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Die philosophische Einordnung der Teilchenphysik und Nanotechnologien

Grundlegende Fragen und Antworten

Seit Jahren fahnden Physiker nach dem Higgs-Boson-Partikel. Die Suche nach dem auch »Gottesteilchen« genannten Element berührt die Frage, was die Welt im innersten zusammenhält. Ein Problem, mit dem sich seit jahrhunderten auch die Philosophen befassen.

Jürgen Kaube07.02.2012

Es scheint mitunter, als seien für die drängendsten unserer Zivilisationsprobleme ausschließlich die Natur- und Sozialwissenschaften einschlägig. Wir leben in einer technischen Zivilisation und reagieren auch auf deren Folgen mit Ursachenforschung und Technik. Aus guten und naheliegenden Gründen ziehen darum Neuromedizin und Europarecht, Klimaforschung und Demographie, Gentechnik und Finanzmarktanalyse das öffentliche Interesse auf sich. Auch wenn diese Fächer nicht alle Versprechen einlösen, die sie abgeben, liegt doch ihr praktischer Charakter auf der Hand.


Was haben demgegenüber die Geisteswissenschaften zu bieten? Sie befassen sich mit vergangenen Zeiten, mit Sprachen und mit überlieferten Werken aus Kunst, Religion, Dichtung, Philosophie. Geisteswissenschaftler sind zumeist Hermeneuten, also Leute, die das Einzelne, Individuelle verstehen wollen, nicht das Gesetzmäßige erklären oder technisch beherrschen. Sind sie also nur ein schöner Zusatz, ein „nice to have“, ein Freizeitvertreib der Erkenntnis?

Selbstzweck zur Bildung?

Richtig ist so viel: Das, was die Geisteswissenschaften erforschen, das können sie in den allermeisten Fällen nicht verändern. Unter den Naturwissenschaften gilt das in ähnlicher Ausschließlichkeit vielleicht nur für die Astronomie. Manchmal wird darum gesagt, das Verstehen, das die Geisteswissenschaften anstreben, sei ein „Selbstzweck“. Es diene der Bildung.


Doch so sehr diese Formulierung etwas trifft, so sehr ist sie missverständlich. Denn zum einen wird Bildung, die solch ein Selbstzweck ist, nicht allein durch die Geisteswissenschaften befördert. Auch das Verständnis von Mathematik, Ökonomie oder Chemie bildet. Zum anderen aber erschöpft sich der Sinn der Geisteswissenschaft nicht umgekehrt darin, die Leser ihrer Texte gebildeter und wenn man so will: kultivierter dastehen zu lassen. Der Anschein, die Geisteswissenschaften seien für die ernsten Lebensprobleme, die wir haben, bedeutungslos, trügt. Um zu begreifen, in welcher Welt wir leben, stellen sich uns nämlich nicht nur Fragen nach Ursachen und Techniken. Um es mit dem Philosophen Wilhelm Dilthey zu formulieren: Die Geisteswissenschaften behandeln jeden Text und jedes Objekt als „Ausdruck“ von etwas – als Ausdruck einer Absicht, einer historischen Situation, einer Kultur.

 

Wer beispielsweise herausfinden möchte, ob manche Computerspiele Kinder aggressiv machen oder ob andere Verhaltensveränderungen von ihnen ausgehen, wird sich nicht nur auf psychologische Experimente verlassen können. Denn diese Fragen sind nur zu klären, wenn man weiß, was ein Computerspiel überhaupt ist und welcher Art die Spiele sind, die da gespielt werden. Die erste Geschichte der Computerspiele etwa, die der Medienwissenschaftler Claus Pias geschrieben hat, der in Lüneburg lehrt, verfolgt ihren Ursprung bis zu psychologischen Reaktionstests in den Labors des 19. Und den Radar-Operatoren in den Kriegen des 20. Jahrhunderts zurück. Der Einfluss von Bildlichkeit auf Verhalten – hier ein hüpfender Punkt, der getroffen werden muss, dort ein Flugzeug und dort schließlich eine menschliche Figur im Rahmen einer Erzählung – stellt sich nach einem solchen Vergleich ganz neu.

 

Davon völlig unabhängig hat die Göttinger Germanistin Katja Mellmann beeindruckende Analysen der empfindsamen Literatur des 18. Jahrhunderts vorgelegt, die einen ähnlichen Vorgang betreffen: Leser, die durch Bücher erschüttert sind, sich durch Lektüre von anderen zurückziehen und angeblich durch Bücher – Goethes „Werther“! – zu abweichendem Verhalten gebracht wurden. Wie kommt es überhaupt zu „echten“ Gefühlen angesichts fiktionaler Welten? Bleiben die Gefühle an das Bücherlesen gebunden oder setzen sie sich im Leben fort? Sind es vielleicht erst Kunstwerke als „Emotionsattrappen“, die uns lehren, diffuse Gefühle voneinander zu unterscheiden, weil die Figuren in Romanen und im Kino viel differenzierter fühlen als wir es tun?

Irritation unseres Selbstverständnisses

Fragen wie diesen kann sich niemand leicht entziehen. Überall dort, wo die Geisteswissenschaften sie stellen und bearbeiten, berühren sie das Problem, wer wir sind, genau so wie Genetiker oder Ökonomen. Nehmen wir beispielsweise den Begriff der „Globalisierung“. Der Konstanzer Neuzeitgeschichtler Jürgen Osterhammel tritt in seiner umfassenden Historie des 19. Jahrhunderts den Nachweis an, dass schon seit dieser Zeit Geschichte nur noch als Weltgeschichte verstanden werden kann und jener buchstäbliche Sack Reis, der in China umfällt, uns durchaus angeht. Auch hier ist es die Methode des Vergleichs, die Verstehen ermöglicht. In der drängenden Frage, was es mit Europa auf sich hat, wird man nicht weiterkommen ohne ein Wissen davon, wie lange Europa schon verwickelt ist in die Geschichte anderer Kulturräume.

 

Geisteswissenschaftliche Forschung führt also regelmäßig zur Irritation unseres Selbstverständnisses. Der Frankfurter Rechtshistoriker Daniel Damler hat auf bezwingende Weise die Vorgeschichte der Globalisierung untersucht. Wie haben die Kolonialmächte gerechtfertigt, dass sie anderen – Indianern, Indern, Lateinamerikanern – das Land wegnahmen? Wer sein Eigentum nicht kultiviert, hieß es damals, verliert seine Ansprüche darauf. Oder: Wer sein Eigentum an Land nicht schützen kann, dessen Eigentum ist es gar nicht. Territorium komme von Terror, der Abschreckung. Hinter den liberalen Vertragstheorien des Eigentums zeigt sich, dass Verträge oft nur Versuche waren, ohne Waffen auszukommen.

Kulturelle Fundamente

Es liegt auf der Hand, dass solche ideengeschichtlichen Studien kein nutzloser Zeitvertreib sind. Sie berühren unser Verständnis der Dritten Welt ebenso wie die Rechtsbegriffe der Ersten. Und andere Fragen der Gegenwart muss man nur nennen, um die Notwendigkeit geisteswissenschaftlicher Forschung zu erkennen: Gibt es einen Plural von Islam? Ist die Geschichte der Moderne eine Geschichte zunehmender Säkularisierung? Ist Staatsverschuldung eine Konstante des politischen Wandels seit den archaischen Gesellschaften und den frühen Hochkulturen?

 

Trotzdem wäre es zu kurz gefasst, die Bedeutung der Geisteswissenschaften auf ihre direkten Beiträge zum Verständnis der Gegenwart zu beschränken. Auch ganz abseitig scheinende Forschungen ohne solche Bezüge dienen der Selbsterkenntnis. Jahrhundertelang war die Antike ein solcher „Gegenstand“, an dem jede Epoche durch Philologie, Archäologie und Geschichtsschreibung prüfte, wie fremd und wie nah ihr die eigenen Ursprünge sind. Bis in unsere Tage faszinieren die Fragen, was es mit Homer auf sich hatte, ob die Griechen an ihre Götter glaubten und ob die stärkeren Argumente auf Seiten des Platon oder des Aristoteles waren.

 

Dieses Interesse herauszufinden, worin wir uns von früheren Epochen unterscheiden und was wir an ihnen dennoch zu verstehen vermögen, gehört zu den Grundimpulsen der Geisteswissenschaft. „Jedes Wort, jeder Satz, jede Gebärde oder Höflichkeitsformel, jedes Kunstwerk und jede historische Tat sind nur verständlich, weil eine Gemeinsamkeit den sich in ihnen Äußernden mit dem Verstehenden verbindet“ (Dilthey). Die Geisteswissenschaften entspringen insofern einer europäischen Einstellung zur Welt. Denn dies zeichnete die westliche Welt seit jeher aus: die Überzeugung, verstehen zu können, was in ihren Horizont getreten ist. Was wir tun, wenn wir bestimmte Begriffe – Wille, Person, Freiheit, Staat, Fortschritt, Bürgertum, Geschichte – verwenden, um unsere Lage zu beschreiben, gehört ebenso zu ihrem Erkenntnisaufgaben wie die Frage nach den Grenzen der Ideologien. Wer sich im öffentlichen Diskurs nicht nur auf Meinungen berufen möchte, sondern auf Erkenntnisse, kommt um philosophische, philologische und historische Forschungen nicht herum. Sie mögen nicht immer zu solchem Konsens führen, wie ihn Physiker oder Biologen mitunter erreichen. Doch wo stünde geschrieben, dass als Erkenntnis nur gilt, was unumstößlich feststeht?


»Jedes Wort, jeder Satz, jede Gebärde oder Höflichkeitsformel, jedes Kunstwerk und jede historische Tat sind nur verständlich, weil eine Gemeinsamkeit den sich in ihnen Äußernden mit dem Verstehenden verbindet« 

Wilhelm Dilthey

Jürgen Kaube
Jürgen Kaube ist einer der vier Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und zuständig für das Feuilleton. Zuletzt erschienen „Max Weber: Ein Leben zwischen den Epochen“ (Rohwolt 2014) und „Die Anfänge von allem“ (Rohwohlt 2017). faz.net