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Die Zukunft des Mediums imDigitalzeitalter

TV – or not TV

Jo Groebel22.05.2012

Gottschalk gibt nach wenigen Wochen seine Live-Sendung wieder auf. Harald Schmidts Show wird abgesetzt. Die ARD-Intendanten erwägen einen Einschnitt bei den Polit-Talks. Kerner hatte es schon vor einiger Zeit erwischt. Selbst die Quoten der Castings sind nicht mehr automatisch Spitze. Man könnte glauben, das Fernsehen und mit ihm seine erfolgsverwöhnten Helden und Formate seien im Niedergang begriffen. Und tatsächlich sitzen zwar die meisten Deutschen immer noch stundenlang vor dem Bildschirm, doch die Position des TV als Leitmedium scheint gefährdet zu sein. Das Internet bietet neue audiovisuelle Inhalte. Filme, Sport, Unterhaltung, Information sind beliebig im Web abrufbar. Synchrones Fernsehen ist also nur noch eine von vielen Rezeptionsmöglichkeiten. Immerhin landeten im April 2012 die Bundesligarechte für mehr als 600 Millionen Euro doch wieder bei Sky, ARD und herkömmlichen Sendern. Der Versuch der Telekom, sie sich für die eigene Web-Plattform und damit für die stärkere Bedeutung der neuen Digitalwelt zu sichern, war gescheitert. Als überraschender Akteur kam „bild.de“ ins Feld und machte mit dem Erwerb der Rechte für Kurzausschnitte ein weiteres Mal die Aufhebung nicht nur der Grenzen zwischen den verschiedenen AV-Medien, sondern auch denen zwischen Text- und Bildangeboten deutlich.  

Wenn man einmal von Quotenüberlegungen und dem Angebotswettbewerb im Markt absieht, gehen traditionelles TV und aktuelle sowie künftige Digitalplattformen jedoch immer mehr ineinander über. Moderne Flachbildschirme bieten USB-Anschlüsse und direkten Internetzugang. PCs, Netbooks, Tablets wie Apples iPad und Smartphones sind fernsehfähig. Es sind heute eher die Nutzungsgewohnheiten und die Senderschemata, die die Unterschiede definieren. Traditionelles zeitgebundenes Fernsehen strukturiert für viele Menschen den Tagesablauf mit Sendungen wie RTL-Aktuell, heute-Sendung und vor allem der Tagesschau als vermutlich immer noch wichtigsten Markierern zwischen Nachmittag und Abend, zwischen Beschäftigung und Entspannung.
Technisch gesehen ist das Fernsehen inzwischen ein höchst flexibles Medium geworden. Die unterschiedlichen Geräte stehen eher für eine dominante Form des Gebrauchs. Der Großbildschirm dient vor allem dem passiven Konsum professionell gemachter Produktionen, noch wird er selten für Arbeit, Interaktion und Amateurvideos eingesetzt. Diese sind vor allem das Metier von PCs und Mobilmedien. Doch spätestens, wenn auf einer Fernbedienung die unterschiedlichen Modi zusammenkommen, man zum Beispiel TV-Sender, YouTube und Social Media wie Facebook gleichwertig anordnet, werden auch in der Nutzung die Übergänge fließend werden. Gerade das „Teilen“ von Inhalten mit vielen anderen im Sinne von begeisterter oder entrüsteter Mitteilung und Kommentierung laufender TV-Sendungen über das digitale Sozialnetzwerk hinweg dürfte eine der wichtigsten Verbindungsstücke zwischen „altem“ und „neuem“ Fernsehen werden.
Beide, herkömmliche und aktuell-künftige TV-Entwicklung lassen sich dann entlang einiger psychologischer und sozialer Aspekte fassen.

Physiologie

Am Anfang und am Ende jedweden Medienkonsums stehen physiologische Prozesse. Fernsehen dürfte trotz aller wichtigen informativen und aufklärerischen Funktionen vor allem ein Medium der Anregung und der Unterhaltung sein. Wir reagieren auf Bild- und Tonreize, wir erhoffen uns von den meisten Inhalten irgendeine Art von Entspannung. Selbst Nachrichten und Dokumentationen bergen neben dem Wissensaspekt angenehme Elemente. Auch die Aufregung über politische Ärgernisse wirkt sich körperlich aus, bekanntermaßen sind es gerade die sogenannten Lieblingsfeinde, die zum Motivraster der Zuschauer gehören.

Nichts ist schöner, als zu merken, dass das innere Erregungsniveau nach oben steigt, wenn wieder einmal ein unbeliebter Politiker oder eine verachtete Bildschirmschönheit auftaucht.  Hier setzt bereits die Daseinsberechtigung für professionell gemachtes herkömmliches Fernsehen an. Erst durch lange Erfahrung und eine fundierte Ausbildung wissen Redakteure, Produzenten und Regisseure und nicht zuletzt die Schauspieler, wie sie uns an den fundamentalsten Reflexen anzusprechen haben. Zwar sind mittlerweile auch die mit dem Fernsehen aufgewachsenen Normalbürger schon recht gut in der Lage, spannende kurze Videos herzustellen, doch spätestens die große Form, eine komplizierte Abendshow oder jeder Spielfilm leben von der Kenntnis, wie man Spannungsbögen aufbaut und zu einer Gesamtkomposition zum Ergötzen der Nutzer einsetzt. Am deutlichsten wird diese Funktion, wenn man den Einsatz der sogenannten Special Effects betrachtet. Sie nutzen das dem Profi bekannte Prinzip, dass wir auf schnelle Veränderungen von visuellen oder auditiven Signalen mit sofortiger Aufmerksamkeit reagieren. Diese Reaktion entstammt unserem archaischen Erbe, unsere Vorfahren mussten auf Gefahrenreize mit sofortiger Fluchtbereitschaft reagieren. Der davon erhaltene angenehme Nervenkitzel ist eines der Hauptmotive dafür, dass jedenfalls die Großform spannender Sendungen immer für uns interessant bleiben wird. Anders gesprochen: Sich passiv unterhalten zu lassen und etwas erzählt zu bekommen, macht das Fernsehen immer noch aus. In der interaktiven Welt haben wir natürlich die Möglichkeit, uns durch eigene Initiative ähnliche Anregungen zu verschaffen, doch sind sie immer noch nicht mit den gut gemachten Profiprogrammen zu vergleichen.

Emotion und Information

Eng verwandt mit den physiologischen Prozessen sind die emotionalen. Hier bewegt sich der Nutzer im Bereich der inhaltlichen Ausprägung der zuvor gemachten körperlichen Erfahrungen. Wir bauen Bindungen zu Moderatoren und Darstellern auf, selbstverständlich natürlich auch zu den Gesprächspartnern in den sozialen Netzwerken. Auch hier gilt wieder das Professionalitätsprinzip. Ob wir jemanden in einem Film mögen oder verabscheuen, ob wir uns mit ihm oder ihr identifizieren oder ihm oder ihr nur Schlechtes wünschen, hängt von der Fähigkeit zum guten Schauspiel ab. Hier ist das Fernsehen nichts anderes als eine nach wie vor in die Wohnstube kommende besondere Form des klassischen Theaters, egal ob wir sie als gut oder schlecht bewerten. Bindungen entstehen natürlich auch in nicht-TV-bezogenen Digitalangeboten, längere Geschichten aber sind das Metier des Fernsehens; erst recht, wenn man an so gut gemachte Langzeitproduktionen wie die „Sopranos“, „Damages“, Tatort oder „Mad Men“ denkt. Das Fernsehen bleibt der Gefühle ansprechende Geschichtenerzähler für den Hausgebrauch.

Viele haben das Ende der herkömmlichen Nachrichtenmedien, wie TV oder Zeitungen vorhergesagt. Angeblich würden sie zunehmend ersetzt durch die sozialen Netzwerke wie Facebook oder Twitter. Nun ist zwar mit diesen Plattformen zusammen mit mobilen Geräten eine flächendeckende Infrastruktur der Berichterstattung von Jedem und für Jeden entstanden, doch erkauft man sich die größere Authentizität mit einer potentiell geringeren Verantwortbarkeit. Gerade die Web-Bilder aus Kriegsgebieten machen immer wieder das Dilemma deutlich. Was ist echt, was ist manipuliert? Auch hier muss man eine Lanze für den herkömmlichen Fernsehjournalisten brechen. Eingebettet in professionelle Ausbildung, dramaturgisches Können, Berufsethos und Identifizierbarkeit, gewährleistet er oder sie erst endgültig glaubwürdige Information.

Soziale Funktion

Fernsehen bleibt trotz sinkender Quoten und immer mehr Angeboten anders als die meisten anderen Digitalformen ein echtes Massenmedium. Einerseits greift es Themen und Trends aus dem Netz auf, zusammen mit anderen Massenmedien wie Presse und Radio entfaltet sich aber die Wirkung flächendeckend erst durch die synchrone Ausstrahlung einem Millionenpublikum gegenüber. Große Sportereignisse, Tagesaktuelles, Stars definieren vermittelt durch das Fernsehen, was Menschen interessiert und womit sie sich beschäftigen. Die sogenannte Thematisierungsfunktion des Fernsehens ist dabei noch entscheidender als eine Veränderung vorhandener Einstellungen. Die Skandale der jüngsten Zeit wie die Diskussionen rund um den Miister zu Guttenberg oder Bundespräsident Wulf mögen einen hohen Anteil an Webdiskussion gehabt haben, doch Zeitung und besonders Fernsehen haben schließlich das große Publikumsinteresse bis hin zum jeweiligen Rücktritt geprägt.

Wertekonsens

Schließlich wird durch die Veränderungen der Fernsehinhalte auch immer wieder gespiegelt, welche Normen und Werte unsere Gesellschaft zusammenhalten. Es waren und sind Filme, Shows und Serien, die mit reflektieren, welchen Orientierungen wir folgen. Auch hier kann man zwar keine Trennung zwischen den informellen Abläufen im Netz und den redaktionell bearbeiteten Angeboten vornehmen, doch sind es die von vielen, ja allen diskutierten Inhalte und Lebensformen, die im Fernsehen präsentiert werden, die zu den großen Plattformen des sozialen Diskurses werden.

Technisch wird die Trennung zwischen dem Fernsehen als traditionellem Gerät und neuen Digitalplattformen immer mehr aufgehoben. Inhaltlich wird das Fernsehen als Medium des Erzählens bestehen bleiben. 
Jo Groebel
Professor Dr. Jo Groebel ist seit 2006 Direktor des „Deutschen Digital-Instituts“ Berlin. Zuvor war er Generaldirektor des Europäischen Medieninstituts Düsseldorf/Paris (1999–2006). Er ist Herausgeber und Autor zahlreicher Bücher zu den Themen Digitalisierung, Internet-TV und Mobile Media. deutsches-digital-institut.de