RC Mühlheim an der Ruhr-Schloß Broich
„Bloß ein Molekül von der Magie entfernt“
Der Rotarier Benjamin List erhält den Chemie-Nobelpreis. Die Begeisterung für die Wissenschaft liegt in der Familie – Ein Porträt
Vielleicht war es die Sonne Kaliforniens oder auch der amerikanische Pioniergeist, der Benjamin List anstiftete zu tun, was niemand zuvor auf diesem Feld getan hatte. Vielleicht war es aber auch einfach die Genialität seines Forscherdrangs.
List hatte gezeigt, dass sich auch kleine organische Moleküle hervorragend als Katalysatoren eignen. Er entdeckte im Jahr 1999, dass ein kleiner Teil eines Enzyms, die Aminosäure Prolin, diese Eigenschaft aufwies. Als er die Entdeckung gemacht hatte, arbeitete er noch am Scripps Research Institut nahe San Diego in Kalifornien. Dort wollte er kleine organische Moleküle designen, die als Katalysatoren fungieren. Das war Neuland. List war aber nicht der Einzige, der auf diesen Gedanken gekommen war. Rund 1.000 Kilometer von ihm entfernt, forschte an der University of California in Berkeley ein gewisser David Macmillan. Der gebürtige Brite und List arbeiteten an unterschiedlichen Projekten, erkannten durch ihre Forschungen jedoch unabhängig voneinander dieselben Prinzipien. Folgerichtig teilen sie sich den Nobelpreis. „Ich bin etwas in die Knie gegangen“, erklärt er im Interview mit dem Rotary Magazin über den Augenblick, als er den Anruf aus Stockholm erhielt, dass er den wohl begehrtesten Preis der Welt erhalten hatte. „Das war ein Moment, den werde ich nie mehr vergessen“, sagt er.
„Ich war an dem Tag, und dies zeigt, dass ich wirklich nicht mit der Auszeichnung gerechnet hatte, mit meiner Frau auf einem Städtetrip in Amsterdam. Wir hatten dort ein Konzert besucht und uns am nächsten Morgen ein schönes Café für das Frühstück herausgesucht. Kurz bevor wir die Bestellung abgeben konnten, klingelte mein Handy. Meine Frau sagte sofort: Das ist der Anruf. Das war aber als Scherz gemeint“, berichtet List in dem Gespräch weiter.
Was folgte, war eine Welle der Anerkennung für ihn. So in seinem Max-Planck-Institut. „Alle haben geklatscht und die Presse war natürlich dabei und die Fernsehkameras auf mich gerichtet“, sagt er. „Das Gefühl, dass da jetzt das ganze Institut steht, sich freut und klatscht, das war unbeschreiblich.“
Chemische Reaktionen lassen sich durch Lists Entdeckung viel einfacher als bislang gedacht katalysieren. „Bloß ein Molekül von der Magie entfernt“, sagt er selbst dazu. Der Nutzen ist nicht allein erkenntnistheoretischer Natur. Denn durch diese Entdeckung werden unliebsame „Spiegeleffekte“ ausgeschlossen, die bei Molekülen auftreten und mitunter fatale Konsequenzen haben können.
Dazu muss man zunächst wissen, dass Prolin neben seiner Fähigkeit, Kohlenstoffatome zweier Moleküle miteinander zu verknüpfen, noch eine andere besonders wertvolle Eigenschaft aufweist: Die chemische Reaktion verläuft auf eine Art und Weise, die Chemiker als „asymmetrisch“ bezeichnen. In „symmetrischen“ chemischen Reaktionen verhalten sich die Moleküle wie Spiegelbilder, der Blick auf die eigenen Hände genügt als anschauliches Beispiel: Die Bestandteile sind identisch, doch die Anordnung ist es nicht. Und diese rechts- oder linkshändigen Verbindungen können unterschiedliche Wirkungen haben. So gibt es Moleküle, die Bestandteile von ätherischen Ölen sind und ganz unterschiedlich wahrgenommen werden: Je nachdem, um welches Spiegelbild es sich handelt, riechen die sogenannten Carvone für die menschliche Nase entweder nach Pfefferminz oder nach Kümmel – obwohl die „Zutaten“ dieser Moleküle die gleichen sind.
Lists Entdeckung wird bereits genutzt, um zum Beispiel einen äußerst wirksamen Wirkstoff gegen HIV zu produzieren. Diese sei eine echte Pioniertat gewesen, erklärt sein früherer Mentor und Doktorvater Johann Mulzer, dessen Vorlesungen List so gerne besucht hatte. Die Idee ist so genial, dass andere Wissenschaftler sich vor den Kopf schlugen und fragten: Warum sind wir darauf nicht schon früher gekommen? Brillant und simpel nannte sie das Nobelkomitee nach Bekanntgabe der Gewinner. Dabei gab es schon deutlich früher Vermutungen, dass so etwas vielleicht möglich sei, mit einem kleinen Bestandteil eines Enzyms ebenso große Wirkungen zu erzielen. Doch getan hat es List.
Dabei hatte er so große Zweifel gehabt. Als er sein Experiment in Kalifornien abgeschlossen hatte und spät abends zu Bett ging, hörte er in seinem Inneren kein Ich, das „Heureka“ rief. Eher dachte er, was habe ich da nur gemacht? Vielleicht, glaubte er, war das doch eher eine dumme Idee, dieses Experiment. Die Sorge überwog. Doch sie war ein Trugbild. Am Ende kam das „Heureka“ dann doch: Ich hab’s entdeckt. Und was für eines. Denn eine Nacht und viel Schlaflosigkeit später war zu 72 Prozent das entstanden, was entstehen sollte, die Ausgangsstoffe waren vollständig umgesetzt. Experiment geglückt! Es war sein erstes eigenständig durchgeführtes Experiment. Die Publikation hierzu erschien im Jahr 2000 im renommierten Journal of the American Chemical Society.
Aber warum war gerade er, Benjamin List, Jahrgang 1968, geboren und aufgewachsen in Frankfurt am Main, auf diese Idee gekommen? Immerhin hatte er 2016 schon den renommierten und hochdotierten Leibniz-Preis gewonnen. Doktorvater Mulzer, der damals an der FU Berlin lehrte, sagt, List sei ein hervorragender Student gewesen. „Eigenständig“ und ja, auch sehr selbstbewusst. Unter der Hand, heißt es, hätten schon viele „mit Ben“ gerechnet, was den Nobelpreis angehe. Seit 2005 leitet List die Abteilung Homogene Katalyse am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung. Dort findet er ideale Arbeitsbedingungen. Die Max-Planck-Institute besitzen einen Weltruf. Sogar amerikanische Institutionen können da oftmals nicht mithalten.
List liebt den Perspektivenwechsel. Es gibt ein wunderbares Foto von List in seinem Labor, das diesen Wechsel der Betrachtung nicht besser illustrieren könnte. List macht einen Handstand, die Beine dabei wie ein Yogi verschränkt, die Krawatte folgt zur einen Hälfte der Richtungsänderung der Gravitationskraft, das andere Ende seiner Krawatte wird durch eine Klammer festgehalten. Die Wende der Denkungsart, so bezeichnete der Philosoph Immanuel Kant seine neue Philosophie. „Beim Kopfstand sieht man ja vieles aus einer anderen Perspektive“, sagt er.
Seine Lust, der Natur auf die Sprünge zu helfen, hat auch eine familiäre Wurzel. Seine Tante ist die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard. Schon der Urgroßvater hatte als Nephrologe seine Spuren hinterlassen Und Jacob Volhard, der von 1834 bis 1910 gelebt hatte, war ebenfalls ein bekannter Chemiker, der ein Schüler Justus von Liebigs gewesen war. Bei so viel wissenschaftlicher Substanz in den Genen konnte im Grunde nichts mehr schiefgehen, könnte man meinen. List selbst sagt: „Meine Spur war nicht vorgezeichnet."
Der 53 Jahre alte Forscher, der Rotarier im Club Mülheim a.d. Ruhr-Schloss Broich ist („Wir werden den Preis sicher noch gebührend gemeinsam feiern“), ist in Frankfurt am Main aufgewachsen in der Obhut einer großbürgerlichen Familie. Als er drei Jahre alt war, ließen die Eltern sich scheiden. Der Erziehungsstil der Zeit war antiautoritär. Seine Mutter arbeitet nun ganztags als Architektin, viel Zeit für die Kinder blieb da nicht. Benjamin List und seine beiden Brüder gingen wie viele andere Gleichaltrige in den Kinderladen.
Zu Weihnachten wurde musiziert: Bachs Brandenburgischen Konzerten hätten sich vorbereitend auf dem Notenständer befunden. Zwang habe nicht dahintergesteckt. Die Mutter habe stets großes Vertrauen zu den Kindern gehabt und ihnen Mut gemacht. „Du kannst alles werden“, habe sie gesagt, berichtet er. Aber er wurde dann doch nicht Musiker, sondern liebte mehr die Harmonie der Welt der Moleküle.
Nach dem Abitur stand erst einmal mit Freunden eine Reise durch Indien an. List hatte sich zu diesem Zeitpunkt zwar schon dafür entschieden, Chemiker zu werden. Er hatte sich aber noch nicht damit beschäftigt, wann er mit seinem Studium beginnen wollte. Dadurch zog er bei seiner Rückkehr von dem Trip den Ärger seiner Mutter auf sich, erzählt List dem Rotary Magazin: „Also Ben, irgendwann müsstest du jetzt mal etwas machen!“ Er studierte Chemie, warum aber ausgerechnet an der FU Berlin?
Weil sein Cousin in Berlin lebte, wollte er auch in die heutige Bundeshauptstadt. So rief List die Auskunft an, um sich die Nummer der Berliner Universität geben zu lassen. Die Frau am Telefon fragte: „Welche denn?“ List antwortete, sie solle einfach eine auswählen. „Ja, so kam ich an die FU-Berlin.“
An der FU begann er mit dem Chemiestudium. Dort erhoffte er sich Antworten auf seine Fragen als Schüler, die einen philosophischen Rahmen hatten: Was ist der Stoff der Welt? Woraus besteht der Mensch? List suchte die Antworten in der Chemie. Er weiß, dass der Sturm und Drang, mit der Chemie die Welt im Kern zu erfassen, letztlich zu kurz gedacht war. „Aber als ich merkte, dass sie nicht die Antwort auf alles haben, war ich vom Fach längst angefixt.“
List gilt als positiver Mensch. Ein Buddha steht in seinem Büro, hinter ihm ziert ein Leibniz-Keks seine Wand, ein Geschenk seines Onkels für den Leibniz-Preis. Doch seinen Optimismus hätte er vor vielen Jahren beinahe verloren.
Bevor er 2004 aus den USA nach Deutschland zurückkehrte, um den Posten als Direktor am Max-Planck-Institut anzunehmen, machte List mit seiner Frau und seinen zwei Kindern Urlaub in Thailand. Die Zeit war erholsam, bis der letzte Urlaubstag anbrach. Die Familie war zusammen am Strand von Khao Lak. Doch plötzlich habe man eine Erschütterung gespürt. Erst nachdem Menschen riefen: Lauft, lauft, lauft!, sei ihnen bewusst gewesen, dass es sich hier nicht einfach um ein kleines Erdbeben gehandelt habe. Die beiden Jungs, Theo und Paul plantschten noch im Wasser, Ben List und seine Frau griffen jeweils ein Kind und schon kam die Welle schwarzen Wassers auf sie zugeschossen. „Ich sah meine Frau an, jeder schnappte sich ein Kind, und wir rannten los.“
Es war der 26. Dezember 2004, jener Tag, an dem ein Tsunami die Regionen zwischen Indonesien, Thailand und Indien verwüstete und über 200.000 Menschenleben kostete.
Die Kraft des Wassers war so heftig, dass List unter Wasser gedrückt wurde. Einmal kam er noch rauf und wurde dann wieder stark und sehr lange nach unten gezogen. Das Gefühl zu sterben trat ein, und er selbst sei in diesem Moment ganz ruhig gewesen. Nachdem er sich retten konnte, sind alle übrigen Familienmitglieder verschwunden. Immerhin findet er später seine Frau und den verletzten Sohn, Paul, wieder.
Doch Theo blieb verschollen. Die Familie wird in ein 150 Kilometer entferntes Krankenhaus gebracht. List hat diverse Schnittwunden und eine größere Wunde am Fuß. In dem Krankenhaus sucht er seinen zweiten Sohn Theo, geht Raum für Raum durch und sieht ihn dann plötzlich auf einem Bett sitzend. Ein Engländer hatte ihn gefunden und hierher mitgenommen. Wie durch ein Wunder hatte er lediglich einige kleinere Schrammen.
Die Dinge des Lebens beurteilt er seitdem anders. „Was bis heute bleibt, ist die Dankbarkeit in mir, für alles, was ich habe.“
Michael Hesse
Ein Interview mit Benjamin List lesen Sie hier: Rotarier Benjamin List erhält Chemie-Nobelpreis