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Vereint – und doch getrennt?

Forum - Vereint – und doch getrennt?
6. April 1972: Michael Kohl (DDR, linke Reihe, Dritter von vorn) und Egon Bahr (rechts, Zweiter von vorn) bei Verhandlungen zum Grundlagenvertrag im Bundeskanzleramt. Der Vertrag wurde am 21. Dezember 1972 geschlossen und trat am 21. Juni 1973 in Kraft. © Eastblockworld.com

Ist es wahr, dass Ost- und Westdeutsche nur so lange die Einheit wollten, bis sie kam? Über den Grundlagenvertrag der beiden deutschen Staaten von 1972.

Eckhard Jesse01.12.2022

Vor 50 Jahren, am 21. Dezember 1972, wurde der Grundlagenvertrag unterzeichnet, der „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“. Ihm gingen die Ostverträge und das Viermächte-Abkommen über Berlin voraus. Der zehn Artikel umfassende Vertrag betraf unter anderem die Unverletzlichkeit der Grenzen, den Verzicht auf Gewalt bei Streitigkeiten, den Austausch ständiger Vertreter. Die beiden deutschen Staaten erklärten ihre Bereitschaft, im Zuge der Normalisierung praktische und humanitäre Fragen zu regeln. Egon Bahr übergab vor der Unterzeichnung des Vertrages den „Brief zur deutschen Einheit“, in dem es hieß, der Vertrag stehe „nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland“, die „auf einen Zustand des Friedens in Europa“ hinwirkt, „in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“. Gleichwohl lehnte die Union den Vertrag ab, weil das Wiedervereinigungsgebot dort nicht zum Ausdruck komme, und die Bayerische Staatsregierung rief das Bundesverfassungsgericht an. Dieses erklärte den Vertrag für rechtens und hob zugleich die Verpflichtung der Politiker hervor, am Wiedervereinigungsauftrag des Grundgesetzes festzuhalten.

Verblüffende Paradoxie

Fehlten zwei Jahrzehnte lang praktisch jegliche innerdeutschen Beziehungen auf offizieller Ebene, änderte sich dies mit der sozialliberalen Regierung, welche die DDR als Staat anerkannte, allerdings nicht völkerrechtlich und ohne den Gedanken von einer deutschen Nation ad acta zu legen. Für das Zustandekommen solcher Kontakte bildete eine Politik der Entspannung zwischen den Großmächten die Voraussetzung. Die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten wiederum förderten weitere Entspannungstendenzen. Die DDR und die Bundesrepublik Deutschland waren eng und vielfältig miteinander verbunden: etwa durch die gemeinsame Geschichte und Kultur wie durch verwandtschaftliche Kontakte.

Die Paradoxie ist verblüffend: Obwohl die DDR-Spitze die innerdeutschen Kontakte zu drosseln suchte, zeigten die Menschen in der DDR mehr Interesse am Westen als die Menschen im Westen am Osten, wenngleich die jeweilige Regierung der Bundesrepublik dies wünschte und förderte. Der Grund liegt auf der Hand: Das westliche System galt im Osten für viele als Vorbild, das östliche im Westen für viele als Schreckbild. Die komplexe Verschlungenheit der Wechselbeziehungen zwischen dem östlichen und dem westlichen Deutschland fiel in seiner Gänze zuweilen erst nach der Einheit auf. So hatte das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR das „Verdienst“ an der Verlängerung und der Verkürzung der Kanzlerschaft Willy Brandts zugleich. Wie wir nunmehr wissen, veranlasste die Staatssicherheit mit finanziellen Mitteln zwei Abgeordnete der Union dazu, beim konstruktiven Misstrauensvotum 1972 dem CDU-Kanzlerkandidaten Rainer Barzel ihre Stimme nicht zu geben. Zwei Jahre später trat Brandt zurück, weil die DDR einen Spion in seinem unmittelbaren Umfeld eingesetzt hatte. Dies war der Anlass – die tieferen Gründe für seinen Rücktritt lagen in einer Schwächephase des Kanzlers.

Unzufriedenheit mit Demokratie

Lange gab es keinerlei Anhaltspunkte für die deutsche Einheit. Doch mit dem sow je ti schen Staatschef Michail Gorbatschow, der den Kommunismus zwar nicht abschaffen, ihn aber aufgrund gravierender ökonomischer Probleme reformieren wollte, änderte sich die Großwetterlage im gesamten Ostblock. Durch das unkoordinierte Zusammenspiel von Flucht- und Demonstrationsbewegung brach die kommunistische DDR im Herbst 1989 zusammen, ohne dass ein Schuss fiel. Kein Jahr nach der Freiheitsrevolution war Deutschland wieder vereint. Dem „Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“ (Staatsvertrag) folgte der „Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands“ (Einigungsvertrag). Am 3. Oktober trat die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei.

Das ist die eine Seite. Die andere: Der jüngste Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung Carsten Schneider vom September 2022 zitiert eine Umfrage, wonach 59 Prozent der Westdeutschen ihre Zufriedenheit mit der hiesigen Demokratie bekunden (2020: 65 Prozent), hingegen nur 39 Prozent der Ostdeutschen (2020: 48 Prozent). Ungeachtet vielfältiger Annäherungen an den Westen: Nach wie vor liegt „der Osten“ ökonomisch gegenüber dem Westen zurück, und mentale Unterschiede leben fort. Gleichheit hat für Ostdeutsche einen höheren Stellenwert als Freiheit. Im Westen ist es umgekehrt. Sekundärtugenden wie Ordnung und Fleiß werden mehr geschätzt als dort. Viele klagen im Osten über Kriminalität im Besonderen und Unsicherheit im Allgemeinen. Die Vorbehalte gegenüber Fremden sind größer. Nicht wenige vermissen die (vermeintlichen) „sozialen Errungenschaften“ der DDR und rufen nach „dem Staat“. Die politische Partizipationsbereitschaft ist geringer, der Pessimismus ausgeprägter. Das Wahlverhalten schließlich fällt bekanntlich etwas unterschiedlich aus. So schneiden Flügelparteien wie AfD und Linke im Osten deutlich besser ab. Bei der Bundestagswahl 2021 erreichte die AfD 20,5 Prozent in den neuen Bundesländern – 8,2 Prozent in den alten –, die Linke kam auf 10,4 Prozent im Osten und auf 3,7 Prozent im Westen. Dieser Befund geht einerseits auf die Zeit vor der Einheit zurück und andererseits auf die Zeit danach.

Ist die folgende Paradoxie richtig? Bis zur Einheit lebten die Deutschen getrennt und waren doch vereint – mit Blick auf das Zusammengehörigkeitsgefühl. Nun sind sie wieder vereint – und gleichwohl getrennt. Ist eine DDR-Identität erst nach dem Ende der DDR entstanden? Skepsis gegenüber einer derartigen Diagnose ist angebracht. Zum einen liegt dieser Position ein Idealisieren der Vergangenheit zugrunde (für viele Westdeutsche war die DDR eine Art unbekannter Nachbar); zum anderen verbietet es sich, Momentaufnahmen zu verabsolutieren. Wie soll eigentlich eine Einheit funktionieren, wenn Kritiker ständig mentale Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen „vermessen“ und dabei ein Klagelied anstimmen? Warum erwähnt niemand, dass selbst der schärfste Kritiker der Folgen der deutschen Einheit nicht die Rückkehr zu zwei Staaten in Deutschland fordert? In anderen Staaten, wie etwa Großbritannien oder Spanien, gibt es Sezessionsziele zuhauf. Wenn es heißt, der Osten „ticke“ anders als der Westen, so ist dies einerseits übertrieben und andererseits verräterisch. Muss immer der Westen der Maßstab sein? Kann es nicht auch heißen, der Westen ticke anders als der Osten?

Was der Vertrag leistete

Als vor einem halben Jahrhundert Egon Bahr für die Bundesrepublik Deutschland und Michael Kohl für die DDR den Grundlagenvertrag unterzeichneten, konnte niemand mit dem tektonischen Wandel von 1989 rechnen. Dieser Vertrag hat weder die Einheit verhindert noch sonderlich begünstigt. Er trug in der Zeit der deutschen Spaltung maßgeblich zu menschlichen Erleichterungen zwischen dem Osten und dem Westen des Landes bei. Und das war nicht wenig! Die immateriellen Kosten der Teilung fielen schlimm aus. Dagegen verblassen die materiellen Kosten der Einheit.

Eckhard Jesse

Prof. Dr. Eckhard Jesse lehrte von 1993 bis 2014 Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, gibt er seit 1989 das Jahrbuch Extremismus & Demokratie heraus. Er schreibt seit mehr als 20 Jahren regelmäßig für die Neue Zürcher Zeitung.