Titelthema: Wald
Wald und Wild oder Wald vor Wild? Eine forstpolitische Gretchenfrage
Seit Jahrzehnten streiten Förster, Jäger und Naturschützer über den richtigen Jagddruck in den Forsten. Da es dem einheimischen Wald noch nie so gut ging wie heute, sollte die Fortsetzung des Konflikts hinterfragt werden.
Zum Heiligabend 1971 legte der Journalist und Naturexperte Horst Stern den Deutschen ein ganz besonderes Päckchen unter den Weihnachtsbaum. In seiner Dokumentation „Bemerkungen über den Rothirsch“ berichtete er über die Probleme des deutschen Waldes mit dem größten einheimischen Wildtier.
Cervus Elaphus, so Stern, fresse die Triebe ab, zerbreche mit seinem Geweih die jungen Bäume und schäle deren Rinde. Die Folge seien riesige ökonomische und ökologische Schäden. Doch dies sei weniger die Schuld des Rothirsches als vielmehr ein Versagen des Menschen. Durch Trophäenkult und Überhege versage der Jäger als Regulativ des Wildes.
Um die Bäume zu retten, müssten die Bestände dringend auf ein verträgliches Maß reduziert werden. Prompt dramatisierte seinerzeit der Spiegel: „Horst Stern fordert Massensabschuss“. Seit dieser Weihnachtssendung ist das Schlagwort vom sogenannten „Wald-Wild-Konflikt“ niemals zum Erliegen gekommen.
Hintergründe eines Konfliktes
Tatsächlich handelt es sich nicht um einen Konflikt zwischen Wald und Wild, sondern um einen Konflikt unter Menschen mit unterschiedlichen Betriebszielen. Leidenschaftliche Förster liegen im Streit mit Jägern, die sich als Wildfreunde sehen. Die einen engagieren sich heute im Ökologischen Jagdverband (ÖJV) oder der Arbeitsgemeinschaft naturnahe Waldwirtschaft, die anderen halten es mit dem Deutschen Jagdverband (DJV).
Kaum eine Jagdzeitschrift wird gedruckt, ohne dass Problem Wildbestand und Schälschaden thematisiert wird. Und stets mahnen die Kritiker der klassischen Jagdpolitik erhöhte Abschüsse als waldbauliches Mittel der Wahl an.
Ungeachtet dieser Streitigkeiten wächst der deutsche Wald jedoch munter weiter. Nachdem man ihm Anfang der 80er Jahre noch das Sterbeglöcklein läutete, wofür neben dem sauren Regen auch der Wildverbiss als Begründung herangezogen wurde, ist der aktuelle Waldzustand so gut wie noch nie. Niemals waren die deutschen Wälder so vorratsreich, die Naturverjüngung so üppig wie heutzutage.
Wer nun glaubt, ein Massenabschuss des Rotwildes sei für derartige Erfolge verantwortlich, der irrt. Tatsache ist, dass es noch nie so viele Wiederkäuer im deutschen Wald gegeben hat. Zu Sterns Zeiten erlegten die deutschen Jäger ca. 40.000 Stück Rotwild, heute sind es knapp 70.000, die Rehwildstrecke sprang von 600.000 auf das Doppelte.
Doch wie gehen forstliche Erfolge einerseits und hohe Wildbestände andererseits zusammen? Der Hintergrund liegt in einer veränderten Jagdstrategie im Wald. Während früher an nahezu 365 Tagen im Jahr das Wild bejagt wurde, konzentrieren sich Waldbauern und Förster heute auf großräumige Bewegungsjagden oder auf sogenannte Jagdintervalle. In kurzer Zeit wird dabei viel Strecke gemacht, der Jagddruck und deshalb auch der Energiebedarf des Wildes werden dadurch gesenkt. Gleichzeitig bieten die umliegenden Ackerflächen durch Anbau von Energiepflanzen wie Raps und Mais eine noch nie gekannte Äsungsressource, die den Wald zusätzlich entlastet. Das sogenannte „Greening“, die Nutzung von Agrarflächen durch Zwischenfrüchte oder Dauergrünland, verringert den Druck auf den Wald zusätzlich.
Pragmatisches Miteinander
Es wäre nun Zeit, den anhaltenden Streit zwischen Wild- und Forstfreunden endlich zu begraben und ein pragmatisches Miteinander von Wald und Wild zu propagieren. Beides ist Natur, beides erfreut uns, beides hat eine Zukunft, nicht gegen-, sondern miteinander.
Doch das zu vermitteln, bleibt schwierig. Wie sagte schon der Nestor der Ökologie, Aldo Leopold: „Der Umgang mit Wildtieren ist eigentlich einfach, schwierig ist der Umgang mit den dazu gehörenden Menschen.“
der Beratung von Stiftungen das Jagdrecht. 2015 erschien seine Streitschrift „Tiere essen dürfen – Ethik für Fleischfresser“ (Verlag Neumann-Neudamm). neumann-neudamm.de