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Zu der Aufregung um ein Teilchen, das niemand versteht

Hoppla, ein Higgs – oder was?

Ernst Peter Fischer15.08.2012

Das Timing konnte nicht besser sein. Es waren ausgerechnet die Nobelpreisträger der Physik, die sich Anfang Juli in Lindau am Bodensee versammelt hatten, als aus dem Forschungszentrum CERN bei Genf mit seinem Riesenbeschleuniger die ersten Gerüchte zu hören waren, man habe eine große Entdeckung gemacht. Bald traten die Direktoren und andere Professoren selbst an die Öffentlichkeit, um zu verkünden, sie hätten das Higgs-Boson gefunden und wären nun sehr viel schlauer als vorher und verstünden die Welt besser. Das Higgs-Boson? Was sollte das sein? Und hilft solch ein Teilchen beim Verständnis der Dinge?

Normalerweise würden Zeitgenossen außerhalb der Physik bei solch einer Nachricht die Schulter zucken und die Experten innerhalb der Wissenschaft vielleicht etwas Anerkennendes und Nettes sagen, aber danach ginge jeder wieder seiner Wege. Doch diesmal brach eine unvorstellbare Euphorie aus. Die Forscher am CERN und ihre Bosse feierten einen Meilenstein in der Geschichte ihrer Wissenschaft – so ließen sie es zumindest ihre clevere Marketingabteilung bekannt geben – und das Volk der Journalisten und einige für die Wissenschaft zuständige Politiker machten eifrig mit und überschlugen sich vor Begeisterung. Es fehlte gerade noch, daß das Erste Deutsche Fernsehen einen aktuellen Brennpunkt deswegen ins Programm genommen und dem staunenden Publikum irgendwelchen bunten Bildchen aufs Auge gedrückt hätte.

 

Langweilige Entdeckung

Merkt denn keiner, wie langweilig die Entdeckung des Teilchens ist, das die Wissenschaft mit Higgs bezeichnet? Immerhin trägt das Kind einen hübschen Namen; und diesen verdankt es der Tatsache, dass der schottische Physiker Peter Higgs vor einem halben Jahrhundert eine Theorie entworfen hat, in der ein Etwas vorkam, das mit geeigneten Wechselwirkungen das hervorbringen kann, was wir im Alltag als Masse kennen, vor allem, wenn sie uns im Weg steht. Ein Higgs Partikel sollte ein Kraftfeld produzieren, das so etwa wie Honig wirkt und sich dort als zäh erweist, wo jemand durch will.

Doch bei aller Freude am Anschaulichen: In den Regionen, die sehr viel kleiner als Atome sind, geht es gerade nicht mehr so wie im Alltag zu, weshalb das Publikum mit solchen Scherzen nicht ans, sondern bestenfalls hinters Licht und also in die Irre geführt wird. Tatsächlich gibt es in der subatomaren Welt keine Teilchen mit Eigenschaften, wie wir sie aus dem Alltag kennen. Korrekt lautete ja daher die Meldung aus Genf, man habe ein Higgs-Boson gefunden, wobei das Wort „Boson“ Gebilde meint, die keine Identität haben und sich nicht unterscheiden lassen. Sie treten daher leicht und gerne in Massen auf, und so steht die Behauptung ohne jeden Sinn im Raum, die Physiker hätten das (eine) Higgs Teilchen gefunden. Es gibt Higgs Partikel nur im Plural, und gefunden oder bemerkt worden sind die dazugehörigen energetischen Zustände nicht von Menschen, sondern von den Maschinen, die Menschen zu diesem Zweck mit hohen Kosten und enormen Aufwand gebaut haben.

Wer die verbrauchten finanziellen Mittel beziffern will, muss sehr viele Milliarden angeben, und hierin scheint auch die Euphorie und der Jubel der an der Higgs-Suche beteiligten Wissenschaftler begründet zu sein, die sich auf keinen Fall vorhalten lassen wollten, die Riesensummen verbaut und verschleudert zu haben – ein Vorwurf, der irgendwann allein deshalb zu erwarten war, weil das europäische CERN das gigantische Bauvorhaben eines für die geplanten physikalischen Experimente nötigen Beschleunigers übernommen hat, nachdem die US-Wissenschaft solch ein Projekt wegen der immer weiter steigenden immensen Kosten aufgeben musste. Der amerikanische Abbruch kam auch zustande, weil ein politischer Entscheidungsträger wissen wollte, ob derart gigantische Maschinen mit den von ihnen produzierten unvorstellbaren Energiemengen in der Lage sein würden, die Frage nach der Existenz nicht eines Teilchens, sondern der Anwesenheit eines Gottes zu beantworten. Als die ehrliche Antwort der Wissenschaft „Nein“ lautete, drehte die Politik in den USA den Geldhahn zu, und Europa konnte mit seinem CERN einspringen. Hier würde man, hier musste man das Gottesteilchen finden, und jetzt teilt man uns voller Zufriedenheit und mit aller Genugtuung mit, es sei vollbracht – mit großer Wahrscheinlichkeit jedenfalls.

Wie gesagt – die Nachricht wurde lanciert, als sich gerade die Nobelpreisträger für Physik trafen, und keiner von ihnen ließ die Gelegenheit verstreichen, in die bereitgehaltenen Mikrophone der ehrfürchtig lauschenden Journalisten zu sprechen. Leider ist dabei fast so viel dummes Zeug gesagt worden, wie es von Fußballern zu hören ist, wenn sie am Ende des Spiels noch im Trikot sind und nicht wirklich Abstand zum Geschehen gewinnen konnten.

Ein Laureat meinte unsinnigerweise, das Higgs Happening mit dem Bau der Pyramiden vergleichen zu müssen, wobei ihm wahrscheinlich nicht klar war, daß diese Weltwunder der antiken Welt als Grabstätten dienen. Sollte die Physik begraben worden sein?

An anderer Stelle wurde die (wahrscheinliche) Entdeckung des Higgs-Teilchens mit dem Augenblick des Jahres 1953 verglichen, in dem zwei Biologen, James D. Watson und Francis Crick, ihren Vorschlag für den Aufbau der Erbsubstanz unterbreiteten. Der Stoff, aus dem die Gene sind, zeigte sich als Doppelhelix, was ein wahrhaft umwälzendes Ereignis in der Geschichte der modernen (molekularen) Biologie war, und zwar aus zwei Gründen, die dem Higgs Ereignis vollständig fehlen. Während 1953 niemand auch nur ahnte, was für ein Modell der Erbsubstanz die Forschung liefern und zum Verständnis des Lebens nutzen würde, bis die heute so berühmte Struktur der Doppelhelix vorlag, wusste jeder am CERN, wonach man suchte – nach einem Higgs Teilchen. Und während die Doppelhelix mit einem Blick erkennen lässt, was sie vermag – nämlich das Grundproblem der Vererbung verständlich zu machen, wenn aus einer Zelle zwei werden –, zeigt das Higgs Teilchen nichts. Niemand erkennt auf den bunten Gebilden aus der Genfer CERN-Zentrale, was Higgs in der physikalischen Wirklichkeit vermag, und niemand kann das ohne Mathematik erklären. Man behauptet, ein neues Weltbild feiern zu können, und hält bestenfalls den Rahmen in der Hand, der das noch zu zeichnende Bild enthalten könnte. Aber der Künstler steckt sicher nicht im CERN.

Noch einmal – merkt die aufgeregte Gemeinde der Physiker wirklich nicht, wie langweilig ihre Mitteilungen zu Higgs sind?

 

Logik der Forschung

Der aus Wien stammende Philosoph Karl Popper hat in den 1930er Jahren eine „Logik der Forschung“ verfasst, in der er beschrieben hat, wie die Wissenschaft zu Fortschritten kommt. Man kann Poppers Ansatz kritisieren, er wird aber von den meisten praktisch tätigen Physikern akzeptiert und ist daher an dieser Stelle relevant. Popper zufolge funktioniert Forschung dadurch, dass Hypothesen formuliert werden, die sich in einem Experiment oder durch eine Beobachtung testen lassen. Logisch gesehen bestehen zwei Möglichkeiten, und eine handelt davon, dass die Messungen die Hypothese bestätigen – Popper spricht von verifizieren und benutzt als Beispiel die Vermutung, „Schwäne sind weiß“, die sich leicht verifizieren lässt. Es kann aber auch passieren, etwa durch Sichtung eines schwarzen Schwans, dass die Hypothese im Versuch widerlegt wird, was die Fachwelt nach Popper als Falsifikation bezeichnet. Der Clou dieser Philosophie der Wissenschaft besteht darin, dass eine Verifizierung nichts bringt, denn mit ihr weiß man nicht mehr als vorher. Nur eine Falsifizierung bringt die Forschung weiter, da nun können neue Hypothesen riskiert und zur Prüfung vorgeschlagen werden können. Mit anderen Worten, Verifikationen liefern Langeweile, und genau dies haben die Meldungen vom Genfer See mit seinem CERN bewirkt. Mit ihnen ist die Physik merkwürdig spannungslos geworden, was sich auch an der Tatsache zeigt, dass mit dem Higgs Partikel ein sogenanntes Standardmodell der Physik seine Zuverlässigkeit und Tragweite erwiesen hat. Standards sind wichtig, aber Freude machen sie nicht. Die hat uns Higgs genommen. Mal sehen, was sich die Marketing Experten in der Welt der Wissenschaft als nächstes einfallen lassen. Etwas mehr Witz, wenn ich bitten darf.

 

Prof. Dr. Ernst Peter Fischer ist apl. Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität in Konstanz, wiss. Berater der „Stiftung Forum für Verantwortung“ und Publizist. Zuletzt erschien „LASER – Eine deutsche Erfolgsgeschichte von Einstein bis heute“ (Siedler 2010).

www.epfischer.com

Ernst Peter Fischer
Dr. Ernst Peter Fischer ist apl. Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität in Heidelberg, wissenschaftlicher Berater der Stiftung ­Forum für Verantwortung, mehrfach ausgezeichneter Autor, Redner und Publizist.

© Hannes Ortmann epfischer.de

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