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Geschichtsschreibung

In praeteritis non est possibilitas

Wenn man geschichtliche Ereignisse, von denen wir Kenntnis haben, genauer in den Blick nimmt, dann stellen sie sich – je nach dem Bericht, den man darüber liest – unterschiedlich dar. Winfried Holzapfel zum Thema Geschichtsschreibung.

18.12.2013

Als ich hörte, dass wir während unserer Kulturfahrt nach Osnabrück Kalkriese besichtigen wollten, den Ort, an dem jüngsten Erkenntnissen zufolge der Cheruskerfürst Arminius die römischen Legionen des Varus besiegt hatte, kam mir etwas in Erinnerung. Lange war die die Annahme gewechselt, wo die berühmte „Schlacht im Teutoburger Wald“ genau stattgefunden hatte. Mit guten Gründen wurde der Ort immer wieder verlegt. Wie passt dazu der Satz „In praeteritis non est possibilitas“ („In der Vergangenheit gibt es keine Möglichkeit“)?, frage ich mich, denn ich bin von diesem sehr überzeugt.

Die Varusschlacht ist abgeschlossen, die Möglichkeiten, die sich in ihr realisieren konnten, sind unveränderbare Vergangenheit. Sie hat sich zugetragen und zwar genauso, wie sie sich zugetragen hat, und genau an dem Ort, an dem sie sich zugetragen hat. Daran ändern alle Änderungen, die seit ihrer näheren Erforschung vorgenommen worden sind, nichts. Denn: „In praeteritis possibilitas locum non habet“, wie es im Original heißt: „Im Vergangenen hat Möglichkeit keinen Raum“[1].

Wenn man aber einmal geschichtliche Ereignisse, von denen wir Kenntnis haben, genauer in den Blick nimmt, dann stellen sie sich – je nach dem Bericht, den man darüber liest – unterschiedlich dar. Mit der Unveränderbarkeit des abgelaufenen Geschehens selbst ist nicht auch die Unveränderbarkeit unserer Erkenntnisse davon gegeben. „Wie war es denn nun wirklich?“  Diese Frage stellt sich nicht selten.

Erkenntnisfragen

Manchmal verhindert ein subjektiver Beweggrund, der Umstand etwa, dass jemand etwas nicht wahrhaben will, die Aufklärung einer strittigen Frage. Auch fehlende  Dokumente sorgen für Lücken in unserer Erkenntnis.Zudem kann Propaganda uns täuschen. Bild- und Textmanipulationen sollen absichtlich Täuschung, zumindest Irritationen erzeugen.

Die Wahl der Begriffe schafft unterschiedliche Wirklichkeitsannahmen: Wurde Deutschland 1945 besiegt oder befreit? Manche Begriffe sind bewusst ambivalent gehalten. Das lateinische Wort „pacare“ heißt ebensowohl „befrieden“ wie „unterwerfen“. Es waren ja auch in der Regel Unterwerfungsfrieden, die die Römer brachten. Bei Vergil heißt es in berühmten Versen: pacique imponere morem: „dem Frieden Moral beifügen“. Bösartig interpretierend könnte man sagen: „dem Frieden einen moralischen Anstrich geben“ (sofern man den Besiegten römische Sitte und Regeln auferlegt), gemeint ist aber wohl: „die Tugend der Vorfahren zum Wohle aller, auch der Besiegten, verwirklichen“.

Vielen ist die Maxime des römischen Geschichtsschreibers Tacitus bekannt: „Sine ira et studio“ - so wollte Tacitus Geschichte schreiben. Weder Zorn noch Zuneigung sollten seine Berichte beeinflussen. Damit schien eine objektive Darstellung angestrebt und die Beurteilung in die Hand oder das Ermessen des Lesers gelegt, dem durch den Bericht vorgelegt werden sollte, was wirklich geschah.

In diesem Herbst erscheinen viele Bücher zu bekannten Themen wie z.B. Erster Weltkrieg, Die Römer, Martin Luther. In der Werbung für diese Bücher stellen die Verlage heraus, dass ganz neue Erkenntnisse zu erwarten sind. Man staunt: Soviel Neues in der Vergangenheit, in der es eigentlich nichts Neues geben kann! Was aber war, ist nicht wirklich neu: Wir beleuchten es nur neu oder wir entdecken etwas, was es zwar schon gab, von dem wir aber noch nichts wussten.

Grund für das Problem einer wahren und unumstrittenen Geschichtserkenntnis ist, von böswilliger Täuschung einmal abgesehen, vor allem die Komplexität des Geschehens selbst – beim Vorgang wie bei der Erinnerung. Eine Rolle spielt auch die Wertung oder Umwertung des Geschehens aus Sicht der Beteiligten, sei es in Gestalt offizieller Propaganda oder subjektiver Betroffenheit des einzelnen Forschers.

Arten der Historie

In seiner Abhandlung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ schreibt Friedrich Nietzsche über drei Arten von Historie, die „monumentalische“, die „antiquarische“ und die „kritische“. Der Mensch schleppt die Kette des Vergangenen mit sich und muss seine Zukunft meistern. Dazu bedarf es der Ermutigung durch Vorbilder, der Beheimatung im Umfeld und der kritischen Distanz zu allem, was erstarrt ist.

In unserem Zusammenhang sei die „monumentalische“ Historie kurz herausgegriffen. Geschichtliche Ereignisse werden überhöht, werden Leuchttürme, an denen man sich orientieren kann. Sie dienen der Erbauung, dem inneren Hochgefühl eines Volkes, das es zu selbstbewusster Tat ermuntert. Solches geschah beispielsweise auch mit der Varusschlacht, die Heinrich von Kleist (1777 –1811) in seinem Drama „Die Hermannsschlacht“ bei aller psychologischen Feinzeichnung im Detail zum germanischen Triumph stilisierte. Die Aufführungen häuften sich während der Jubiläumsfeiern anlässlich der Besiegung Napoleons in der Völkerschlacht zu Leipzig. Auch in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die „Hermannsschlacht“ sehr häufig aufgeführt, vor allem in der Reichshauptstadt. [2]

Die Wirklichkeit des Vergangenen

Wie ist aber das Geschehene vorhanden? Wie kommt man daran? Es ist ja nicht mehr! Das Geschehene ist nicht mehr, jedenfalls nicht als Geschehendes. Seine Gegenwart ist Vergangenheit. Es ist erschließbar aus Knochenfunden, interpretierbar aus Altertumsresten (Trümmern, Münzen, Überbleibseln von Gerätschaften) und studierbar in schriftlichen Dokumenten, Jahrbüchern, Tagebüchern und Geschichtsbüchern. Manchmal gibt es Zeitzeugen, die Erlebtes berichten und Geschehenes in Erinnerung rufen. Aber auch die Zeitzeugen sind vergänglich und im Übrigen – wie jedermann – fehlbar.

Ist das Geschehene also nur in der Erinnerung, und wäre es nicht mehr, wenn sich niemand erinnerte?
Eine sowohl faszinierende wie schon fast gruselige Antwort hat der Philosoph Nicolai Hartmann in seinem Essay „Zeitlichkeit und Substantialität“[3] gegeben. Er sagt, das Gesetz der Zeit sei, dass sie das einmal Geschehene aufnehme und es „unaufhebbar in sich“ behalte. „Das Vergangene bleibt unverrückt an seiner Zeitstelle stehen, wie weit immer diese auch vom Jetzt abrückt. Es gibt keine Macht, die es nachträglich aufheben könnte, so wenig als es eine gibt, die es wiederkehren lassen könnte. Das ist der Sinn des ewigen Stillstehens in der Vergangenheit“ und „Wie das Gedächtnis das Einstige nicht wiederbringt, so löscht auch das Vergessen es nicht aus“(S. 87). Wenn wir uns die Varusschlacht auch noch so farbig vorstellen, sie findet in dieser oder durch diese Vorstellung nicht wieder statt. Wenn jemand noch nie von der Varusschlacht gehört hat, so hat sie doch stattgefunden, und selbst, wenn sie von allen vergessen würde, so wäre sie doch gewesen.

Das Vergangene ist nicht zu nichts geworden. Es ist der Boden, auf dem unsere Gegenwart ruht. Deshalb ist Geschichte – auch als Wissenschaft und Geschichtsschreibung – wichtig. Manche Menschen sind schon in früher Jugend davon fasziniert, für manche wird sie erst mit dem Alter interessant, wenn „das wandernde Jetzt“, persönlich gesprochen: das alternde Ich, beim Blick zurück mehr vorfindet, als es sich beim Blick nach vorne versprechen oder erhoffen kann.


[1] Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, II, 84,2

[2] Siehe dazu in der Kleist-Biographie von Günter Blamberger (S. Fischer, 2011), S. 365 ff.

[3] Bei Reclam in dem Bändchen: Nicolai Hartmann, Der philosophische Gedanke und seine Geschichte, S. 79 ff.

(Von Winfried Holzapfel, RC Geldern)

Zum Autor: Dr.  Winfried Holzapfel, Oberstudiendirektor i.R., Jg. 1940, Studium der Fächer Latein und Philosophie in den sechziger Jahren, Lehrer am Friedrich – Spee - Gymnasium in Geldern, in der Lehreraus- und Fortbildung tätig, zuletzt Schulleiter des Kardinal –von – Galen - Gymnasiums in Kevelaer/Niederrhein. Seit 1994 Vorsitzender des Bundes Freiheit der Wissenschaft. Seit 1986 Mitglied des RC Geldern.