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Die Union in der Bredouille

Forum - Die Union in der Bredouille
Abgang Laschet: Der gescheiterte Unions-Kanzlerkandidat verlässt am 7. Oktober nach einem Pressestatement im Konrad-Adenauer-Haus die Bühne. Für die Wahlniederlage hat er mittlerweile die Verantwortung übernommen. © Heiko Kieflling, political-moments/Jutta Prechtel/süddeutsche zeitung photo

Sie muss einen neuen Kurs einschlagen – aber welchen? Das ist die Gretchenfrage

Eckhard Jesse01.11.2021

Bei der Bundestagswahl 1976 erzielte die Union 48,6 Prozent der Stimmen – und trotzdem musste sie in die Opposition, weil sich SPD und FDP zuvor auf eine Fortsetzung der Koalition verständigt hatten. Bei der Bundestagswahl 2021 erreichte sie mit 24,1 Prozent (Ost: 16,9 Prozent; West: 25,6 Prozent) nicht einmal die Hälfte des seinerzeitigen Stimmenanteils, allerdings nunmehr unter den Bedingungen eines Sechsparteiensystems. 2017 hat die Union im Vergleich zur vorherigen Bundestagswahl 8,6 Punkte verloren (etwas mehr als 20 Prozent) und bei der jüngsten Bundestagswahl 8,9 Punkte (deutlich mehr als 25 Prozent). Das Wort „Desaster“ bauscht nichts auf.

Bei einer rein formalen Addition kommen die nicht linken Parteien (Union, FDP, AfD) zwar immer noch auf mehr Stimmen als die linken (SPD, Bündnis 90/ Die Grünen, Die Linke) mit 45,9 zu 45,4 Prozent und damit auf eine knappe absolute Mehrheit der Mandate, aber niemand zog zu Recht eine solche Regierung in Erwägung. Das wäre eine Milchmädchenrechnung. Denn bei der Verkündung einer derartigen Konstellation vor der Wahl hätten die drei nicht linken Parteien deutlich schlechter abgeschnitten. Ein solcher Weg bleibt der Union aus arithmetischen wie aus politischen Gründen versagt.

Laschet hat nicht allein verloren

Dass der Wahlverlierer Armin Laschet jetzt den Kurs der CDU zu moderieren gedenkt, ist ein Armutszeugnis. Die Wahl hat nicht nur Laschet verloren, sondern auch Wolfgang Schäuble, Angela Merkel und Markus Söder. Laschet deshalb, weil er sich miserabel präsentierte: argumentativ schwach, in zahlreiche Fettnäppchen tretend; Schäuble deshalb, weil der „Elder Statesman“ sich derart massiv für Laschet im Vorfeld ins Zeug geworfen hatte, um einen Kandidaten der CSU zu verhindern; Söder, weil dieser im Wahlkampf das eine oder andere Mal mit Spitzen gegen Laschet aufwartete; Merkel, weil sie diesen kaum unterstützte, sei es, weil es ihrer Mentalität entsprach, sei es, weil sie den Bewerber der Union nicht für kanzlertauglich ansah.

Aber die Analyse muss über Personen hinausreichen. Friedrich Merz hat am 15. Oktober 2021 auf dem Deutschlandtag der Jungen Union kein Blatt vor den Mund genommen und die Union als „insolvenzgefährdeten, schweren politischen Sanierungsfall“ bezeichnet. Der nicht nur subkutane Wandel der Union zu einer Partei, die kaum mehr frühere Positionen aus dem konservativen Lager vertritt, hatte das Koordinatensystem verschoben. Auf der einen Seite wurden durch Angela Merkels Strategie die Anhänger der linken Konkurrenz demobilisiert, auf der anderen Seite ließ sie eine Repräsentationslücke entstehen, die von der AfD gefüllt wurde.

Kein Weg führt an dem Befund vorbei, dass die mehr von der CDU als von der CSU forcierte „Willkommenskultur“ viele ihrer Anhänger ge- und verstört hat. Hier ist grundlegendes Umdenken nötig. Das Vollzugsdefizit ist mit Händen zu greifen. Wer kein Bleiberecht hat, muss Deutschland verlassen. Und: Eine doppelte Staatsbürgerschaft, die auf eine doppelte Loyalität hinausläuft und Integration nicht fördert, schafft nach Ansicht des Union-Elektorats wohl mehr Probleme als Lösungen. Es ist daher nicht richtig, die Schuld nur auf die renitente CSU abzuwälzen. 

Es wäre verantwortungslos, die Fraktionsgemeinschaft zwischen der CDU und der CSU aufzukündigen. Wer für ein bundesweites Antreten von CDU und CSU plädiert, erweist der Parteiendemokratie einen Bärendienst. Die mögliche Folge: eine ungeahnte Dynamik, weit über diese beiden Parteien hinaus. Die Reibungsverluste zwischen den Schwesterparteien nähmen zu. Der interfraktionelle Streit muss künftig größer sein, der innerfraktionelle hingegen kleiner. Ganz abwegig: Friedhelm Ost, der frühere Regierungssprecher Helmut Kohls, hat jüngst sogar eine generelle Trennung der CDU von der CSU und eine Kandidatur der CDU im Freistaat befürwortet. Sie dürfe nicht mehr Spielball einer Regionalpartei sein.

Opposition ohne Kooperation

Dreimal wurde über die bundesweite Ausdehnung der CSU diskutiert, allerdings meist mehr indirekt. Erstens 1976, als Franz Josef Strauß in Wildbad Kreuth die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU – vorübergehend – aufkündigen ließ. Die CSU legte ihre Initiative schnell ad acta, als sie den Widerstand der CDU zu spüren bekam. Diese wäre dann zu einer Kandidatur in Bayern bereit gewesen. Zweitens 1989/90, als in der DDR nach der friedlichen Revolution mit der Deutschen Sozialen Union (DSU) eine von der CSU unterstützte unbelastete Neugründung ins Leben gerufen wurde. Doch bald verlor die DSU die Unterstützung der CSU, die unkalkulierbare Entwicklungen befürchtete. Drittens 2018, als aufgrund des Zerwürfnisses zwischen der CDU und der CSU, mehr zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer, kurzfristig ein Ende der Fraktionsgemeinschaft nicht ausgeschlossen schien. Bereits bei der Bundestagswahl 2017 hatte die CSU – das erste Mal – ein eigenes Wahlprogramm erstellt, neben dem gemeinsamen von CDU und CSU, den „Bayernplan“. Aber offensiv betrieb eine solche Trennung niemand. All das blieb letztlich eine bloße Gespensterdebatte – und eine solche muss es bleiben.

Was hingegen nottut: Die Union braucht wieder erkennbare Flügel – einen christlichen, einen konservativen, einen liberalen, einen sozialen. Die Absage an die „Sozialdemokratisierung“ der CDU bedeutet jedoch kein Plädoyer für einen pauschalen Rechtsschwenk, um die Mehrheitsfähigkeit in einer individualisierten Gesellschaft zu erhalten, sondern eine Revitalisierung ihres Markenkerns. Die Union muss ihre konservativen Positionen ausbauen – nicht nur konservative, aber auch konservative. Und zwar in der Familien-, der Gender-, der Identitäts-, der Energie-, der Sicherheits-, der Finanz- und, vor allem, der Migrationspolitik.

Die CDU/CSU geht schweren Zeiten entgegen. Zum einen ist sie – extrem misslich – in einer heterogenen parlamentarischen Opposition mit der AfD und der Partei Die Linke gefangen, mithin ohne Chance auf Kooperation. Das Wort von der „Regierung im Wartestand“ trifft daher nicht zu. Zum anderen, und das mag für die Union, die weithin die Geschicke der Bundesrepublik Deutschland bestimmt hat, deutlich schlimmer sein: Da es der SPD und den Grünen gelingen dürfte, die Liberalen auf ihre Seite zu ziehen, muss die Partei mit einer längeren Trennung von den „Fleischtrögen“ der Macht im Bund rechnen. Besser steht die CSU da. Sie kann im Landtagswahlkampf 2023 einen kommunikativ gut vermittelbaren Kurs gegen die drei Parteien der Bundesregierung fahren.

Die Parallele zu heute ist nicht 1998, als die Union mit der ihr verbündeten FDP in die Opposition geraten war, sondern 1969. Damals vermochte die SPD die Liberalen für ein Reformbündnis zu gewinnen. Es dauerte 13 Jahre, ehe die Union wieder den Regierungschef stellen konnte. Doch anders als 1969, und das mag nur ein schwacher Trost für die Union sein, präjudiziert die Regierungsbildung im Bund nicht die in den Ländern. Der Grund: Die politischen Lager bestehen zwar fort, aber abgeschwächt, und die Interessen der Parteien in den Ländern decken sich nicht durchweg mit denen ihrer Bundesparteien.

Eckhard Jesse

Prof. Dr. Eckhard Jesse lehrte von 1993 bis 2014 Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, gibt er seit 1989 das Jahrbuch Extremismus & Demokratie heraus. Er schreibt seit mehr als 20 Jahren regelmäßig für die Neue Zürcher Zeitung.