismus so nicht absehbar. Aber: Das entbindet uns nicht davon, Defizite anzuprangern. Die heftigen Einschnitte, im kollektiven Bewusstsein eingebrannt, besitzen eine identitätsstiftende Funktion, erklären das Sicherheitsbestreben der Bürger und der Eliten wesentlich mit – ein Fahren auf Sicht. Politiker scheuen Risiken, Verantwortungsethik mit dem Denken an die Folgen dominiert. Das ist die eine, die positive Seite, die andere, die weniger erfreuliche:

Staat der Großen Koalition

In Deutschland wiegt das konkordanzdemokratische Element stärker als das konkurrenzdemokratische. Das Land benötigt mehr Wettbewerb. Die vielen Großen Koalitionen haben weder den Parteien noch unserer Demokratie gutgetan. Apropos „Große Koalition“: Der Begriff weist mittlerweile über die jeweilige Regierung hinaus. Deutschland ist, je nach Perspektive, ein Parteienstaat, ein Bundesstaat, ein Rechtsstaat, ein Sozialstaat, ein Koalitionsstaat, ein Kanzlerstaat, ein Sicherheitsstaat, mittlerweile ebenso ein „Staat der Großen Koalition“ (Manfred G. Schmidt) geworden. Dies meint die durch das reine Verhältniswahlrecht geförderte Dominan z von Kooperation. Deutschland hat ungeachtet des Zweistimmensystems – die erste Stimme entfällt auf eine Person, die zweite auf eine Partei – entgegen manchen Annahmen kein Mischwahlrecht. Wer diesen Terminus verwendet, kann ihn bloß auf die Person und die Listen beziehen, nicht auf Verhältnis- und Mehrheitswahl.

Die starke Rolle des Bundesrates bei der Gesetzgebung – zustimmungspflichtige Gesetze, also die wichtigen, und Verfassungsänderungen benötigen die Mehrheit beziehungsweise die Zweidrittelmehrheit in dieser Kammer – schwächt den Konkurrenzmechanismus. Obwohl Union und SPD von 2013 bis 2021 im Bund eine Koalition bildeten, hatten sie im Bundesrat keine Mehrheit. Aushandlungsprozesse zwischen den Regierungs- und Oppositionsparteien gehören zum politischen Alltagsgeschäft. Verantwortlichkeiten verwässern und die Zurechenbarkeiten eines Beschlusses bleiben dem Wähler oft verborgen. Schließlich findet eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner statt.

Fehler sind manchmal unvermeidlich. Aber der Umgang bei aktuellen und schwerwiegenden Problemen lässt zu wünschen übrig: so beim Schutz vor Corona – anfangs fehlten Masken; so beim „Jahrhunderthochwasser“ im Juli – Sirenen funktionierten teilweise nicht; so beim August-Debakel in Afghanistan – es wurde versäumt, Ortskräfte rechtzeitig auszufliegen. Die Ursachen mögen unterschiedlich sein. Sie hängen auch mit dem Fehlen einer offenen Diskussionskultur zusammen. Wir benötigen in Deutschland eine ernsthafte Diskussion über Probleme, die Bürger bewegen. Warum etwa blieb eine offensive Information durch die Bundesregierung über den 2018 in Kraft getretenen Migrationspakt aus? Dadurch verschwinden Verschwörungsmythen nicht. Eine Konsenskultur führt keineswegs zu mehr Liberalität und Weltoffenheit, fördert vielmehr Bunkermentalität.

Die hiesige Debattenkultur lässt also zu wünschen übrig: zum einen dadurch, dass oft brisante Themen, die in der Bevölkerung rumoren, kaum in die öffentliche Diskussion gelangen; zum anderen dadurch, dass Polarisierung um sich greift. Beide Sichtweisen lassen kein angemessenes Konfliktverständnis erkennen. Der Geist der Liberalität zerrinnt. Mattigkeit lastet über dem Land.

Was erklärt die mangelnde Debattenkultur, die zum Teil zwischen polarisierenden Scharmützeln und stickigem Harmoniedenken changiert? Viele befürchten Ausgrenzung, wenn sie von einer „herrschenden Meinung“ abweichende Positionen vertreten. Der Druck, ob eingebildet oder nicht, geht nicht vom Staat aus, sondern von der Gesellschaft. Die Diagnose verlangt eine Therapie. Was ist zu ändern? Die Wettbewerbskultur muss gesteigert werden, durch institutionelle Reformen, aber nicht nur durch sie.

Was ist zu tun?
• Im Bundesrat sollen hinfort Enthaltungen wie Enthaltungen zählen – und nicht mehr wie Nein-Stimmen. So wächst die Wahrscheinlichkeit für gleiche Mehrheiten in beiden Kammern. Und dies erhöht die Chance des „Durchregierens“.
• Ein aufgeblähtes Parlament (der Bundestag hat jetzt 735 Abgeordnete, also 26 mehr als zuletzt, statt der vorgesehenen 598) fördert weder Arbeitsfähigkeit noch den Wettbewerbscharakter. Parteien handeln offenbar nach dem Motto: Wenn wir schon Stimmen verlieren, wollen wir die Mandate behalten. Damit muss Schluss sein.
• Die Einführung einer Mehrheitsprämie für das siegreiche politische Parteienlager schwächt das konkordanzdemokratische Element, da dann lagerübergreifende Bündnisse ausbleiben. Somit votiert der Wähler nicht nur für eine Partei, sondern auch für eine Regierung.
• Schließlich ließe sich über die Einführung einer Nebenstimme nachdenken. Sie käme zum Zuge, wenn die gewählte Partei mit der Hauptstimme unter fünf Prozent bleibt. Diesmal sind immerhin 8,8 Prozent für „die Sonstigen“ unverwertet geblieben. Und wäre Die Linke dank der Alternativklausel, der Gewinn von drei Direktmandaten setzt die Fünfprozenthürde außer Kraft, nicht doch noch in den Bundestag gelangt, müsste der Anteil dieser Stimmen um 4,9 Prozentpunkte erhöht werden.
• Die „lebende Verfassung“, von der Dolf Sternberger, ein Gründungsvater der hiesigen Politikwissenschaft, gesprochen hat, kann sich nicht mit institutionellen Reformen begnügen. Es bedarf mutiger Politiker in einer Bürgergesellschaft, die notwendige, wiewohl unpopuläre Maßnahmen zu schätzen weiß.
• Oft steckt hinter dem ubiquitären Vorwurf der „Spaltung“ gegenüber dem jeweiligen Konkurrenten mangelnde Konfliktbereitschaft. Wer austeilt, muss einstecken können. Lagermentalität tut freilich nicht gut.
• Entscheidend für die Qualität einer Argumentation ist nicht, wer sie vorbringt und wo sie veröffentlicht wird. Was zählen sollte: die Stimmigkeit der jeweiligen Position. Die Aussage, jemand bekomme Beifall von der falschen Seite, sagt gar nichts aus.
• Wer als Politiker, als Publizist, als Wissenschaftler in einer Blase lebt, erfährt die Vielfalt der Argumente nicht. Auch die andere Seite kann recht haben. Keineswegs ist dies ein Plädoyer für Freund-Feind-Denken.
• Polarisierung muss nicht nur negativ konnotiert sein mit Radikalismus und Fundamentalopposition. Sie präsentiert vielmehr unter Umständen sinnvolle Alternativen. Wer Anstoß erregt, vermag Anstöße zu geben.

Ruck-Rede Roman Herzogs

Bundespräsident Roman Herzog hielt bereits im April 1997, also vor nunmehr bald einem Vierteljahrhundert, in der Endphase der Regierungszeit Helmut Kohls, die berühmte „Ruck-Rede“. Er sah Mutlosigkeit am Werk, überbordenden Bürokratismus und ermunterte zu mehr Selbstverantwortung wie zu mehr Wettbewerb. Herzog glaubte daran, im Jahr 2020 werde die Gesellschaft eine grundlegend andere sein: mit Bezug auf mehr Freiheit, auf mehr Solidarität, auf mehr Toleranz. Aber ist das eingetreten?

Jetzt, nach der Bundestagswahl, bedarf es eines bundesweit spürbaren Rucks. Deutschland würde von einem derartigen Aufbruch profitieren. Der Wunsch vieler Wähler: Möge die neue Regierung, ob nun Rot-Grün-Gelb („Ampel“) oder Schwarz-Grün-Gelb („Jamaika“), noch im Jahr 2021 ins Amt gelangen und die Bürger vor monatelangen Sondierungen samt Durchstechereien bewahren.

Eckhard Jesse

Prof. Dr. Eckhard Jesse lehrte von 1993 bis 2014 Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, gibt er seit 1989 das Jahrbuch Extremismus & Demokratie heraus. Er schreibt seit mehr als 20 Jahren regelmäßig für die Neue Zürcher Zeitung.