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Überbordende Kritik

Forum - Überbordende Kritik
1. Mai 1974: Hannelore Kohl, Hilda Heinemann, Gustav Heinemann und Helmut Kohl (damals Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz) als Gäste eines Konzertes auf dem Trierer Hauptmarkt. Das Transparent im Hintergrund fordert das Ende des Extremistenbeschlusses © Heiko Kieflling, ap/dpa/picture alliance/süddeutsche zeitung photo

Der Extremistenbeschluss von vor 50 Jahren ist nahezu der Vergessenheit anheimgefallen. Dabei lässt sich manches daraus lernen.

Eckhard Jesse01.02.2022

Vor 50 Jahren, am 28. Januar 1972, unterzeichneten die Ministerpräsidenten der Länder eine Vereinbarung, die unter dem missverständlichen, ja falschen Namen „Radikalenerlass“ für Furore gesorgt hatte. Erstens zielte der Beschluss nicht gegen „Radikale“ an sich (sondern gegen Verfassungsfeinde), zweitens schuf er kein neues Recht (sondern erinnerte an altes). Aber dieser Befund wurde in weiten Teilen der Öffentlichkeit verdrängt.

Aufgrund der Last der Geschichte versteht sich die Bundesrepublik als eine streitbare Demokratie. Kein Komplex der streitbaren Demokratie löste eine solche Auseinandersetzung aus, wie der zum Teil in irrationalen Formen geführte Streit um die Fernhaltung von Extremisten aus dem öffentlichen Dienst. Insbesondere bei vielen Gegnern des Extremistenbeschlusses herrschten recht simple argumentative Strickmuster vor. Schlagworte wie „Duckmäusertum“ und „Gesinnungsschnüffelei“ spielten in der Diskussion eine große Rolle. In weiten Teilen der politischen Parteien und der öffentlichen Meinung setzte sich die Sichtweise durch, der Extremistenbeschluss sei ein Fehler gewesen.

Ablehnungsquote unter 0,1 Prozent

Die Ministerpräsidentenvereinbarung erinnerte aber bloß an die Rechtsvorschriften, wonach sich jeder, der in den öffentlichen Dienst strebt, zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu bekennen hat. Neu war lediglich die Verfahrensweise: Vor der Einstellung von Bewerbern in den öffentlichen Dienst erfolgten nun automatisch bei den Verfassungsschutzbehörden Anfragen nach dem Vorliegen gerichtsverwertbarer Erkenntnisse. Diese Regelanfrage bildete für viele Kritiker den Stein des Anstoßes.

Wegen mangelnder Verfassungstreue blieb etwas mehr als 1000 Personen der Zugang zum öffentlichen Dienst versperrt, in der Mehrzahl der Fälle DKP-Mitgliedern. Diese erweckten oft den Eindruck, als sei für das negative Votum die Unterzeichnung eines kritischen Flugblattes oder die Teilnahme an einer Demonstration maßgebend. Die so wahrgenommene Praxis stieß in weiten Teilen der öffentlichen Meinung auf Empörung. Die Geschichte des Radikalenerlasses ist die Geschichte seiner beständigen Rücknahme. Erst rückten die SPD-regierten Länder Ende der 1970er Jahre von ihm ab, später die unionsregierten. Als letztes Bundesland verzichtete der Freistaat Bayern mit dem 1. Januar 1992 auf die Regelanfrage.

Mit dem Extremistenbeschluss wollten die politisch Verantwortlichen dem von Teilen der radikalen Studentenbewegung propagierten „Marsch durch die Institutionen“ einen Riegel vorschieben. Der Konsens zwischen den großen Parteien schwand jedoch bald. Die zum Teil hysterischen öffentlichen Reaktionen gegen den Extremistenbeschluss standen in einem unangemessenen Verhältnis zur Praxis. Tatsächlich konnte keine Rede davon sein, der Verfassungsschutz habe aufgrund der Regelanfragen von sich aus Aktivitäten entfaltet. In weit über 99 Prozent der Fälle lagen keine Erkenntnisse über verfassungsfeindliche Bestrebungen vor. Selbst gerichtsverwertbare Erkenntnisse führten längst nicht in jedem Fall zu einem negativen Bescheid. Sofern sie schwerwiegend erschienen, fanden Anhörungsverfahren statt, bei denen der Bewerber die Möglichkeit besaß, die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zu entkräften. Fiel das Votum der Einstellungsbehörden zu seinen Ungunsten aus, stand dem Bewerber der Rechtsweg offen. Die Ablehnungsquote bewegte sich deutlich unter 0,1 Prozent. Zwar hat es in wenigen Einzelfällen, zumal in den Anfangsjahren, einige umstrittene, von den Gerichten korrigierte Entscheidungen gegeben, aber in der Regel erwiesen sich die Ablehnungsbescheide als stichhaltig.

Angst und Larmoyanz gesteigert

Die Aufkündigung des Extremistenbeschlusses durch die SPD und die FDP dürfte weniger eine Folge von Missständen gewesen sein als vielmehr eine der lautstarken in- und ausländischen Kritik, die insbesondere die SPD auf diese Weise zu unterlaufen und zu besänftigen suchte. Auch die Union agierte wegen des für sie ungünstigen Meinungsklimas im intellektuellen Milieu defensiv. In der Öffentlichkeit entstand über den Extremistenbeschluss und seine Auswirkungen häufig ein falscher Eindruck. Viele Ängste gingen nicht auf die Praxis zurück, sondern beruhten auf deren Fehlwahrnehmung.

Aus den Worten Max Frischs anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 1976 sprach der Konformismus eines Nonkonformisten: „Schüler und Lehrlinge, sogar Studenten, befragt nach ihren Gedanken über die Aufgaben einer Demokratie, zucken heute die Achsel. Sie wissen, was es sie kosten kann, wenn sie Gebrauch machen von dem verfassungsmäßigen Recht auf Meinungsfreiheit. Dass es gelungen ist, sogar die Jugend in die Resignation zu zwingen, ist kein Triumph der Demokratie.“ Kritiker intonierten die Legende, aufgrund von McCarthyismus sei Duckmäusertum verbreitet. Manch einer von ihnen zeichnete dabei mit kräftigen Strichen und grellen Farben ein Bild von der Bundesrepublik, das sie als illiberalen Staat erscheinen ließ, Pastelltöne hingegen vermied. Aussagen wie die von Max Frisch hatten die Angst geschürt und die Larmoyanz vieler Kritiker gesteigert. Das zum Teil timide Verhalten war weniger eine Ursache der Überprüfungspraxis als vielmehr eine Folge der schrillen Kritik. Diese hat erst weitgehend den Missstand produziert, gegen den sie dann vehement zu Felde zog.

Verfassungsstaat in der Defensive

Die Einzelfallregelung, die liberal sein wollte, aber notwendigerweise weniger liberal ausfallen musste als die Hinwendung zum Kriterium der Organisationszugehörigkeit, wie es in der Vergangenheit eher der Fall gewesen war, bot einen rationalen Anknüpfungspunkt für Kritik. Jedoch traten – paradoxerweise – gerade viele Gegner des Extremistenbeschlusses als Verfechter einer Einzelfallprüfung auf. Wer wegen der Mitgliedschaft in einer extremistischen Organisation nicht in den öffentlichen Dienst gelangte, tat vielfach so, als beruhe das negative Votum auf ganz anderen Faktoren.

Und in der Tat wurde in Ablehnungsbescheiden nicht nur die Mitgliedschaft in der verfassungsfeindlichen Organisation erwähnt, sondern auch die eine oder andere Aktivität, die für sich genommen kein Ablehnungsgrund gewesen wäre.

Um Gesinnungsschnüffelei – dieser Begriff erfuhr eine ähnliche Karriere wie der des Duckmäusertums und war in gewisser Weise ein Pendant dazu – handelte es sich schon deshalb nicht, weil es keineswegs um die Ausforschung der Gesinnung ging, vielmehr um konkretes Verhalten, nämlich – in aller Regel – um die Mitgliedschaft und Betätigung in verfassungsfeindlichen Organisationen.

Der Extremistenbeschluss vom 28. Januar 1972 ist ein Beispiel dafür, wie sich der demokratische Staat in die Defensive drängen ließ, ohne dass die Einwände im Kern begründeter Natur waren.

Eckhard Jesse

Prof. Dr. Eckhard Jesse lehrte von 1993 bis 2014 Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, gibt er seit 1989 das Jahrbuch Extremismus & Demokratie heraus. Er schreibt seit mehr als 20 Jahren regelmäßig für die Neue Zürcher Zeitung.