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Der Grad der Digitalisierung an deutschen Schulen muss besser werden. Vor allem aber müssen die Lehrenden wissen, wie sie digitale Angebote systematisch nutzen.
Schule, Digitalisierung und Mediengebrauch sowie Kinder- und Jugendgesundheit stellen Themengebiete dar, in denen sich eine Vielzahl von sich oft widersprechenden Meinungen und Handlungsempfehlungen tummelt. Der vorliegende Beitrag möchte, ausgehend von einigen Grunddaten und Beobachtungen aus der Perspektive der Jugendforschung, eine Reihe grundsätzlicher Zusammenhänge zwischen diesen Themengebieten darlegen und daraus Vorschläge für hier ebenfalls grundsätzlich zu bedenkende Leitlinien insbesondere zukünftiger Bildungspolitik und -praxis ableiten. Es handelt sich vorliegend bewusst um einen zugespitzt vorgetragenen Denkanstoß und nicht um eine Detailanalyse in einem der vielen davon berührten Spezialgebiete.
Ausgangspunkt: die digitale Jugend
Die heutige Jugend wird in einer alltagsdigitalisierten Welt groß. Allenfalls die ältesten, über zwanzig Jahre alten Jugendlichen haben noch eine frühe Jugendphase ohne permanenten – das heißt: mobilen – Internetzugang erlebt. Wenngleich das Internet im Alltag der Jugendlichen allgegenwärtig ist, lassen sich dabei jedoch ganz unterschiedliche Nutzungstypen identifizieren, mit deutlichen Unterschieden vor allem nach Geschlecht und sozialem Status. So sind etwa Jungs deutlich häufiger zum „Gamen“ im Internet, während Mädchen deutlich häufiger Inhalten von interessanten Menschen oder Prominenten folgen. Bei der Nutzung für Schule, Ausbildung und Beruf fällt auf, dass ein Viertel der Jugendlichen aus der oberen Schicht das Internet mehrmals täglich für diesen Zweck verwendet, aber nicht einmal jeder Zehnte aus der unteren sozialen Schicht. Mit weitem Abstand die häufigsten Tätigkeiten von Jugendlichen insgesamt im Internet sind die Nutzung von Messengerdiensten wie etwa WhatsApp, von sozialen Netzwerken sowie das Herunterladen beziehungsweise Hören von Musik. Für mehr als zwei Drittel aller Jugendlichen bietet dabei das Smartphone den Hauptzugang zum Internet, für knapp ein Fünftel sind es Laptop, Notebook oder Tablet. Nur bei den männlichen Jugendlichen spielt der Desktop-PC hier überhaupt noch eine nennenswerte Rolle (als Gaming-PC).
Digitalisierung an Schulen
Dass deutsche Schulen bei der Digitalisierung hinterherhinken ist ein Gemeinplatz. So zutreffend die diesem Gemeinplatz zugrunde liegenden Diagnosen auch weitgehend sein mögen, so falsch wären dabei die Vorstellung und ein Vertrauen darauf, dass nur die richtigen Angebote bereitgestellt werden müssten, um bei einer sowieso bereits durchdigitalisierten und damit aufnahmebereiten Jugend dann auf fruchtbaren Boden zu fallen. Digitalisierung betrifft Lehr- und Lernformen, Lehrinhalte und technische Infrastruktur mit je eigenen, dabei aber untereinander eng verknüpften Herausforderungen. Hinsichtlich der Lehrformen besteht heute kein Mangel an Angeboten und Konzepten, schulisches Wissen auch über Online-Plattformen und entsprechende weitere digitale Formate aufzubereiten und zu vermitteln. Diese werden in den Schulen jedoch nicht nur ungenügend genutzt, auch die Lehrkräfte sind im Umgang mit diesen Lehrformen kaum geschult. Bis heute spielen sie im Lehramtsstudium bestenfalls eine nachrangige Rolle. Die Schulschließungen im Zusammenhang mit der Coronakrise haben die Wirkung, dass die Einführung digitalisierter Lehr- und Lernformen an Schulen im Schockverfahren geschieht. Man mag dies im Sinne eines unerwarteten Schubs für die hinterherhinkende Digitalisierung an Schulen einerseits begrüßen. Andererseits steht aufgrund der flächendeckend mangelnden Erfahrung von Lehrkräften und Schulleitungen mit diesen Lehr- und Lernformen zu erwarten, dass es hier zunächst zu einer Zersplitterung in der Digitalisierungspraxis kommen wird und Erfolge hier noch mehr als anderswo von den Zufällen der Quote an einschlägig vorgebildeten und engagierten Mitgliedern des Lehrkörpers abhängen.
Eine noch so gut gemachte Einführung digitalisierter Lehr- und Lernformen nutzt dabei wenig, wenn entsprechende technische Infrastruktur fehlt. Dies betrifft dabei nicht nur die Seite der Schulen, sondern insbesondere auch die Seite der Schülerinnen und Schüler. Zwar mögen die Displays von Smartphones tendenziell immer größer werden: Trotzdem reichen fünfeinhalb Zoll weder für das konzentrierte und strukturierte Lesen anspruchsvoller längerer Texte noch für die Nutzung anspruchsvoller Lernplattformen aus. Mittel der Wahl bleibt hier momentan der Lap- oder Desktop, über den jedoch nur etwa zwei Drittel der Jugendlichen selbst verfügen.
Dabei stellt die Nutzung der entsprechenden Geräte auch eine Herausforderung für die an den Schulen im Zuge der Digitalisierung zu vermittelnden Inhalte dar. Die Vermittlung grundlegender Computer- und Computeranwendungskenntnisse erfolgt an Schulen nur punktuell, sie gehört aber systematisch in Lehrplänen verankert (dass sie dort weitgehend fehlen, können Lehrende an Hochschulen mühelos anhand der Qualität der Ergebnisse dokumentieren, die Erstsemester mittlerweile beim Versuch des Formatierens von Hausarbeiten in Textverarbeitungsprogrammen erzielen).
Ganz gleich, wie Digitalisierung an Schulen gestaltet wird: Zentral bleibt der unmittelbare physische Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden. Nur scheinbar paradoxerweise werden dabei im Zeitalter der Digitalisierung die Anforderungen an Leistungen, die Schule bei der Vermittlung „analoger“ sprachlicher und literaler Kompetenzen zu erbringen hat, höher anstatt niedriger. So ist die Schule für viele Jugendliche der einzige Ort, an dem noch eine Begegnung mit einem gedruckten Buch (und das meint hier: einschließlich E-Book auf einem dafür geeigneten Bildschirm gelesen) stattfindet. Dass das gedruckte Buch nicht nur insgesamt und bei Jugendlichen, sondern insbesondere auch bei Lehramtsstudierenden den Rückzug angetreten hat, verdeutlicht hier vor allem, wie tief die Problematik mittlerweile reicht. Vorliegend geht es bei dieser Problematik dabei weder um ein Lamento über den Verlust des gedruckten Buches als jahrhundertelangem Kulturgut, noch geht es darum, eine „digitale“ gegen eine „analoge“ Welt auszuspielen. Vorliegend geht es einzig und allein darum, Jugendlichen auch den Umgang mit „alten“ Medien nahezubringen, die wiederum ihre spezifischen Herausforderungen an Textverständnis und Arbeitskonzentration stellen, entsprechend aber auch die Einübung einschlägiger Fertigkeiten ermöglichen.
Gesundheit und Digitalisierung
Der vorhergehende Absatz endete bewusst mit einer Beobachtung, die hinsichtlich der gesundheitlichen Implikationen der Digitalisierung allgemein und an Schulen als eine Unterstellung gewertet werden könnte. Zugespitzt formuliert: Digitalisierung meint Reizüberflutung, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, mehr Daddeln auf dem Sofa als Bewegung. In der guten alten analogen Welt konzentriert man sich hingegen auf ein Buch und treibt Sport. Diese Zuspitzung wurde aber bewusst so gewählt, um zu verdeutlichen, wie wenig pauschalisierende Entgegensetzungen der Komplexität der Sache gerecht werden. Ohne hier auf die bemerkenswerte Bandbreite der Meinungen zur Frage eingehen zu können, ab wann welcher Gebrauch digitaler Medien als pathologisch einzustufen ist: Fest steht, dass dieser Gebrauch gesundheitliche Risiken birgt, die stark nach Nutzungsart und -dauer sowie nach einer Reihe persönlicher Faktoren variieren. Auch unterhalb der Schwelle von Suchtverhalten kann die Reizüberflutung durch elektronische Medien und kann die Art und Dauer ihrer Nutzung zu Konzentrationsschwächen und Schlafstörungen führen. Ein möglicherweise auf eine zu intensive Nutzung digitaler Medien zurückzuführender Mangel körperlicher Ausgleichsbetätigung begründet weitere indirekte Gesundheitsrisiken.
All dies sind kaum bestreitbare Punkte. Allein: Sie haben mit der Digitalisierung an Schulen nicht notwendigerweise etwas zu tun, solange sich diese an einigen wenigen, aus den oben angeführten Überlegungen fast schon notwendig folgenden Orientierungspunkten ausrichtet. Als eine Art „goldene Regel“ erscheint dabei, Digitalisierung an Schulen so zu gestalten, dass digitale Angebote nicht ad hoc, sondern regelmäßig in schulische Abläufe integriert werden und dabei einen eigenständig erfahrbaren Lehr- und Lernraum darstellen, der einen in wichtigen Punkten ebenfalls zu stärkenden „analogen“ Lehrbetrieb sinnvoll ergänzt, aber keinesfalls verdrängt oder – der Worst Case – stört. Wohlverstandene Digitalisierung in der Schule meint in diesem Sinne die systematisch geplante Nutzung von Online-Plattformen, entsprechenden Kommunikations- und Medienangeboten, Inhalten etc.; sie setzt eine entsprechende Kompetenz auf Seiten der Lehrenden und eine systematische Verankerung in den Lehrplänen voraus; sie erfordert die Verfügbarkeit und Nutzungskompetenz entsprechender technischer Infrastrukturen aufseiten der Schulen wie der Schülerinnen und Schüler. Digitalisierung an Schulen in diesem Sinne heißt insbesondere nicht, digitale Medien lediglich als Zusatz und dann mitunter als reine Verstärkung typischen und in seiner Intensität auch gesundheitliche Risiken bergenden Nutzungsverhaltens einzusetzen. Also etwa kein Einsatz von Smartphones als Quelle zur Informationsbeschaffung im Unterricht, keine Messengerdienste als bedeutsames Kommunikationsmittel zwischen Lehrenden und Lernenden, oder aber das Streamen von Videos (statt etwa Nutzung der Zeit auf digitalen Plattformen zur Stoffaufbereitung) zur Zeitüberbrückung in Vertretungsstunden.
Es bleibt eine Mammutaufgabe
Eine derart verstandene Digitalisierung an Schulen beinhaltet großes Potenzial. Sie erfordert jedoch auch enorme Kraftanstrengungen nicht nur an den Schulen, sondern etwa auch in der Ausbildung der Lehrkräfte. Insofern sie, gut gemacht, einer Diversifizierung von Arten und Zeiten der Internetnutzung Vorschub leistet, erschiene sie geeignet, mit der Internetnutzung verbundene Gesundheitsrisiken eher zu mindern als zu steigern. Allerdings sind deutsche Schulen von einer systematisch geplanten und vorbereiteten Digitalisierung noch sehr weit entfernt. Es bleibt zu hoffen, dass der durch die Schulschließungen im Zuge der Corona-Krise erzwungene Crashkurs in Sachen Digitalisierung hier einen Anstoß für entsprechende Kraftanstrengungen geben kann und nicht als Strohfeuer verpufft.
Prof. Dr. Mathias Albert ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bielefeld und seit 2002 einer der Leiter der Shell Jugendstudien.
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