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Der Leselotse geht von Bord

Rotary Aktuell - Der Leselotse geht von Bord
Amtsübergabe in engem Kontakt: Helmut Falter (links) und Michael Bülhoff sind sich einig, wie „4 L“ weiterentwickelt werden muss. © 4 L

Nach 18 Jahren übergibt der Gründer des Projekts „Lesen lernen – Leben lernen“ (4 L) Helmut Falter die Leitung an Past-Gov. Michael Bülhoff.

01.02.2022

Auf dem Tisch zwischen Kaffeetassen und Wasserkaraffe das Rotary-Verzeichnis sowie Titel aus dem „4 L“-Programm, Entwürfe für Logos und neue Buchcover: Wir sind zu Gast im Aachener Büro von Helmut Falter, der uns zu einer Besprechung mit seinem Nachfolger Michael Bülhoff dazugeladen hat. Die Stimmung ist entspannt: Beide freuen sich über einen harmonischen Übergang nach 18 erfolgreichen Jahren.

Herr Falter, Sie haben mit der Idee, kindgerechte Lesebücher jeweils klassenweise in Schulen zu verschenken, das größte deutsche Gemeindienstprojekt aufgebaut. Weit über eine Million Bücher wurden bisher verteilt, und die Dynamik ist noch immer ungebrochen. Mit welchen Gefühlen trennen Sie sich von Ihrem Herzensprojekt, das Sie so viele Jahre lang auf Trab gehalten hat?

Falter: Ich bin sehr beruhigt, dass wir in Michael Bülhoff einen Nachfolger gefunden haben, der unser Projekt „4 L“ mit Elan weiterführen wird. Es ist eine großartige Arbeit, aber sie verlangt enormen Einsatz. Zwar gibt es viel Unterstützung, etwa durch den Rotary Deutschland Gemeindienst e. V. (RDG) und den Buch Verlag Kempen (BVK), aber die Hauptlast lag doch auf meinen Schultern. Und mit 87 ist es sicherlich nicht zu früh, über eine geordnete Nachfolge nachzudenken.

Bülhoff: Wir verdanken Helmut Falter eine Leistung, die weit über den üblichen Projekteinsatz hinausgeht. Dank seiner Initiative kommen viele Tausend Kinder direkt mit einer Welt in Kontakt, die ihnen von Hause aus verschlossen bleibt. Für mich ist es eine Ehre, diese Arbeit fortzusetzen – und natürlich auch eine reizvolle Herausforderung. Auch wenn ich nicht aus der Buchbranche komme, habe ich eine professionelle Beziehung zum Lesen. In der Sprachtherapie spielt Lesen eine zentrale Rolle als Begleitmaßnahme, um die Folgen von Sprachstörungen aufzuarbeiten.

Schauen wir kurz zurück auf die Anfänge. Was hat Sie  damals auf das Projekt gebracht?

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Alina aus der 3a wandte sich direkt ans Schulamt, um klarzumachen, was sie von dem Leseprojekt hält. © Axel Goeke (Prisma Color Aachen)

Falter: Mein Aha-Erlebnis war das katastrophale Ergebnis der ersten Pisa-Studie zu den Leseleistungen unserer Grundschüler. Da wollte ich ansetzen, dachte aber zunächst gar nicht an ein längerfristiges Projekt. Zwei, drei Jahre vielleicht könnte man Clubs dafür begeistern, so dachte ich als alter Rotarier. Andererseits funktioniert Leseförderung nur, wenn sie langfristig angelegt ist, jedenfalls über die vier prägenden Grundschuljahre. Offensichtlich war die Idee dann doch überzeugender, als ich befürchtet hatte. Wir hatten seit 2004 kein Jahr mit einer Flaute, sondern eine dynamische Aufwärtsentwicklung. Man muss sich dazu vor Augen halten, dass das ein sehr niederschwelliges Projekt für einen Club ist. Ein Lektüre-Klassensatz kostet gerade einmal 70 Euro inklusive Porto und Lehrerheft und erreicht damit schon mal 25 wissbegierige Kinder.

Mit Monika Schröder, einer Inner Wheelerin und Grundschullehrerin hier aus Aachen, entwickelte ich
ein Konzept, in dem unsere Lektüre den Lehrplan nicht ersetzen, sondern ergänzen sollte. Denn es geht nicht
um die technische Lesefähigkeit, sondern um das Lese-Sinn-Verständnis, also um die Erschließung von Sinnzusammenhängen, die nicht unbedingt auf der reinen Textebene erkennbar werden. Mit diesem Konzept gingen wir dann auf die Suche nach Verlagen mit passenden Büchern.

Und wie kam das bei den Kindern an?

Falter: Wir wurden geradezu überrollt von Briefen begeisterter Schüler, die nicht nur einfach ein Buch gelesen hatten, sondern die behandelten Themen zu Literaturprojekten weiterentwickelten. Dazu sollen die didaktischen Begleithefte für die Lehrer anregen, sei es zu Rollenspielen, Bastelarbeiten, Collagen und so weiter. Dieser Wunsch der Kinder, in eine fremde Welt ganz einzutauchen, etwa als Clown in der Geschichte Spaß im Zirkus Tamtini, macht eigentlich erst den Mehrwert der Lektüre deutlich: Die Kinder lernen auch verschiedene Lebenswirklichkeiten kennen. Deshalb auch die Dualität im Motto: Lesen lernen – Leben lernen.

Bülhoff: Wenn ich das mal in die Zukunft weiterdenken darf, dann kommen verstärkt Themen auf uns zu, die es eventuell noch nicht in Buchform gibt, sondern die als Auftragsarbeiten über unseren Verlag BVK erst geschrieben werden müssen. Die Rückmeldungen der Kinder zeigen uns die Themen, um die es ihnen geht. Ein aktueller Einstieg in dieser Richtung ist Fiete Hering – Abenteuer im Müllmeer für die zweite Klasse. Hier steht die Umweltverschmutzung im Vordergrund. 

Welche anderen Akzente wollen Sie setzen?

Bülhoff: „4 L“ ist eine Erfolgsgeschichte, die bisher rund 600 Clubs mitgeschrieben haben. Mehr hat kein anderes Projekt in Deutschland, wenn man mal von der Polio-Kampagne absieht. Trotzdem müssen wir sowohl in Richtung Schule als auch in Richtung Clubs neu planen. Wenn heute 600 Clubs mitmachen ...

Falter: ... die übrigens in der großen Masse seit vielen Jahren treue Unterstützer sind ...

Bülhoff: ... dann gibt es immer noch über 400, die wir auch noch gewinnen wollen. Das setzt ein ausgefeiltes Marketingkonzept voraus. Das Ziel ist: Wann immer ein Club eine Lücke in seinem Projektportfolio entdeckt, muss ihm „4 L“ als Lösung einfallen. In Richtung Schüler sehe ich die Notwendigkeit, jeweils zwei Lektüreangebote pro Klasse zu machen. Neben den Büchern mit bestimmten Problemstellungen wie eben Umweltverschmutzung muss es auch Titel geben, die zum Abtauchen in Erlebniswelten einladen. Lesen soll doch vor allem Spaß machen.

Falter: Michael hat da meine volle Unterstützung und in den vergangenen drei Monaten schon gewaltig vorgelegt. Er hat ein Logo entwickelt und platziert auch das Rotary-Rad jetzt ganz bewusst auf den Buchtitel. Das ist genauso richtig wie seine Idee, mehrere Rotary Clubs in einzelnen Städten, die bisher nicht dabei sind, gemeinsam für „4 L“ zu gewinnen und damit dort eine möglichst große Abdeckung zu erreichen. Die alte Buchhandelsstadt Leipzig wird die erste Fallstudie dazu liefern.

Bülhoff: Parallel dazu müssen wir auch an die Schulverwaltungen herangehen. Es wäre gut, wenn die Schulen auch von dieser Seite auf unser Angebot angesprochen werden. Wenn ein Schulrat beim Clubpräsidenten anruft, hat das sicherlich noch mal einen anderen Stellenwert, als wenn wir auf die Clubs zugehen. Weitere Ideen, die unser Projekt nachhaltig bekannt machen sollen, sind Medienpartnerschaften, Büchertische in Schulen, Preisausschreiben für die Kinder und anderes mehr. Ich denke auch längerfristig an eine Ausweitung in Richtung Österreich, Schweiz und Liechtenstein.

Falter: Ich muss gestehen, dass aktive Werbung für mich nie ein Thema war, das Projekt wurde ja von selbst immer erfolgreicher. Trotzdem ist es natürlich richtig, neue Wege zu gehen und neue Mitstreiter zu gewinnen.

Wie sieht es bei der Zielgruppe aus? Bleibt es beim Schwerpunkt auf Grundschüler der Klassen 1 bis 4?

Falter: Wir hatten ja schon länger auch Angebote für die Klassen 5 bis 7, aber nicht mit vergleichbarem Erfolg. Trotzdem werden wir diese Altersgruppe im Blick behalten, auch wenn die jungen Leute bereits anderen Interessen zuneigen. Die entscheidende Prägung aufs Lesen erfolgt in den ersten Schuljahren. Dort sitzt unsere Hauptzielgruppe.

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Zur neuen Marketingstrategie gehören die Logos auf dem Buchcover © 4 L

Bülhoff: Wir werden die Perspektive in sozialer Hinsicht neu ausrichten. Die Frage muss sein: Wen wollen wir erreichen? Die Antwort verlangt eine Differenzierung: Wir müssen uns nicht um die Akademiker-Kinder sorgen, die von Haus aus eine enge Bindung ans Buch haben, und auch nicht um die Mittelschicht, die ebenfalls weiß, wie wichtig Lesekompetenz ist. Unser Fokus muss verstärkt das untere Drittel der Gesellschaft anvisieren, darunter die Kinder aus Migrantenfamilien, die auch über das Lesen in den gesellschaftlichen Diskurs integriert werden. Chancengleichheit zu schaffen ist eine Idee, die eigentlich jede Rotarierin, jeden Rotarier begeistern müsste.

Es geht also um weit mehr als das Lesen an sich?

Bülhoff: Ja, aber das wird das Konzept nicht verwässern. Wir bleiben bei unseren vier L. Und wir werden weiterhin alle Kinder einer Klasse mit Büchern versorgen. Aber wir sehen auch die Notwendigkeit, das Thema Lesen stärker in die öffentliche Diskussion zu bringen. Unser Beitrag dazu wird bald nicht mehr auf Lehrer, Kinder und Eltern beschränkt bleiben, sondern auch Buchliebhaber und Buchkunden ansprechen. Dazu arbeiten wir an einer Kampagne mit Spendenboxen, die in den Thalia-Filialen für unser Projekt Geld sammeln. Warum sich ein Großkonzern für Rotary starkmachen sollte, ist keine Frage: Wir tragen mit „4 L“ dazu bei, dass die Leser nicht aussterben. Das macht uns zu einem interessanten Partner.

Das Gespräch führte Matthias Schütt


Lesen lernen – Leben lernen

Nur ein Mal hat sich Past-Gov. Helmut Falter (RC Aachen-Frankenburg) geirrt bei seinem „4 L“-Projekt: als er dachte, das Interesse der Rotary Clubs würde nach einigen Jahren versiegen. Das Gegenteil ist der Fall: Es wuchs jedes Jahr weiter, inzwischen sind über 600 Clubs engagiert. Auch die Zahlen der an Schulklassen überreichten Bücher stiegen steil an. Ende 2019 konnte mit dem damaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, das millionste Buch gefeiert werden. Ohne Falters Netzwerk, das er als langjähriger Chef der Mayerschen Buchhandlung in Aachen geknüpft hat, wäre der Erfolg nicht möglich geworden. Er nutzte seine Kontakte zu Verlagen, um an die besten (und preiswertesten) Lesebücher für Kinder zu kommen. Inzwischen gibt es einen pädagogischen Verlag als ständigen Buchpartner. Nach 18 Jahren übergibt Falter (87) die Projektleitung an Michael Bülhoff (RC Oberhausen). Der 67-Jährige ist Diplom-Sprachheilpädagoge und hat viele Jahre eine eigene Praxis für Sprachtherapie geführt.