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Neubeginn ohne Aufbruch
Viele Bürger wissen nicht, wo sie am 23. Februar ihr Kreuz machen sollen – es besteht eine hohe Wählerfluktuation.
Wahltag ist Zahltag, heißt es im Volksmund. Aber so manche Wähler hadern mit den Parteien. Der Anstieg der Wählerfluktuation – die Zahl der Stammwähler schwindet seit Längerem – ist auch ein Zeichen verbreiteter Unzufriedenheit. Das vorzeitige Ende der Koalition, deren Partner miteinander fremdelten, schwebte schon eine geraume Zeit wie ein Damoklesschwert über ihr.
Zum vierten Mal in der 75-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland löste der Bundespräsident 2024 den Bundestag auf, da Olaf Scholz mit der FDP nicht mehr zusammenarbeiten wollte. Erstmals geschah dies 1972, als Willy Brandt mit der sozial-liberalen Koalition durch den Übertritt von Abgeordneten, vornehmlich der FDP zur Union, die parlamentarische Mehrheit verloren hatte; dann 1983, als Helmut Kohl den Wechsel der FDP zur Union plebiszitär abzusegnen suchte; schließlich 2005, als Gerhard Schröder nach der für die SPD verlorenen nordrhein-westfälischen Landtagswahl die Flucht nach vorn antrat. Das Unterfangen der Neuwahl fiel für Brandt und Kohl positiv aus, nicht so für Schröder. Und vieles spricht aufgrund der deprimierend niedrigen Wahlumfragen ebenso für den Misserfolg von Scholz. Fortune dürfte ihm diesmal nicht beschieden sein. Wohl eine weitere Gemeinsamkeit: Die SPD kann mit der Regierungsarbeit fortfahren, allerdings nur als Juniorpartner und ohne den bisherigen Kanzler.
Unzufriedenheit mit Parteien
Keine Partei ist in einer sonderlich guten Verfassung. Die Union, die sich beim Umgang mit den Grünen kabbelt und dadurch interne Zwistigkeiten befeuert, so zwischen der CDU und der CSU, hat mit Friedrich Merz einen Politiker an der Spitze, der über keinerlei exekutive Erfahrungen verfügt und nicht deutlich genug die kardinalen Herausforderungen zur Sprache bringt. Die SPD greift zu alten Rezepten – „der Staat“ soll es mit der Schuldenaufnahme „richten“. „Sozialgeschenke“ gefährden jedoch die Konsolidierung des Haushalts. Unabhängig davon: Die SPD hat längst die Stimmen des größten Teils der Arbeiterschaft an die AfD verloren. Angesichts zentraler Herausforderungen bläst dem Elitenprojekt der Grünen mit ihrer Fixierung auf Identitätspolitik scharfer Wind entgegen. Klimapolitik nimmt auf der politischen Agenda längst keinen Spitzenplatz mehr ein. Wenn kein kleines Wunder geschieht, scheitert die FDP, die langjährige Regierungspartei, an der Fünfprozenthürde. Statt mutig die unbeliebte Ampel-Koalition offensiv zu beenden, lavierte sie suspekt hinter den Kulissen. Die Linke, inhaltlich ausgezehrt und geschwächt durch das Ausscheiden des Wagenknecht-Flügels, versucht mit ihrer „Mission Silberlocke“ drei Direktmandate zu gewinnen und so die Fünfprozentklausel zu unterlaufen. Das aus dieser Partei hervorgegangene Bündnis Sahra Wagenknecht, sozioökonomisch links, soziokulturell rechts orientiert, schreitet nach fulminantem Start nicht recht voran. Es fehlt an Geld und an einer breiten Anhängerschaft. Das Friedensthema zieht nicht wie erhofft.
Und die momentan sehr guten Umfragewerte für die AfD, die mittlerweile mehr die CDU attackiert als die Grünen, verdecken ihre innere Gespaltenheit: zwischen Wirtschaftsliberalen und Staatsinterventionisten, zwischen Anhängern der Nato und deren Gegnern, zwischen Demokraten und Extremisten. Den anderen Parteien nützt ein purer Anti-AfD-Wahlkampf nicht, erst recht keine leidige Verbotsdiskussion. So verfestigt sich deren Opferrolle.
Deutschland hat zwei Kardinalprobleme, die die Politik nur halbherzig beackert: eine Wirtschaftskrise und eine Migrationskrise. Das Bruttoinlandsprodukt ist preisbereinigt in den letzten beiden Jahren gesunken, die Arbeitslosigkeit leicht gestiegen. Und die Migration pendelt nach wie vor auf hohem Niveau, wenngleich die Zahl der Asylbewerber im Jahr 2024 mit 250.000 deutlich unter jener des Jahres 2023 liegt. Offenkundig besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der schwächelnden Wirtschaft und der hohen – zum Teil irregulären – Immigration.
Deutschland als Koalitionsdemokratie
Deutschland ist nicht nur eine Parteiendemokratie, sondern auch eine Koalitionsdemokratie. Die Krux: Was nützt eine arithmetische Mehrheit, wenn es politisch nicht passt, wie bei der jüngst zu Bruch gegangenen Ampel-Koalition? Und was nützt beträchtlicher Konsens (wie bei der Union und der FDP), wenn eine arithmetische Mehrheit fehlt? Da die AfD, das BSW und die Linke auf Bundesebene für eine Koalition ausfallen, wird bei der starken Fragmentierung die Bildung stabiler Bündnisse immer schwieriger. Selbst bei einem Scheitern der Partei Die Linke wie des BSW an der Fünfprozentklausel und ihrem Überwinden durch die FDP dürfte nach menschlichem Ermessen eine christlich-liberale Mehrheit kaum zu erringen sein. Zudem garantiert sie nicht den gewünschten Erfolg. So funktionierte das letzte lagerinterne Bündnis von 2009 bis 2013 (Union plus FDP) mehr schlecht als recht.
Nach der Bundestagswahl 2025 gelangen mit der Union und der SPD wohl zwei Parteien mit höchst unterschiedlichen Positionen zu grundlegenden Fragen der Wirtschaft und der Migration in die Regierung. Das lässt unguten Streit erwarten, jedenfalls keine Aufbruchstimmung. Immerhin koope rierten die beiden Parteien auf Bundesebene schon öfter, unter der Ägide Angela Merkels von 2005 bis 2009 und von 2013 bis 2021. Und eine Koalition aus nur zwei Fraktionen ist von Vorteil. Letztlich setzt sich jedoch das lagerexterne Bündnis der jüngsten Zeit fort, wiewohl in einer anderen Zusammensetzung. In einem Parteiensystem mit einer starken AfD, die für die Koalitionsbildung ausfällt, kommt auf Bundesebene faktisch nur die große Koalition infrage, wenn überhaupt, oder ein heterogenes Dreier-Bündnis. Folgen aufgrund von Unzufriedenheit Sanktionswahleffekte, wird die Fortsetzung eines solchen lagerübergreifenden Bündnisses noch wahrscheinlicher. Parteien einigen sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Das ist ein gravierender Missstand.
Das Motto der neuen Regierung darf nicht sein: „Weiter so“! Die Probleme müssen angepackt und gelöst werden – nicht nur im Interesse der Parteien, sondern vor allem auch in dem des Landes. Bundespräsident Roman Herzog redete 1997 in seiner „Berliner Rede“ Klartext: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von lieb gewordenen Besitzständen.“ Wie wahr!
Prof. Dr. Eckhard Jesse lehrte von 1993 bis 2014 Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Der frühere Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (2007–2009) ist seit 1989 Mitherausgeber des „Jahrbuchs Extremismus & Demokratie“. Er schreibt regelmäßig für die „Neue Zürcher Zeitung“.
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