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Sachsen-Anhalt feiert 800 Jahre seines Landesteils Anhalt

Kernland deutscher Geschichte

Wolfgang Böhmer02.04.2012

Es ist nicht möglich, den Beginn deutscher Geschichte auf ein konkretes Jahr, schon gar nicht auf einen Tag, zu datieren. Viele Historiker beginnen mit dem Jahr 919, als der Sachsenherzog Heinrich in Fritzlar zum König gewählt wurde. Der Sage nach sei ihm die Königskrone von den Gesandten der anderen Fürsten unweit von Quedlinburg bei seinem Vogelherde angeboten worden. Belege dafür gibt es nicht. Nach dem Zerfall des karolingischen Frankreichs waren zunehmend Herzogtümer entstanden, die untereinander durch Kriege und Zweckehen um territoriale Größe und politische Bedeutung stritten. Nach dem Tode seines Vaters musste Heinrich gegen seinen Bruder Konrad Krieg führen, der ihm einen Teil der geerbten Länder entziehen wollte. Er gewann diesen Krieg. Auf dem Sterbebett empfahl Konrad den deutschen Fürsten, seinen Bruder Heinrich, als den Würdigsten unter ihnen, zum König zu wählen. So wurde Heinrich erster deutscher König. Eine kirchliche Krönung lehnte er ab. In die inneren Verhältnisse der Herzogtümer griff er nicht ein, baute aber an den Außengrenzen Burgen zur gemeinsamen Verteidigung.

 

Heinrich I. starb am 2. Juli 936 in Memleben und wurde in Quedlinburg begraben. Sein erster Sohn Otto aus seiner zweiten Ehe wurde sein Nachfolger. Auch dieser musste sich in mehreren Kriegen gegen Erbansprüche seiner Brüder durchsetzen. Als Otto I. wurde der damals 24-jährige zum zweiten deutschen König gewählt und nach vielen Kriegen und Querelen 962 zum römischen Kaiser. Mit ihm begann, was man später das Heilige römische Reich deutscher Nation nannte und in der deutschen Geschichte die Ottonenzeit. Otto regierte mit einer zentral gesteuerten Verwaltung und mit von ihm eingesetzten Bischöfen und neu gegründeten Bistümern. Dabei wurde das Erzbistum Magdeburg ein kirchlicher Mittelpunkt. Nach dem Sieg über die Ungarn 955 auf dem Lechfeld bei Augsburg wurde seine Machtkompetenz respektiert. Otto I. starb 973 in Memleben. Er wurde im Dom zu Magdeburg in der Nähe seiner ersten Frau Editha beigesetzt.

 

Askanier, Luther und „der alte Dessauer“

In diesem Jahr wird an die 800-jährige Existenz des Herzogtums Anhalt erinnert, das namengebender Teil des Landes Sachsen-Anhalt geworden ist. Wenn auch nach einigen berechtigten Diskussionen, hat man seinen Beginn nicht nur auf ein Jahr, sondern sogar auf einen Tag festgelegt.

Am 9. Februar 1212 starb Herzog Bernhard, der von seinem Vater Albrecht dem Bären, Graf von Ballenstedt und Aschersleben und späterer Markgraf von Brandenburg, die zentralen Landesteile um eine Burg bei Ballenstedt geerbt hatte. Er selbst soll sich schon nach 1180 als Graf von Anhalt bezeichnet haben. Sein Besitz wurde auf seine beiden Söhne verteilt, wobei der jüngere Albrecht die entfernteren Ländereien an der Elbe zwischen Wittenberg und Lauenburg und der ältere Heinrich die askanischen Stammländer um Aschersleben, Ballenstedt und Bernburg erhielt. Mit Heinrich – später als Heinrich I. bezeichnet – beginnt die eigentliche Geschichte Anhalts als eines für sich bestehenden Territoriums. Urkundlich wird es erstmals 1215 als Comes Aschariae et princeps in Anhalt bezeichnet. Bekannt geworden ist er als Minnesänger, dessen Lieder mehr als hundert Jahre nach seinem Tode in die „Manessische Liederhandschrift“ aufgenommen wurden. Nach ihm führten immer neue Erbteilungen zu einer Aufteilung in eine Ascherslebener, eine Bernburger, eine Zerbster und viele andere Linien. Erstmals 1570 gelang eine Wiedervereinigung aller anhaltischen Länder unter Joachim Ernst von der Siegmundschen Linie zu Dessau. Aber der hatte sieben Söhne, die sich nach seinem Tod das Land wieder aufteilten. Es entstanden vier relativ stabile fürstliche Linien: Anhalt-Dessau, Anhalt-Cöthen, Anhalt-Bernburg und Anhalt-Zerbst und damit vier Residenzstädte. Als zu Beginn dieses Jahrhunderts im Rahmen einer Kreisgebietsreform neu über Kreisstadtsitze entschieden werden musste, wurde die eigene Geschichte wieder bemüht.

Während des Dreißigjährigen Krieges vereinbarten die anhaltischen Fürstenhäuser, nach außen gemeinsam als untrennbares Fürstentum durch den Senior des Gesamthauses aufzutreten. Schließlich gelang es 1863, alle anhaltischen Lande wieder zu einem Herzogtum zu vereinigen. Unter den 26 damals bestehenden deutschen Staaten nahm Anhalt mit 2294 km² den 14. Rang ein. Um 1895 wurden 293.298 Einwohner gezählt; seit 1859 gab es einen Landtag aus 36 Mitgliedern. Im Bundesrat des Deutschen Reiches hatte Anhalt eine Stimme.

Überregional bedeutsam wurde die Dessauer Linie. Leopold I. von Anhalt-Dessau – bekannt als „der alte Dessauer“ baute die preußische Armee mit auf. Sein Enkel Leopold III. veranlasste die Gestaltung des Gartenreiches Dessau-Wörlitz, das heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Während der Zeit der Aufklärung galt besonders das Schulwesen in Anhalt als vorbildlich modern.

Die Kernlandeigenschaft einer Region in der Geschichte besteht in der von dort ausstrahlenden Entwicklung. Von Wittenberg aus hat der damals 34-jährige Theologieprofessor Martin Luther im Herbst 1517 seine Thesen zur Diskussion über Fehlentwicklungen in seiner Kirche verbreitet. Das Wittenberger Konsistorium war lange noch nach seinem und später nach Melanchthons Tod das zentrale Deutungsgremium der reformatorischen Entwicklung. Die Wittenberger Universität wurde im frühen 17. Jahrhundert zur bedeutendsten in Deutschland. Die spätere Entwicklung beweist, dass man vom Ruhm aus der eigenen Geschichte heraus nicht überleben kann. Aber die Region war das Kernland der Reformation.

Aus Mitteldeutschland sind bedeutende Komponisten der Barockmusik hervorgegangen. Das begründet aber noch keine Kernlandbedeutung. In Weißenfels wird Heinrich Schütz gefeiert, weil er einige Jahre seiner Kindheit dort verbracht hat. Halle feiert jährliche Händelfestspiele. Georg-Friedrich Händel wurde dort 1685 geboren, ist aber mit 18 Jahren von dort weggezogen. Magdeburg feiert Georg Philipp Telemann, der 1681 dort geboren wurde und mit 20 Jahren von dort wegging. Johann Sebastian Bach weilte sechs für ihn produktive Jahre in Köthen, wurde dann aber als Leipziger Thomaskantor weltberühmt.

Eine große Bedeutung hatten aus dieser Region kommende Impulse zur Rechtspflege. Um 1230 verfasste der als Schöffe tätige Eike von Repkow auf Wunsch des Grafen Hoyer von der Burg Falkenstein den sogenannten Sachsen-Spiegel. Dieser wurde für mehrere Jahrhunderte zu einer bedeutenden Quelle der Rechtsprechung. Für das kommunale Recht wurden für lange Zeit das Magdeburger Stadtrecht und der Schöffenstuhl der Stadt bedeutsam. Bis nach Kiew ist dessen Ausstrahlung nachweisbar.

Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Region des jetzigen Sachsen-Anhalt in Mitteldeutschland durchaus auf dem Niveau der Zeit. In der letzten Wirtschaftsstatistik des Deutschen Reiches vor Kriegsausbruch lag die Industrieproduktion je Einwohner im Reichsdurchschnitt bei 609 Reichsmark, in der Wirtschaftsregion Mitteldeutschland bei 725 Reichsmark.

 

Niedergang und Wiederaufstieg

Der Krieg und die Nachkriegsentwicklung haben die Verhältnisse völlig verändert. Zu den wenigen Nachkriegszielen, über die sich die Siegermächte völlig einig waren, gehörte die Zerschlagung Preußens. So wurden neben den alten Ländern wie Bayern oder Sachsen neue Länder konstruiert wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und auch Sachsen-Anhalt. Allerdings gab es schon 1921 einen überregionalen Wirtschaftsverband Sachsen-Anhalt. Befürworter der Idee einer strukturellen Neugliederung im mitteldeutschen Raum waren besonders Vertreter von Wirtschaftsverbänden, aber auch der Landeshauptmann der preußischen Provinz Sachsen, Erhard Hübener. Der 1946 gewählte Landtag legte dann den Namen zunächst mit Provinz und später Land Sachsen-Anhalt fest. Doch löste die in der sowjetischen Besatzungszone gebildete DDR die Länder 1952 wieder auf. Auf der Grundlage föderaler Strukturen lässt sich keine Diktatur errichten. Erst mit dem Ländereinführungsgesetz der letzten Volkskammer entstanden 1990 auch in diesem Teil Deutschlands die im Wesentlichen gleichen Länder wieder neu. Seitdem bezeichnen wir mit dem Begriff „neue Länder“ etwas anderes als 1946.

 

Eine gemeinsame Landesidentität ist in den Ländern, die 40 Jahre aufgehört hatten zu existieren, besonders fragil. So gibt es in Sachsen-Anhalt je nach der lokalen geschichtlichen Entwicklung Verbundenheitsgefühle zu Brandenburg in der Altmark, zu Sachsen in der ehemaligen Provinz Sachsen in Preußen, zu Thüringen im Unstruttal und zum Herzogtum Braunschweig in der Harzregion. Die Identität im territorial lange zersplitterten Anhalt wird noch durch die anhaltische Kirche zusammen gehalten.

 

Doch haben der in Mitteldeutschland besonders schwierige wirtschaftliche Transformationsprozess und die nun langsam erkennbaren gemeinsamen Erfolge die Menschen auf neue Weise zusammengeschweißt. Gemeinsam durchgestandene Nöte und gemeinsame Erfolge führen auch hier zu einem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl.

Wer sich für Geschichte interessiert, kann in Sachsen-Anhalt viel finden – wer Neues sucht, inzwischen auch.