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Heimatlose Trauer
Die Bestattungskultur ist so alt wie die Menschheit selbst und seit jeher im Wandel. Doch wenn unsere Parkfriedhöfe verschwinden, gehen lebendige Trauerorte und Räume der tröstlichen Begegnung verloren.
Alle Menschen sind sterblich. Diese unumstößliche Wahrheit hat zur Konsequenz, dass die Menschen aller Zeiten vor der Herausforderung stehen, mit ihren Toten umzugehen. Tatsächlich sind im Laufe der Geschichte die unterschiedlichsten Bestattungsformen und -orte gefunden worden. Leichen werden verbrannt, vergraben, im Wasser versenkt, in Höhlen eingemauert, in Pyramiden beigesetzt oder – wie bei der sogenannten „Himmelsbestattung“– den Geiern zum Fraß gegeben.
Der in Deutschland so vertraut erscheinende Parkfriedhof ist tatsächlich eine recht „junge“ Erfindung. Jahrhundertelang wurde die Bestattung anders geregelt. Menschen wurden in Kirchen und auf Kirchhöfen beigesetzt. Das Vorbild für die Bestattung in der christlichen westlichen Welt war die Bestattung Jesu, der präferierte Ort die Kirche oder der Kirchhof. Allerdings stand nur den Vornehmen ein Einzelgrab zu. Alle anderen Toten wurden (so wie auch Wolfgang Amadeus Mozart) anonym in Massengräbern auf dem Kirchhof beigesetzt, oft auch ohne geistliche Begleitung. Die katastrophalen hygienischen Zustände durch diese Massengräber sollten durch Friedhöfe außerhalb der Stadtmauern vermieden werden. Der erste Parkfriedhof entstand so 1803 in Mainz. Der Mainzer Bürgermeister Jeanbon St. André befolgte damals die napoleonische Bestimmung, dass Gräber nicht mehr unter kirchlicher, sondern staatlicher Aufsicht stehen und Bestattungen aus hygienischen Gründen nur außerhalb der Stadt stattfinden durften. Revolutionär war, dass nun jedem Bürger ein Einzelgrab zur Verfügung stand.
Dann kam die Feuerbestattung
Die neue Erfindung des Parkfriedhofs fand schnell Anklang. Johann Wolfgang von Goethe, der ein sicheres Gespür für interessante Neuerungen hatte, ließ schon 1809 in seinem Roman Die Wahlverwandtschaften durch die Hauptfiguren des Romans einen Parkfriedhof anlegen. Goethe geht noch von einer einzigen Form der Bestattung aus: der Erdbestattung. Doch nicht einmal 80 Jahre später wird – nur 50 Kilometer von Weimar entfernt – in Gotha das erste Krematorium errichtet. Schnell verbreitet sich die Feuerbestattung in Deutschland, trotz aller Widerstände. Diesen gab es vor allem von der katholischen Kirche. Der tote Leib sollte nach katholischer Lehre unversehrt der Auferstehung harren. Erst 1964 auf dem II. Vatikanum wurde die Kremation für Katholiken offiziell gestattet.
Der Parkfriedhof konnte das Krematorium integrieren. Auf dem Mainzer Hauptfriedhof entstand 1903 ein prachtvolles Jugendstilgebäude, eines der ersten Krematorien Deutschlands auf einem Parkfriedhof. Andere Städte folgten rasch diesem Vorbild.
Doch was geschieht, wenn der Diamant verloren geht?
Über fast 200 Jahre prägte der Parkfriedhof die Vorstellung von Menschen, wie ein „richtiger“ Friedhof auszusehen habe. Doch so selbstverständlich, wie es scheint, ist es nicht. Die aktuelle Pluralisierung und Individualisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts brachte eine weitaus größere Auswahl von Bestattungsformen mit sich. Die Orte wurden vielfältiger. Friedwälder und Seebestattungen sollten eine „naturnahe“ Bestattung ermöglichen. In der Freien Hansestadt Bremen darf seit Januar 2015 die Asche eines jeden Verstorbenen theoretisch überall verteilt werden. Als erstes Bundesland schaffte Bremen den nach dem Feuerbestattungsgesetz von 1934 geltenden Friedhofszwang quasi ab. Über den Umweg der Niederlande oder die Schweiz wählen Menschen anderer Bundesländer den Weg, die Asche eines verstorbenen Angehörigen zum Diamanten pressen zu lassen oder in der Urne im heimischen Regal aufzubewahren. Den meisten Menschen ist dabei nicht bewusst, dass diese individualisierte Bestattung keinen öffentlichen Zugang zu einem Grab mehr ermöglicht – selbst nicht im innerfamiliären Kontext. Wenn Familienmitglieder im Streit liegen, kann eines dem anderen den Zugang zum Trauerort verwehren. Doch was geschieht, wenn der Diamant verloren geht? Und im Grunde sind auch Friedwälder nicht wirklich öffentliche Orte, weil sie durch ihre „Naturbelassenheit“ älteren und gehbehinderten Menschen nicht den ungehinderten Zugang zum Grab ermöglichen.
Jeder Mensch wird an einem Ort geboren und stirbt an einem Ort. Problematisch erscheint daher die Entscheidung vieler Menschen für eine anonyme Bestattung. Ein Grund dafür ist bei vielen Menschen der Wunsch, den eigenen Angehörigen posthum nicht durch Grabpflege zur Last zu fallen. Hier ist Aufklärungsarbeit wichtig. Denn ein preislich günstiges Rasengrab mit Namensplakette fordert von den Angehörigen keinerlei Pflege, ermöglicht jedoch einen Erinnerungsort. Gerade die Kombination von Erinnerungsort und Namensnennung ist wichtig für die Trauerarbeit und Erinnerungskultur. Selbst für Menschen, die keine „Friedhofsgänger“ sind, ist es relevant, um den Ort der Beisetzung eines Freundes oder Angehörigen zu wissen. Das können viele Angehörige von anonym Bestatteten bestätigen, die große Schwierigkeiten damit haben, nicht zu wissen, wo das Grab liegt.
Jenseits hygienischer Erwägungen erweist sich der Friedhof als Ort, der sich besonders für die Bestattung qualifiziert. Der Friedhof bietet einen Raum des Trostes und der Begegnung. Wenn Angehörige zurückkommen, um das Grab zu pflegen, dann ist das mehr als Erinnerungspflege, es ist Erinnerung des gelebten Lebens. Zudem bewahrt der Friedhof mit historischen Grabstätten das kulturelle Gedächtnis einer Stadt.
Es fehlen Mieteinnahmen
Zwar gelingt es dem Parkfriedhof, einige neue Trends der individualisierten Bestattung aufzunehmen – auf allen Parkfriedhöfen gibt es inzwischen Kolumbarienwände, auf vielen die Möglichkeit einer Baumbestattung als Alternative zum Friedwald –, doch die schwindende Zahl der Erdbestattungen im Vergleich zu den Urnenbeisetzungen hat Auswirkungen. Friedhöfe müssen sich als städtische Unternehmen selbst finanzieren, und ein Erdgrab bringt mehr Geld ein als ein Urnengrab in einer Kolumbarienwand. Die Coronakrise hat die Situation verschärft. Während des Lockdowns durften Trauerhallen auf Friedhöfen nur eingeschränkt besucht werden. In dieser Situation haben Angehörige vermehrt auf die Hallennutzung verzichtet und Trauerfeiern am Grab gewünscht. Diese Tendenz ist auch nach Aufhebung der strengen Einschränkungen geblieben. Es fehlen Mieteinnahmen.
Es ist tatsächlich die Frage, wie lange wir uns in Deutschland Parkfriedhöfe leisten können. Möglicherweise können sie langfristig nur museal erhalten werden, wenn nicht entschieden entgegengewirkt wird und Ideen zur Finanzierung entwickelt werden.
Der Rückblick auf die Geschichte der Bestattung zeigt, dass es schon immer Veränderungen gegeben hat. Mit diesem Hinweis könnte man das drohende Verschwinden des Parkfriedhofs abtun. Ein aufgelassener oder musealer Friedhof kann jedoch nicht mehr als öffentlicher Raum dienen, auf dem getrauert und verabschiedet werden kann. Der Friedhof geht dann als lebendiger Trauerort und Raum der tröstlichen Begegnung verloren.
Ich meine, dass dies ein großer Verlust für unsere Kultur wäre.
Prof. Dr. Angela Rinn ist Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der EKHN in Herborn. Als Privatdozentin für Praktische Theologie lehrt sie an der Universität in Heidelberg. Sie ist Mitglied der EKDSynode und Autorin in der Rundfunkarbeit bei SWR und DLF. Unter dem Pseudonym Vera Bleibtreu schreibt sie Kriminalromane. Zuletzt erschienen ist „Das Erbe der Toten“.
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