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Vor 30 Jahren – nach 30 Jahren
Das „kurze 20. Jahrhundert“ ging vor drei Jahrzehnten zu Ende – die Folgen sind nicht nur positiv
Am 25. Dezember 1991 wurde von den Zinnen des Kremls die rote Fahne mit Hammer und Sichel symbolträchtig eingeholt und die weiß-blau-rote Fahne Russlands aufgezogen. Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow, heute 90 Jahre alt, trat zurück – das Sowjetsystem löste sich auf. Was Gorbatschow wollte, eine Reform des Kommunismus, erreichte er nicht; und was er erreichte, ein Ende des Kommunismus, wie es sich im Herbst 1989 in mehreren Ländern vollzog, wollte er so nicht. In dem „Aufruf an die Sowjetbürger“, seiner Abschiedsrede vom 25. Dezember 1991, hieß es: „Das totalitäre System, das unserem Land über lange Zeit die Möglichkeit geraubt hat, aufzublühen und zu gedeihen, ist vernichtet worden.“ Am gleichen Tag formulierte sein Rivale Boris Jelzin und Nachfolger als Präsident der Russischen Föderation in einer Fernsehansprache an das amerikanische Volk diesen Systembruch wie folgt: „Unser Land weiß Ihre Hilfe und Unterstützung für die in Gang gesetzte Wirtschaftsreform sowie für unsere Anstrengungen zur Überwindung des totalitären Albtraums zu schätzen, den wir als Erbe mit uns herumschleppen.“ Und kurze Zeit später sprach der einstige Außenminister der Sowjetunion Eduard Schewardnadse in einem Appell an den Westen vom „Joch des Totalitarismus“.
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Ursachen
Ausgerechnet einst führende Kommunisten wie Gorbatschow, Jelzin und Schewardnadse schreckten nicht davor zurück, den im Westen vor dem Zusammenbruch des Kommunismus weithin verpönten Begriff „totalitär“ gleichsam selbstverständlich zu verwenden – mit Blick auf das eigene System. Der Kommunismus, zumal in seiner sowjetischen Prägung, trat von der politischen Bühne ab – urplötzlich, weithin friedlich. Das 20. Jahrhundert ist damit ein „kurzes Jahrhundert“, das von 1914/17 bis 1989/91 reicht. 1914 brach der Erste Weltkrieg aus, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, und 1917 gelangte der Kommunismus an die Macht. Diese Zeit war eine Zeit ideologischer Kämpfe.
Hinfällig und entkräftet zerbrach der Kommunismus mehr an eigenen Schwächen als an Angriffen seiner Gegner. Der Versuch, das System von innen heraus zu reformieren, beschleunigte den Untergang des „Vaterlandes aller Vaterländer“. Einerseits machten Verselbstständigungstendenzen einstiger Satellitenstaaten dem sowjetischen Kommunismus zu schaffen, andererseits leistete dieser ihnen durch eigene Liberalisierung indirekt Vorschub. Ein Domino-Effekt trat ein.
Neben mannigfachen Integrationsmechanismen, etwa durch soziale „Errungenschaften“, durch das Schüren von Feindbildern („Faschismus“), gab es erhebliche Zentrifugalkräfte. Die permanente Unterdrückung der Freiheit rief Gegenkräfte hervor, paradoxerweise mehr noch der Rückgang der Repression. Die Leistungsfähigkeit kommunistischer Regime blieb weit hinter jener der meisten Staaten des Westens zurück, zum Beispiel mit Blick auf die Innovationen im Computerzeitalter; das System der Planwirtschaft lähmte; die allmähliche Entkräftung der Ideologie ließ den Glauben an eine bessere Zukunft schwinden; die militärische Hochrüstung, die zur Überspannung der Kräfte führte, ging auf Kosten des ohnehin niedrigeren Lebensstandards.
Allerdings: Wie immer man den Anteil auch gewichten mag, die bloße Existenz des Westens beförderte den Niedergang des Kommunismus – allein durch seine Ausstrahlungskraft. Für die Menschen in der DDR etwa war die Bundesrepublik Deutschland die Vergleichsgesellschaft, nicht Ungarn, schon gar nicht Rumänien oder Bulgarien. Wie der Kommunismus durch die Existenz des Nationalsozialismus beziehungsweise des Faschismus zeitweilig an Massenloyalität gewonnen hatte, so verlor er diese durch die politische, wirtschaftliche und kulturelle Vitalität demokratischer Verfassungsstaaten.
Verlauf
„In Polen dauerte es zehn Jahre, in Ungarn zehn Monate, in der DDR zehn Wochen; vielleicht wird es in der Tschechoslowakei nur zehn Tage dauern!“ Timothy Garton Ash, der einfühlsame Chronist der historischen Vorgänge – vor und nach 1989 – hatte dies am 23. November 1989 Václav Havel prophezeit. Um das Bonmot pointiert zu ergänzen: In Rumänien dauerte „es“ bloß zehn Stunden; und nur in diesem Land fiel der Umbruch unfriedlich aus. Dem Fall der Mauer – sie war mehr als ein Bauwerk – kommt eine symbolische Tragweite zu.
Der Versuch von Hardlinern in der Sowjetunion, durch einen Staatsstreich die Entwicklung aufzuhalten, beschleunigte den Untergang des Riesenreiches. Einigkeit besteht wohl darin, dass ohne die Sowjetunion – mit der faktischen Aufgabe der Breschnew-Doktrin – dieser revolutionäre Wandel unmöglich gewesen wäre. Hätte das Riesenreich beim Hinausschieben innerer Veränderungen allerdings noch lange Bestand gehabt? Wer Gorbatschow als Totengräber des Kommunismus ansieht, muss dessen Zwangslage berücksichtigen. Die Art des Systemwechsels verlief von Land zu Land unterschiedlich. Das von Timothy Garton Ash geprägte Kunstwort „Refolution“ verweist auf die Mischung aus Reform und Revolution.
Aus der Sowjetunion entstanden viele Staaten, mit Russland als weitaus stärkstem Gebilde. Jugoslawien zerfiel ebenso in mehrere Länder. Bürgerkriege gingen dem Zerfall voraus und folgten ihm. Während aus der Tschechoslowakei zum 1. Januar 1993 Tschechien und die Slowakei hervorgingen, trat bereits am 3. Oktober 1990 die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei.
Folgen
Wer die Staatenwelt drei Jahrzehnte nach diesen tektonischen Verschiebungen betrachtet, kommt zu einem ambivalenten Ergebnis. Was nach der Theorie des „Dilemmas der Gleichzeitigkeit“ (Claus Offe) – politischer (Etablierung einer Demokratie), ökonomischer (Etablierung einer Marktwirtschaft), kultureller (Etablierung einer Zivilgesellschaft) und zum Teil staatlicher Wandel (Etablierung eines neuen Staates) – kaum möglich erschien, trat ein: zum Teil eine Konsolidierung der ehemals kommunistischen Diktaturen als Demokratien. Das gilt nicht nur für die baltischen Staaten. Hingegen stellt Russland ein autoritäres Gebilde dar; und Belarus (Weißrussland) ist seit 1994 unter Alexander Lukaschenko eine Diktatur.
Die Folgen von 1989/1991 tragen weit. Das gilt nicht nur für die Staaten, in denen eine Levée en masse die Anciens Régimes hinweggefegt hat, sondern auch für ihre demokratischen Kontrahenten, denen durch das faktische Ende des Kommunismus zwar ein Gegner fehlt, damit zugleich aber auch eine Herausforderung. Und an manchen Staaten der Dritten Welt, meistens Diktaturen, gingen die weltbewegenden Vorgänge wahrlich nicht spurlos vorbei.
Die externe Form der Demokratisierung ist ein heikles Unterfangen. Wann darf, kann und muss militärisch interveniert werden? Lässt sich (innerer) Frieden durch Krieg bewerkstelligen? Verbietet die Souveränität der Staaten eine Intervention von außen? Oder gebietet die krasse Verletzung von Menschenrechten bis hin zu ethnischen Massakern ein militärisches Eingreifen von Demokratien? Wer entscheidet darüber? Die Positionen der Pazifisten und die der Menschenrechtler stehen sich hier unversöhnlich gegenüber.
Francis Fukuyamas optimistische Prognose vom „Ende der Geschichte“ hat sich nicht bewahrheitet. Das Ende des Kommunismus ist kein Ende der Diktaturen. Gerade das Beispiel Russlands unter Wladimir Putin, der mit Unterbrechungen seit Anfang des Jahres 2000 als Präsident amtiert, ist dafür ein Beispiel, nicht erst seit der Annexion der Krim 2014.
Prof. Dr. Eckhard Jesse lehrte von 1993 bis 2014 Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, gibt er seit 1989 das Jahrbuch Extremismus & Demokratie heraus. Er schreibt seit mehr als 20 Jahren regelmäßig für die Neue Zürcher Zeitung.
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