Ökonomen und Geisteswissenschaftler, Manager und Intellektuelle könnten die Welt verändern. Wenn sie was lernen wollten
Lernen, nicht empören
Wer hat Schuld an der gegenwärtigen Finanzkrise? Politische Systeme, die über ihre Verhältnisse gelebt haben? Oder Banker, die in ihrer Gier jedes Maß verloren? Statt gegenseitiger Vorwürfe brauchen wir ein Weltbild, das Wirtschaft und Geist wieder zusammenführt.
»Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann«
Francis Picabia
Wir leben in merkwürdigen Zeiten. Früher litten die Leute an der Pest, an Hunger oder an Kriegen. Das ist, wenigstens in der westlichen Wohlstandswelt, vorbei, jedenfalls für die meisten. Worunter wir allerdings heutzutage leiden, lässt sich nicht so einfach erklären wie Pest, Cholera, Kohldampf oder Mord und Totschlag. Die allermeisten Menschen leiden darunter, dass sie nicht verstehen, woraus die Krisen und Systemstörungen bestehen.
Die Krisen, die uns neuerdings heimsuchen, sind unverstandene Krisen, denn sie entspringen der Welt der Wirtschaft, der Ökonomie. Ihr Epizentrum liegt in Algorithmen oder verquasten Fußnoten eines Aktiengeschäftes, in bilateralen Verhandlungen, die keiner der dabei beschäftigten Unterhändler noch in ihrer Gesamtheit erfasst, kurz: Sachen, die so komplex sind, dass sie für einen einzelnen Menschen einfach zu kompliziert sind. Was ist wirklich für Finanzkrisen verantwortlich? Was alles führt zu Staatspleiten und Währungskollaps? Das meiste dazu wird vermutet und, mangels Erkenntnis, dann behauptet. Bei Licht betrachtet verhalten sich die vielen kleinen Ursachen einer Systemstörung so wie die Quanten bei Heisenberg, unberechenbar. Kaum versucht man sie zu messen, verändern sie sich dadurch auch schon. Nichts bleibt, wie es ist, alles ist unscharf.
Woran liegt das?
Die Antwort wird in diesen Tagen vieltausendfach publiziert, gedruckt, gesendet und wiederholt: am Kapitalismus. Er ist die neue alte Pest. Der Markt ist schlecht. Nun ist der Kapitalismus ein wohlfeiles Opfer. Denn die, die ihn betreiben, sind zwar viele, aber sie sind sprachlos. Ökonomen, Unternehmer, Manager, Finanzexperten – sie alle mögen die Räder der Welt drehen, aber das Bild der Welt wird von Geistes- und Sozialwissenschaftlern geprägt, von Künstlern, Journalisten und Autoren, Regisseuren und Schauspielern – kurz gesagt von Intellektuellen. Was sie denken, fühlen, wissen und, weit öfter, ahnen, ist weitaus bedeutender als die verhaltenen Aussagen der Experten. Antikapitalismus ist das große intellektuelle Mehrgenerationenprojekt, das integriert und einigt – es fragt sich nur, wozu?
Meinung ohne Ahnung
Je weniger Ahnung vom Gegenstand der Kritik herrscht, desto eifriger wird Meinung gemacht. Was würden wir sehen, wenn die Freibeuter gegen den Finanzkapitalismus tatsächlich zum Entern ansetzen würden, wenn sie ihre Parole „Occupy Wall Street“ wahr machen würden? Eine Revolution? Oder, nach großem Gedöns und Degenfuchteln, eine ganze Menge Leute, die recht ratlos auf dem Deck des eben erstürmten Schiffs herumstehen würden?
Nein, mehr als ein „Empört Euch!“, also der Altersfuror des Lyrikers und Diplomaten Stéphane Hessel, käme dabei nicht raus. Ein mangels Kenntnissen über den Kapitalismus ohnmächtiges, wütendes Stampfen, ein pubertäres Aufbegehren ohne Sinn und Zweck, eine tiefe Ohnmacht eben, die sich als Alternative ausgibt – eine unverschämte Hochstapelei. Hessels Politik der Gefühle ist repräsentativ für die europäischen Intellektuellen. Man nennt Haltung, was nur Gesinnung ist, eine Weltanschauung also. Die Intellektuellen, die sich die Wirtschaft vorsätzlich zum Feindbild machen, statt sie konstruktiv und fachkundig zu verändern, haben längst die alte Religion durch eine neue ersetzt. Dieser europäische Antikapitalismus, so der scharfsinnigste französische Denker der Nachkriegszeit, Raymond Aron, sei eben nichts weiter als „Opium für Intellektuelle“, die einfach keine Lust darauf hätten, festzustellen, „was man mit dem Kapitalismus gesellschaftlich anfangen könnte“ – denn das, so der weise Resistance-Kämpfer und Liberale, würde sie ja nur dazu zwingen, „die emotionale und philosophische Basis ihres Glaubens aufzugeben“.
Was Aron vor mehr als 50 Jahren erkannte, kann man heute, in Zeiten der Finanz- und Währungskrisen, in jeder Talkshow, an jeder Universität, bei ?jeder Podiumsdiskussion sehen. Niemand sucht ?einen Konsens. Man tauscht bloß Unverständnis und Unbehagen aus. In jedem „Empört Euch!“ hört man das laute Echo „Aber lernt bloß nichts dazu!“.
Ökonomie ohne Fundament
Das ist dumm. Denn zum einen ist die Theorie und Praxis des Kapitalismus, ganz abseits von Finanzkrisen und politisch verursachten Währungskrisen (wie in Griechenland) ebenso reformbedürftig wie die Staaten, Parteien und Gesellschaften, die darauf bauen. Die Betriebswirtschaft kocht seit Langem im eigenen Saft. Sie ist, ganz gleich, was sie heute auch vorgibt zu sein, eine industriekapitalistische, also ausgesprochen mechanistische Disziplin.
Junge Betriebswirte lernen, Kosten um jeden Preis einzusparen, Produkte um jeden Preis zu verkaufen. Details, nicht eine gebildete Rundumsicht, prägen das Denken. Man handelt wie am Fließband, man denkt in Organigrammen, in geschlossenen Systemen. Dazu kommt eine nahezu groteske Zahlengläubigkeit. Was nicht in die Welt der eigenen Methoden und Modelle passt, lässt sich nicht messen, damit nicht managen und ist also aus Sicht der Betriebswirte nicht real.
Das geht an die Substanz: Seit Jahren sind Wissen und wissensbasierte Dienstleistungen das, wovon die meisten Menschen leben, nicht mehr Produkte und Waren, Güter und damit industrielle Prozesse. Doch die ökonomischen Methoden basieren nicht auf Vielfalt, sondern auf Masse. Es geht aber darum, Komplexität zu erschließen. Dazu gibt es eine brillante Methode, die Kommunikation. Sie ist der Handel mit Wissen und Informationen, ein global gültiges, bewährtes System zum Austausch der wichtigsten Ware des 21. Jahrhunderts. Der Umgang mit Kommunikation ist allerdings bei den Betriebswirten von einem tiefen Autismus gekennzeichnet. Man hält die Fähigkeit, sich auszudrücken, nach wie vor für eine Sekundärtugend. Der Kaufmann meint auch, unpolitisch sein zu dürfen – Meinungen verderben nur das Geschäft, man ist neutral. Doch im Wissenszeitalter, das auf dem Kommunikationszeitalter basiert, ist das eine fataler Irrtum. Es gibt in der Krise niemanden, der qualifiziert, also öffentlich, den Systemzustand beschreiben könnte oder gar sagen, wo es langgeht. Das übernehmen dann Politiker und Demagogen und die „Empörten“, also die meinungsstarken Ahnungslosen. Jeder bleibt, in sturer demagogischer Eitelkeit, hinter seinen Möglichkeiten zurück. Das schadet allen.
Die Wissensgesellschaft braucht systemisches Denken, also eine offene und konstruktive Einstellung zur Veränderung, zum Neuen, zum Anderen.
Komplexität verstehen
Wo Wissen das wichtigste Gut ist, geht es um Innovation und Kreativität. Wie man die aktiviert, wissen Intellektuelle natürlich besser als Controller. Komplexität reduziert man etwa durch Geschichten, die man sich merken kann, durch Stories – wie das Autoren tun, aber auch Historiker, die aus der Unmenge der Geschichten ein fassliches Bild formen. Es ist eben nicht banal, wenn Dirigenten mit Personalern die Frage der Führung von Spezialisten diskutieren. Soft Skills sind kein „Gedöns“ der praktischen Wirtschaft. Sie sind ihre Grundlage. Wirtschaft muss lernen, dass sie nicht ihr eigener Zweck ist. Und das gilt auch für die Geisteswissenschaften.
Um das zu wissen, muss man die Welt nicht neu erfinden. Das Konzept der humanistischen Bildung war immer darauf ausgerichtet, die Werkzeuge für den Wissenserwerb bereitzustellen (und nicht vorhandenes Wissen stur zu pauken). Es geht um Befähigungen. Um Gespräche. Auch um qualifizierten Streit, der jenseits einer Politik der Gefühle beginnt. Und es geht um Synthese, eine Kultur, in der nicht Schrebergärtner bevorzugt werden, die eifersüchtig über ihre kleinen Welten wachen, sondern offene und selbstbewusste Menschen, die sich nach allen Seiten umdrehen wollen.
Karl Marx bedurfte für die Abfassung des „Kapitals“ wenigstens fundierter Kenntnisse der Nationalökonomie, der Philosophie und der Geschichte. Joseph Schumpeter, der die „kreative Zerstörung“ als Urgewalt aller unternehmerischen Innovation erkannte, war ein universell gebildeter Mann, dessen gesellschaftspolitische Theorien auf Augenhöhe mit seinen ökonomischen Modellen verkehrten. John Maynard Keynes verstand sich nicht allein als Volkswirt, und sein großer Kontrahent, der liberale spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek, meinte, „dass ein Ökonom, der nur Ökonom sei, leicht zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer regelrechten Gefahr“ werde.
Das gilt in alle Richtungen. Wirtschaft ist kein Nebeneffekt menschlicher Gemeinschaften. Sie steht im Zentrum, und deshalb braucht sie Wissen aus allen Richtungen. Wer sich über den Kapitalismus nur empört, ohne ihn verstehen zu wollen, ist auf einem Auge blind – und das führt, garantiert, in die falsche Richtung. Zwei Augen sehen mehr als eins. Man muss sie dazu aber auch aufmachen.
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