https://rotary.de/wirtschaft/kernfusion-als-konkurrenz-zu-den-erneuerbaren-energien-a-22816.html
Aktuell

Kernfusion als Konkurrenz zu den Erneuerbaren Energien?

Aktuell - Kernfusion als Konkurrenz zu den Erneuerbaren Energien?
© Adobe Stock Photo

Ein kritischer Blick auf Thesen aus Berlin und München, sie könne "alle unsere Energieprobleme lösen"

Ingo Hofmann14.11.2023

Am 28. September 2023 verkündete nun auch Ministerpräsident Markus Söder: "Bayern startet die Mission Kernfusion: Wir wollen Pionier bei der Energieversorgung der Zukunft sein. Das Ziel ist sauberer, sicherer und CO2-freier Strom." Mit einem Extrabudget von 100 Million Euro für 2024 bis 2028, kaum einen Monat nachdem die FDP-Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger, für diesen Zeitraum eine ebenso deutliche Aufstockung der Berliner Gesamtausgaben für die Kernfusionsforschung um 370 Millionen Euro auf nun über eine Milliarde ankündigte. Einigkeit herrscht auf beiden Seiten, dass nach ihrem Willen in 10 bis 20 Jahren Fusionsstrom fließen soll.

Ist das nun ein parteipolitisches Manöver gegen die Aufgeregtheit in der Energiedebatte, etwa gar auf Kosten der nicht von allen geliebten Erneuerbaren Energien? Wurde doch die Kernfusion über mehr als ein halbes Jahrhundert von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und von der Energiewirtschaft über Jahrzehnte als nicht relevante Zukunftsmusik weltweit praktisch ignoriert. Das galt sowohl für die bereits weit fortgeschrittene Kernfusion durch "magnetischen Einschluss", auch "Magnetfusion" genannt, und erst recht für die alternative "Trägheitsfusion", verkürzt auch "Laserfusion". Und dies bei bisherigen weltweiten Aufwendungen allein für die Magnetfusion insgesamt, die – grob geschätzt – nicht unter der Hälfte des größten Forschungsprojekts der Menschheit aller Zeiten liegen dürften, der Internationalen Raumstation ISS mit über 100 Milliarden Euro Gesamtkosten. Mit eingerechnet das noch lange nicht fertige internationale Spitzenprojekt ITER von alleine über 20 Milliarden Euro bisherigen Baukosten.

Die aktuelle Energiekrise und der Atomausstieg, verbunden mit der geschickten Öffentlichkeitsarbeit von Start-ups wie Marvel Fusion, haben 2023 plötzlich das Thema in die mediale Öffentlichkeit getragen und offenbar politisch interessant gemacht. Der politisch entscheidende Zündfunke sprang aber bereits am 13. Dezember 2022 vom US-Energieministerium auf deutsche Politiker über. Die Amerikaner verkündeten euphorisch einen "Jahrhunderterfolg" am 2009 fertig gestellten stärksten Laser der Welt, der National Ignition Facility (NIF), im staatlichen und als "Atomwaffenlabor" bekannten Livermore-Labor. Die Berliner Forschungsministerin kommentierte "Heute ist ein historischer Tag für die Energieversorgung der Zukunft." und später, dass "die Laserfusion weltweit rasante Fortschritte macht".

Worin liegen eigentlich diese "rasanten Fortschritte"? Der Grundstein für NIF wurde zwar schon 1997 gelegt, der Laser aber fünf Jahre verspätet 2009 fertig. Der jetzige "Durchbruch" bei der Laserfusion wurde bereits für das Jahr 2013 vorhergesagt, scheiterte aber kläglich. Noch 2011 wurde euphorisch für Mitte der 2020er Jahre (!) ein erster 400-Megawatt-Demonstrationsreaktor (entspricht 30-40 Windrädern) in Aussicht gestellt. Daraufhin erntete 2013 das Labor im ganzen Land ordentlich Kritik, auch wegen der Kostensteigerung von ursprünglich 1,2 auf 3,5 Mrd. US-Dollar. Natürlich alles aus der Staatskasse, aber NIF dient ja vor allem militärischen Zielen. Denn im Gegensatz zur Magnetfusion erfüllt die Laserfusion in den USA eine wichtige – in weiten Teilen geheime – Forschungsaufgabe im Labor zur Sicherung des Bestands von Atomwaffen ("Stockpile Stewardship") nach dem internationalen Kernwaffenstopptest-Vertrag von 1996. Die Energieerzeugung war bei NIF immer nur ein Zusatzpaket.

Der jetzige, jahrelang mühsam erkämpfte "Durchbruch" fand wissenschaftlich zwar Beachtung. Allerdings: der wohlklingende gut 50-prozentige Überschuss an Fusionsenergie gegenüber dem auftreffenden Laserpuls ist in Wirklichkeit nur ein magerer 1prozentiger Überschuss gegenüber der zur Erzeugung des Laserpulses der Steckdose entnommenen Energie. Selbst mit aktueller Lasertechnik, die auf zehnprozentige Effizienz gesteigert werden kann, müsste für eine ökonomische Energieproduktion die Ausbeute an Fusionsenergie des gezündeten Brennstoffkügelchens um etwa das Hundertfache (!) der jetzigen gesteigert werden – noch eine gewaltige wissenschaftliche Herausforderung mit unbekanntem Ausgang. Hinzu kommt der Sprung von derzeit ein bis zwei  "Schuss" am Tag zu mindestens zehn pro Sekunde im störungsfreien Dauerbetrieb für einen Reaktorbetrieb. Ganz zu schweigen der dann fällige, tägliche Bedarf an hunderttausend komplex aufgebauten Brennstoffkügelchen mit hochpräzisen Anforderungen zu wenigen zehn Cent Kosten pro Stück – neben der Physik ein noch technisch ungelöstes Problem.

All das hindert mehrere Start-ups der Laserfusion in Deutschland – mehr davon in USA – nicht daran, in 10 bis 20 Jahren Verfügbarkeit auf dem Energiemarkt zu beanspruchen. Selbst für die von einigen wie der Münchner Marvel-Fusion bevorzugte, aber wissenschaftlich längst nicht ausreichend erforschte Proton-Bor-Variante, die durch neutronenfreien Betrieb glänzen kann, dürfte dieses Fenster allein für den noch ausstehenden wissenschaftlichen Nachweis knapp sein. Entwicklung und Bau einer störungsfrei funktionierenden Testanlage wird mindestens zwei weitere Jahrzehnte erfordern, bevor der Bau eines ökonomisch arbeitenden Reaktorprototyps denkbar ist – ohne die für kerntechnische Anlagen aufwändige Betriebsgenehmigung einzurechnen.  

Die mehrfach beklagte jüngste Abwanderung von Marvel Fusion zur Colorado State University in den USA dürfte allerdings nicht nur Folge mangelnder Risikobereitschaft von Geldgebern hierzulande zu sein. Im dortigen Energieministerium liegen militärische und zivile Forschung in einer Hand. Dazu gehören zahlreiche "offene" Partnerschaften des (der nationalen Sicherheit gewidmeten) Livermore-Labors mit Universitäten und Privatunternehmen im ganzen Land. Ziel ist immer auch die Erweiterung der Atomwaffen-Forschungsbasis für nationale Sicherheit und Förderung des akademischen Nachwuchses auf diesem Gebiet. In Deutschland unbekannt, wohl aber in den Atomwaffenstaaten Frankreich und in geringerem Maß Großbritannien. Eine europäische Zusammenarbeit in der Laserfusion war deshalb in der Vergangenheit schon immer problemgeladen.

Die weiter fortgeschrittene Magnetfusion hat andersartige Herausforderungen. Sie leidet trotz ihrer soliden wissenschaftlichen Grundlage unter den jüngst bekannt gewordenen, gravierenden Fertigstellungsproblemen bei dem in Frankreich im Bau befindlichen Spitzenreiter, dem internationalen ITER-Projekt. Seine Kosten sind mit über 20 Mrd. Euro bereits jetzt das Dreifache der Startkosten im Jahr 2007. Der für 2035 vorgesehene, erste grundsätzlich Energie erzeugende Betrieb mit Tritium dürfte sich gleichfalls um einige weitere Jahre verzögern, wobei ITER immer noch mehr ein Experiment sein wird und kein Reaktor, nicht einmal ein Reaktorprotyp. Letzterer darf wohl frühestens für weit in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erwartet werden.

Im Übrigen litt der langsame Fortschritt in der Kernfusion noch nie am Geld, aber an den großen wissenschaftlichen und technischen Herausforderungen. Sie bleibt attraktiv, aber nicht als Versprechen für schnellen Erfolg in absehbarer oder vorhersehbarer Zeit – schon gar nicht als Beitrag zur Energiewende. Dafür sollte weiterhin voll und ganz auf die Erneuerbaren Energien gesetzt werden.

2023, prof. dr. ingo hofmann, energie, kernenergie
Prof. Dr. Ingo Hofmann

Dieser Artikel erschien zuerst in "The Pioneer" (Oktober 2023).

Ingo Hofmann

Prof. Dr. Ingo Hofmann (RC Potsdam) ist Professor für Physik (in Rente) an der Goethe-Universität Frankfurt. Er promovierte in den 1970er Jahren an dem in Kernfusion führenden Max-Planck-Institut für Plasmaphysik und war 2008 bis 2013 Vorsitzender der "Inertial Fusion Energy Working Group" von EURATOM, die die Laserfusion europaweit beobachtete.