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Klimts Wien

Letzter Glanz einer Märchenstadt

Roman Sandgruber17.07.2012

Wien im Jahr 1910: Die Reichshaupt- und Residenzstadt hatte die Zwei-Millionen-Grenze überschritten und war die sechstgrößte Stadt der Welt. Eine Stadt, in der die Wirklichkeit hart auf die Träume prallte: für die einen die „gute alte Zeit“, das „Zeitalter der Sicherheit“ und ein „letzter Glanz der Märchenstadt“, für die anderen ein „Völkerkerker“, ein „Tanz auf dem Vulkan“, ein Warten auf die „letzten Tage der Menschheit“ und die „Dritte Walpurgisnacht“. Es war Klimts Wien, Mahlers Wien, Schnitzlers Wien, Wittgensteins Wien, Freuds Wien, Herzls Wien, Rothschilds Wien, Luegers Wien, Hitlers Wien.

Noch regierte der alte Kaiser Franz Joseph, Kaiser von Österreich und König von Ungarn, König von Böhmen, Markgraf von Mähren, Erzherzog von Österreich, Herzog von Steiermark, Kärnten und Krain, gefürsteter Graf von Tirol, König von Galizien und Lodomerien. Immer noch auch König von Jerusalem, und merkwürdig genug im Lichte der späteren Geschichte, auch Herzog von Auschwitz.

Wien zählte 1910 etwas mehr als 6 Prozent der Bevölkerung der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie, aber über 42 Prozent der einkommenssteuerpflichtigen Einkommen der Reichshälfte und zwei Drittel jener Superreichen, die ein Jahreseinkommen von mehr als 100.000 Kronen versteuerten. Das oberste Prozent der Wiener verdiente 1910 mehr als ein Viertel aller Einkommen, die obersten 10 Prozent mehr als die Hälfte und die obersten 20 Prozent etwa zwei Drittel. Die Einkommenssteuerstatistik weist 1910 für Wien und Niederösterreich genau 929 Personen mit mehr als 100.000 Kronen Jahreseinkommen aus. Hunderttausend Kronen waren eine riesige Summe. So viel konnte von den meisten Menschen auch in einem ganzen Leben nicht verdient werden. Industriearbeiter konnten zwischen 500 und 1000 Kronen im Jahr erreichen und Landarbeiter nicht einmal halb so viel. Eine Volksschullehrerin erhielt 1100 Kronen im Jahr, ein Mittelschulprofessor etwa 3000, ein Hochschul- oder Universitätsprofessor 6000 bis 12.000 Kronen. Die nicht ganz tausend einkommensstärksten Wiener, etwa ein halbes Promille der Wiener Bevölkerung, erzielten mehr als 10 Prozent der Einkommen.

Fin de Siècle

Es war eine spannende Zeit, in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Technik, in der Politik. Wien glänzte als Mekka der Medizin. Die Grundlagen von Physik und Chemie wurden neu definiert. In Geschichte, Ökonomie, Soziologie, Rechtswissenschaften, überall wurden Höchstleistungen vollbracht. Die Kunst war in raschem Umbruch. Noch dominierten die historisierenden Stile. Makart hatte eine ganze Epoche geprägt. John Quincy Adams malte die feudalen Eliten, Klimt die jüdischen Aufsteiger bzw. deren Frauen und Töchter, Egon Schiele oder Oskar Kokoschka wurden kaum beachtet. Adolf Loos provozierte mit seinem direkt vor das Innere Tor der Hofburg platzierten Haus ohne Schnörkel und Verzierungen den Kaiser. Arthur Schnitzler, der einflussreichste und umstrittenste Dichter der Epoche, lieferte Skandale, die Könige der Silbernen Operette feierten internationale Erfolge. Gustav Mahler war von der Leitung der Staatsoper resigniert nach Amerika gegangen und todkrank zurückgekehrt. Zwölftonmusik und Psychoanalyse wurden erfunden.

Es war die „gute, alte Zeit“, das Fin de Siècle, die Kaiserzeit. Aber war es auch eine gute Zeit? Die sozialen Probleme waren übergroß. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit lag vor dem Ersten Weltkrieg immer noch bei etwa 60 Stunden. Die soziale Absicherung war ungenügend. Urlaub gab es noch nicht, Krankenversicherungen nur für Industriearbeiter und für Angestellte und Beamte, eine Altersversicherung nur für Angestellte und Beamte, Arbeitslosenversicherung überhaupt nicht. 1907 war mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts eine neue Epoche der Politik angebrochen. Die Stunde der Massenparteien und der Massenbewegungen hatte geschlagen. Doch der Adel besetzte immer noch die repräsentativsten Positionen. Das Großbürgertum war zutiefst gespalten. Die Aristokratie, genauer der Erbadel, bildete die erste Gesellschaft. Die sogenannte „zweite Gesellschaft“ zerfiel in mehrere streng abgezirkelte Öffentlichkeiten.

Zu den absoluten Spitzenverdienern zählten neben den Bankiers, Warenhausbesitzern und Kohlenhändlern auch zahlreiche Baumeister und Architekten, aber nicht der heute so geschätzte Otto Wagner, natürlich die Rüstungs- und Schwerindustriellen, von Karl Wittgenstein über Karl Skoda, die Brüder Roth und die beiden Werndl-Töchter bis zu Sigmund Mandl, Fridolin Keller und Victor Alder, den Erfinder der Leuchtspurmunition. Auch die berühmtesten Hoteliers des Landes sind auf der Wiener Millionärsliste: Pupp (Karlsbad), Panhans (Semmering), Frohner (Imperial), Wolf (Bristol), Sacher und der Südbahnhofwirt Ludwig Schneider, der Vater der bekannten Thalhofwirtin Olga Waissnix, natürlich auch Ludwig Riedl, der Besitzer des Café de l’Europe am Stephansplatz, der Lieblingsgegner von Karl Kraus und Mann mit den meisten Orden Wiens. Millionär konnte man praktisch in jeder Branche werden, ob als Sargfabrikant (Otomar Maschner als Inhaber der Nobelsargmarken A. N. Beschorner und Maschner & Söhne), ob als Erfinder der öffentlichen Bedürfnisanstalten (Wilhelm Beetz) oder als Insektenpulverfabrikant (Johann Zacherl). Auf der Liste findet man aber auch den Wiener Fürsterzbischof und Kardinal Anton Josef Gruscha mit einem zu versteuernden Privateinkommen von 116.437 Kronen. An 929. und letzter Stelle des Rankings dieser Spitzenverdiener rangiert Berthold Popper Freiherr v. Podraghy, dem in Galizien etwa 33.000 ha Boden gehörten.

Lebensbedingungen der Kulturszene

Der spätere Philosoph Ludwig Wittgenstein, 1910 gerade 21 Jahre alt und Student, versteuerte ein Jahreseinkommen von 237.308 Kronen. Als er von 1903 bis 1905 in Linz auf die Realschule war, die zur selben Zeit zwischen 1900 und 1904 auch der um nur sechs Tage ältere Adolf Hitler besuchte, wohnte er bei dem Professor für Latein und Griechisch Dr. Josef Strigl zur Untermiete. Dessen Jahreseinkommen, bestes Linzer Bildungsbürgertum, betrug etwa 2.800 bis 3.300 Kronen.

Von den Künstlern findet man das Dreigestirn der Silbernen Operette: Franz Lehár versteuerte 193.187 Kronen, Oskar Straus 186.365 Kronen und Leo Fall 121.810 Kronen. Auch Sänger konnten gut verdienen, so der aufstrebende Kammersänger Leo Slezak und die Operndiva Selma Kurz-Halban. Woher die pensionierte Burgschauspielerin und Freundin des Kaisers Katharina Schratt ihr hohes Einkommen bezog, kann man leicht erraten. Ihre Burgtheaterpension betrug etwa 10.000 Kronen. Arthur Schnitzler erreichte seinen minutiös geführten Aufzeichnungen in den Tagebüchern zufolge nie die 100.000er-Grenze. Auch Freud kam bei weitem nicht an ein solches Einkommen heran. Wohl aber hatten eine Reihe berühmter Schriftsteller Millionäre als Väter: Stefan Zweig, Hermann Broch, Heimito von Doderer. Auch mehr als ein Dutzend Universitätsprofessoren und Privatgelehrte konnten mit diversen Zusatzeinkünften in die oberste Liga aufsteigen: die Chirurgen Anton Eiselsberg und Julius Hochenegg, der Augenarzt Ernst Fuchs, die Internisten Karl von Noorden und Adolf von Strümpell und der Neurologe Heinrich Obersteiner. Doch die meisten der Spitzenverdiener unter den Gelehrten bezogen ihr Einkommen aus ihrem Kapitalbesitz: der Altphilologe Theodor Gomperz, der Chemiker Adolf Lieben, der Ökonom Richard Lieben, der Privatgelehrte Robert von Lieben, bekannt als Erfinder der Lieben-Röhre, der damalige Privatdozent und später berühmte Chemiker Dr. Karl Przibram oder auch der weithin vergessene Chemiker Johann Oser, der mit einer Schwester von Karl Wittgenstein verheiratet war.

Gustav Klimt konnte am Höhepunkt seines Ruhms für Landschaften 6000 bis 8000 Kronen verlangen, für Portraits zwischen 10.000 und 30.000 Kronen. Für ein Jahreseinkommen von mehr als 100.000 Kronen reichte es dennoch nicht. Praktisch alle berühmten großen Frauenbilder Klimts wurden von Millionären finanziert: ob Bloch-Bauer, Wittgenstein, Gallia, Munk, Bachofen-Echt, Lederer, Primavesi, Knips oder Friedmann. Es war Kunst für die Superreichen: 1898 malte Gustav Klimt Sonja Knips. Ihr Mann bezog 1910 ein Einkommen von mehr als 900.000 Kronen. Ähnlich situiert war Karl Wittgenstein, der 1905 das Porträt Margarethe Stonborough-Wittgenstein in Auftrag gab. 1907 vollendete Klimt das Porträt Adele Bloch-Bauer, ihr Gatte Ferdinand deklarierte 134.000 Kronen. Das Bild der Emilie Flöge verkaufte Klimt 1908 für 12.000 Kronen an das Niederösterreichische Landesmuseum. 1913 richtete Hoffmann die Wohnung von Moritz Gallia in der Wohllebengasse 4 ein. Er verdiente 1910 184.000 Kronen. In die Wohnung kam das 1904 gemalte Klimt-Porträt von Hermine Gallia.

Als Klimt am 6. Februar 1918 stirbt – er arbeitet gerade am Bildnis Ria Munk, der Tochter des Holzhändlers
Alexander Munk, die durch Selbstmord aus der Welt gegangen war – ist eine ganze Welt im Begriff unterzugehen.

Roman Sandgruber
Prof. Dr. Roman Sandgruber ist Leiter des Instituts für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Johannes-Kepler-Universität Linz. Zu seinen Büchern gehört u.a. der Band „Das 20. Jahrhundert“ in der Reihe Geschichte Österreichs (Pichler-Verlag 2003). Zuletzt erschien „Rothschild: Glanz und Untergang des Wiener Welthauses“ (Molden Verlag, 2018). jku.at