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Christopher Clark: «Die Schlafwandler»

Der Erste Weltkrieg als Lehrstück

Stefan Nölke über Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“ und die Aktualität der Ereignisse von 1914.

Stefan Nölke14.10.2013

Wie kam es zum Ersten Weltkrieg? Als der in Großbritannien lehrende australische Historiker Christopher Clark begann, ein Buch über dieses Thema zu schreiben, waren die Kollegen verwundert. Das sei doch ein ganz alter Hut und außerdem würde die Antwort ohnehin schon feststehen: Natürlich seien die Deutschen schuld gewesen. So berichtete es Clark bei der Vorstellung seines Buches in Berlin. „The Blame Game“ nennen die Angelsachsen das gegenseitige Schuldzuweisen, auf das er sich erst gar nicht eingelassen habe. Die Ausgangsfrage sei nicht „Wer habe Schuld?“ gewesen, sondern „Wie kam es zu dieser Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts?“.

Eine der Grundkomponenten der explosiven Mischung, die sich seit den 1890er Jahren in Europa entwickelte, war bekanntlich die deutsch-französische Feindschaft. Daneben gab es die mehr oder weniger hitzigen Interessenkonflikte zwischen den Großmächten wie die zwischen Österreich-Ungarn und Russland oder die zwischen Großbritannien und Russland. Clark nimmt aber nicht nur die fünf wichtigsten europäischen Staaten in den Fokus, sondern auch die jungen Nationen auf dem Balkan, die das ihrige zum Krieg beitrugen. Vor allem die Darstellung der serbischen Verhältnisse ist dem Historiker wichtig. Führende Politiker in Belgrad versprachen sich von einem großen Konflikt, bei dem am Ende das Habsburger Reich mit Hilfe Russlands zerschlagen werden würde, die Erfüllung ihrer großserbischen Ambitionen. Das damalige Serbien erscheint als ein Land, bei dem man sofort an das heutige Pakistan denken muss, wo terroristische Netzwerke bis in den Regierungsapparat hineinreichen. Tatsächlich war ja der serbische Geheimdienstchef Apis als Oberhaupt der irredentistischen Geheimorganisation „Schwarze Hand“ einer der Auftraggeber des Attentats auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand. Nach dessen Ermordung am 28. Juni 1914 stellte Österreich-Ungarn bekanntermaßen Serbien das Ultimatum, den Fall unter Aufsicht und mit Beteiligung Wiens aufzuklären. Belgrad lehnte ab, so dass die Wiener Regierung dem Nachbarn den Krieg erklärte. Russland als Schutzmacht Serbiens trat daraufhin auf den Plan und ließ gegen Österreich-Ungarn und auch gegen das verbündete Deutschland mobil machen. Eine Kettenreaktion war in Gang gesetzt.

Eine neue Sichtweise

Heutzutage wäre ein solcher Konflikt kaum mehr möglich. Damals jedoch, darauf verweist Christopher Clark, habe es keine internationalen Strukturen gegeben, keine EU, keine UNO, durch die eine Ausweitung des regionalen Brandherdes zum Weltkrieg hätte verhindert werden können. Die Entscheidungsträger der europäischen Mächte – etwa 50 Akteure – hätten sich wie „Schlafwandler“ geriert, die – einem fatalen Automatismus folgend – kein Bewusstsein über die Konsequenzen ihrer Handlungen gehabt hätten.

Dabei kommen die deutschen Protagonisten bei dem australischen Historiker nicht schlechter, vielleicht sogar ein bisschen besser weg als manche ihrer Pendants der anderen Mächte. Auch Christopher Clark sieht in Kaiser Wilhelm einen Akteur des imperialistischen Zeitalters, der mit seiner verbalen Aggressivität („Mit Serbien muss aufgeräumt werden, und zwar bald!“) aus dem Rahmen fällt, „allerdings“, so Clark, „nicht von seinen Handlungen her. Da war der Kaiser betont friedliebend, was die Militärs um ihn herum wahnsinnig frustriert hat“.

Als mehr oder weniger besonnenen Staatsmann porträtiert Clark den Reichskanzler Bethmann Hollweg. Viel weniger anmaßend und drohend als es in deutschen Schulbüchern steht, beurteilt Clark zum Beispiel den berühmten „Panthersprung nach Agadir“. Zur Erinnerung: Als sich die Franzosen im Jahre 1911 Marokko kolonial unter den Nagel reißen wollten, entsandte das Deutsche Reich das Kanonenboot „Panther“ vor die marokkanische Küste und provozierte damit eine internationale Krise. Clark legt wert auf die Feststellung, dass die „Panther“ ein mehr oder weniger schrottreifes Schiff war und es sich somit um eine eher symbolische Geste gehandelt habe, auf die Großbritannien allerdings unverhältnismäßig schroff reagierte.

Unklarheit über die Ziele

Überhaupt kam Großbritannien bei der Frage nach Krieg und Frieden eine Schlüsselposition zu. Das Land, das damals über das flächenmäßig größte Weltreich aller Zeiten regierte, schlug sich unter seinem Außenminister Edward Grey auf die Seite der französischen-russischen Allianz. Greys Kalkül sei dabei geopolitischer Natur gewesen. Würde sich Großbritannien aus einem kontinentalen Krieg heraushalten, käme am Ende in jedem Fall eine für das Empire unfreundliche Welt heraus. Würden die Deutschen gewinnen, hätte man einen kontinentalen Hegemonialstaat am Hals. Schlüge man sich dagegen gleich auf die Seite der Russen und Franzosen, wäre das Ergebnis nicht ganz so schlimm. Für diesen Fall erhoffte sich Edward Grey, das koloniale Expansionsstreben Russlands in Richtung Persien und Indien bremsen zu können. Russland sei also für Großbritannien der viel größere Rivale gewesen als das Deutsche Reich, und genau aus dieser Überlegung heraus habe London zunächst die Verständigung mit Sankt Petersburg gesucht und sei letztlich auch in den Krieg eingetreten.

Für den Kriegseintritt Englands auf Seiten der Franzosen und Russen hätte damit der deutsche Einmarsch in Belgien im August 1914 weit weniger Bedeutung als es die bisher gängige Meinung unter den Historikern war. Tatsächlich hatten die Deutschen während der Julikrise 1914 bei den Briten angefragt, ob sie mit deren Neutralität fest rechnen könnten, falls sie die belgischen Grenzen respektieren würden. Bezeichnenderweise sei Edward Grey von dieser Garantie-Anfrage überrascht gewesen und habe sie mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer Politik der freien Hand abgelehnt.

Anderseits lässt Clark keinen Zweifel daran, dass der Überfall auf Belgien das Deutsche Reich vor aller Welt moralisch diskreditiert habe. Ein schwerer Fehler, der sich aus der Logik des Schlieffen-Plans ergab, im Westen in die Offensive zu gehen und sich im Osten gegen die Russen defensiv aufzustellen. Reichskanzler Bethmann Hollweg hatte gehofft, dass der Konflikt auf dem Balkan zwischen Österreich-Ungarn und Serbien begrenzt bliebe. Schon einmal, im Jahr davor, hatte Russland still gehalten, als Österreich-Ungarn die Serben ultimativ aufgefordert hatte, sich aus Albanien zurückzuziehen. Einiges sprach dafür, dass die Russen wiederum nicht intervenieren würden. Würden sie sich aber zum Krieg entscheiden, dann hieße das, dass die Russen ohnehin einen Krieg mit dem Deutschen Reich planten. Und sollte ein Krieg ohnehin kommen, so das Kalkül von Bethmann Hollweg, dann wäre es besser, er würde zum jetzigen Zeitpunkt geführt werden als drei, vier oder fünf Jahre später, wenn Russland wirtschaftlich und infrastrukturell noch stärker sein würde.

Nicht allein der deutsche Reichskanzler, sondern nahezu alle Entscheidungsträger der Julikrise hatten das Gefühl, dass die Zeit gegen sie arbeitet. Clark spricht von „einer Art zeitlicher Klaustrophobie“, in der etwa auch die Russen mit der Vorstellung gefangen gewesen wären, dass die Gelegenheit, sich der türkischen Meerengen zu bemächtigen, ungenutzt verstreichen könnte. Die Franzosen wiederum, die unter ihrem Präsidenten Poincaré alles daran gesetzt hatten, um Russland gegen Deutschland auch militärisch in Stellung bringen, bangten um ihren Einfluss auf die Regierung in Sankt Petersburg. Denn genau wie die Deutschen gingen die Franzosen davon aus, dass sich Russland in den kommenden Jahren zu einer Art Supermacht entwickeln werde.

Die beiden europäischen Bündnissysteme mit den Mittelmächten auf der einen, der Triple Allianz auf der anderen Seite waren laut Clark vor Ausbruch des Krieges tatsächlich instabiler geworden und hätten womöglich die nächsten Jahre nicht überstanden. Vor allem die Briten galten bei ihren Bündnispartnern Frankreich und Russland als unsichere Kantonisten. Den Franzosen war nicht entgangen, dass es im Londoner Kabinett eigentlich eine Mehrheit für eine Annäherung an Deutschland gab. Zugleich waren auch die Deutschen völlig im Unklaren, wie sich die Briten im Falle eines Konfliktes verhalten würden. Vor allem der Kaiser selbst ging davon aus, dass seine Verwandtschaft auf der Insel niemals das Schwert gegen sein Reich erheben werde.

Die Aktualität der damaligen Ereignisse

So drängt sich bei der Lektüre von Clarks Buch der Eindruck auf, dass es am Ende auch ein gigantisches Kommunikationsproblem war, das zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte. Die etwa 50 Akteure des internationalen Konzerts waren gefangen in paranoiden Vorstellungen, in einer Welt, in der jeder jedem misstraute. Die große Gemeinsamkeit dieser politischen Klasse war ein bestimmtes Männlichkeitsbild: Härte, Entschlossenheit, Unnachgiebigkeit und Risikobereitschaft mussten nach außen hin demonstriert werden.

Ist die Welt vor dem Ersten Weltkrieg tatsächlich eine „Welt von Gestern“, wie Stefan Zweig titelte? Für Christopher Clark ist uns diese Zeit, obwohl der Abstand natürlich mit jedem Tag größer wird, heute näher als vielleicht noch vor 30 oder 40 Jahren. Seit dem großen Umbruch 1989/90 ist die internationale Situation – ähnlich wie die vor 1914 – unübersichtlicher und multipolarer geworden. Es gibt – wie damals auf dem Balkan – Selbstmordattentäter und geheime terroristische Netzwerke. Und es gibt eine Riege von jungen, aufstrebenden Nationen, während die alten Mächte glauben, gegen ihren Niedergang ankämpften zu müssen. Insofern ist die Geschichte, wie es zum Ersten Weltkrieg kommen konnte, ein Lehrstück, mit dem es sich mehr denn je wieder zu beschäftigen lohnt.