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Das Krisenjahr 1923
Die Weimarer Republik, die erste deutsche Demokratie, hatte nicht lange Bestand. Ihre Herausforderungen mit den heutigen zu vergleichen ist nur bedingt sinnvoll.
Deutschland hat im 20. Jahrhundert viele Systemwechsel erfahren. Das Kaiserreich brach 1918 zusammen, und es entstand die erste deutsche Demokratie, die kurzlebige Weimarer Republik. Wegen der Unruhen in Berlin trat die Nationalversammlung am 6. Februar 1919 im thüringischen Weimar zusammen: der Grund für ihren Namen. 1933 beseitigte der Nationalsozialismus diese ungefestigte Demokratie.
War die Weimarer Republik ein durch und durch krisenhafter Staat, so zählte 1923 zu den krisenhaften Jahren schlechthin. Vor allem fünf Vorgänge, die sich zum Teil überlappten und bedingten, lösten Krisen aus: die Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien, die Inflation, die Geldvermögen vernichtete, kommunistische Aufstandsversuche, der HitlerPutsch vom 9. November, separatistische Bewegungen im Rheinland wie in der Rheinpfalz. All diese Ereignisse hatten eine Vor- und eine Nachgeschichte, die das Unheil nicht abzuwenden vermochten.
100 Jahre danach lassen Historiker diese bewegte Zeit Revue passieren. Aus der Fülle der Bücher ist Volker Ullrichs Deutschland 1923 herauszuheben. Überaus anschaulich wird das dramatische Geschehen im „Jahr am Abgrund“ eingefangen, auch deshalb, weil eingängige Zitate von Zeitzeugen wie Harry Graf Kessler, Victor Klemperer und Thomas Mann aus dem „Tollhausjahr“ in den Text einfließen. Der bekannte Historiker versteht es, der Leserschaft die Turbulenzen einprägsam vor Augen zu führen.
Fünf schwere Krisen
Die Ruhrbesetzung durch französische und auch belgische Truppen im Januar 1923 erfolgte, weil Deutschland den im Versailler Vertrag auferlegten Reparationen nicht nachkam, nicht nachkommen konnte. Die Folge: passiver Widerstand der Deutschen. Der neue Reichskanzler Gustav Stresemann verkündete im September gegen den Protest von Nationalisten den Abbruch des „Ruhrkampfes“ aus ökonomischen wie außenpolitischen Gründen.
Eine Ursache für die Hyperinflation des Jahres 1923 lag in der Übernahme der Kosten für die streikenden Arbeiter durch den Staat. Die Regierung brachte immer mehr Geld in Umlauf, bis sich die Inflation zu einer Hyperinflation auswuchs. Im Mai kostete ein Brot 500 Mark, im November fünf Milliarden. Alle Ersparnisse waren mit einem Mal weg und ebenso alle Schulden für Grundstückseigentümer. Eine Währungsreform wurde unumgänglich – und sie wirkte. Diese Inflation hat sich in das Gedächtnis vieler Deutscher eingebrannt. Seinerzeit traten apokalyptische Wanderprediger auf, sogenannte „Inflationsheilige“, die mit ihren wirren politischen Zielen Erlösung von den Übeln der Zeit versprachen.
Die Kommunisten strebten das auch an – und zwar gleich zu Beginn der Weimarer Republik, etwa im „Spartakusaufstand“. Der von der Komintern ins Auge gefasste „Rote Oktober“ wurde nach dem Scheitern eines Generalstreiks in Sachsen, wo die KPD wie in Thüringen der Regierung angehörte, schließlich abgeblasen – es gab „nur“ den „Hamburger Aufstand“ unter Ernst Thälmann, der rasch zusammenfiel. Das Ziel, die Staatskrise für sich zu nutzen, scheiterte damit in den Anfängen.
Auch dem Hitler-Putsch vom 9. November, auf den Tag genau fünf Jahre nach der Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann, gingen antidemokratische Aktionen voraus. Nach dem Abbruch des passiven Widerstandes im Rheinland wollte die bayerische Regierung, die damit nicht einverstanden war, gegen Berlin vorgehen. Hitler suchte die verworrene Situation zu nutzen und strebte einen „Marsch auf Berlin“ an – als Vorbild diente Mussolinis „Marsch auf Rom“ ein Jahr zuvor. Sein dilettantischer Putsch im Münchner Bürgerbräukeller, unterstützt von General Erich Ludendorff, brach schnell zusammen. Hitler erhielt eine milde Strafe und setzte von nun an auf eine legale Revolution. Keine zehn Jahre später führte diese Taktik zum Erfolg.
Es gab 1923 nicht nur eine Bedrohung von außen, sondern auch eine von innen. Der rheinische Separatismus mit seiner „Los von Berlin“-Bewegung profitierte von der Ruhrbesetzung wie von der verheerenden Inflation. Der Ausrufung der „Rheinischen Republik“ im Oktober folgte bereits am 16. November in der „Schlacht am Aegidienberg“ durch Bürgerwehren ihr Ende; die „Pfälzische Republik“ bestand bis zum Februar 1924.
Die Weimarer Republik konnte all diese Herausforderungen schließlich meistern und sich allmählich konsolidieren. Volker Ullrich schreibt das wesentlich und zu Recht Reichskanzler Gustav Stresemann zu, der allerdings bereits nach 100 Tagen sein Amt aufgeben musste, da der Reichstag die von ihm gestellte Vertrauensfrage negativ beschied. Am 31. Dezember 1923 notierte der britische Botschafter Lord D’Abernon in sein Tagebuch die folgenden Worte, offenkundig an Stresemann denkend: „Politische Führer in Deutschland sind nicht gewohnt, dass ihnen die Öffentlichkeit Lorbeerkränze flicht. Und doch haben diejenigen, die das Land durch diese Gefahren hindurchgesteuert haben, mehr Anerkennung verdient, als ihnen zuteilwird.“
Vordergründige Parallelen
Wer die damaligen Hauptkrisenfelder mit der heutigen Zeit vergleicht, erkennt gravierende Unterschiede: Kein Land der Welt meldet Gebietsansprüche gegenüber Deutschland an. Die damalige Inflation wirkt zwar als Trauma nach, aber die jüngsten Preissteigerungen rufen kaum Ängste hervor. Die Weimarer Republik war bekanntermaßen eine „Demokratie ohne Demokraten“. Stabil war nur die Instabilität. Jeder Reichstag wurde vorzeitig aufgelöst. Fristete der organisierte Extremismus seinerzeit wahrlich kein Schattendasein, so ist er heute – rechts wie links – im doppelten Sinne schwächer: zum einen quantitativ, zum anderen qualitativ. Schließlich fehlen separatistische Tendenzen, anders als in Belgien, Frankreich, Großbritannien und Spanien. Selbst der schärfste Kritiker der deutschen Einheit will die DDR nicht zurück haben.
Die Berufung auf die Lehren aus Weimar hat Vor- wie Nachteile. Vorteile insofern, als das Ende der ersten deutschen Demokratie Versäumnisse und Fehler nachhaltig offenlegt. Daraus vermochte eine „Schönwetterdemokratie“ zu lernen. So wurde Kompromissfähigkeit gefördert. Nachteile insofern, als die Fixierung auf die Vergangenheit die Gegenwart mit ihren anderen Problemen nicht angemessen erfasst. Wer gegen Volksabstimmungen ist oder gegen die Selbstauflösung des Bundestages, sollte dafür triftige Argumente ins Feld führen, aber den Rekurs auf Weimar tunlichst vermeiden.
Buchtipps
Volker Ullrich:
Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund
C. H. Beck,
441 Seiten, 28 Euro
Eckhard Jesse:
Interventionen. Zur (Zeit-)Geschichte und zur Politikwissenschaft
Nomos,
541 Seiten, 119 Euro
Prof. Dr. Eckhard Jesse lehrte von 1993 bis 2014 Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, gibt er seit 1989 das Jahrbuch Extremismus & Demokratie heraus. Er schreibt seit mehr als 20 Jahren regelmäßig für die Neue Zürcher Zeitung.
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