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Der Parkfriedhof ist in Gefahr

Titelthema - Der Parkfriedhof ist in Gefahr
Riensberger Friedhof ~ Bremen ~ Deutschland © Sven Fennema

Christen erinnert der als Garten gestaltete Friedhof an den Paradiesgarten. Damit ist er eine sinnhafte Botschaft der Verheißung.

Angela Rinn01.11.2023

Si hortum in bibliotheca habes, deerit nihil“, schreibt der römische Philosoph Marcus Tullius Cicero in einem Brief. Wörtlich heißt das: „Wenn du einen Garten in einer Bibliothek hast, dann fehlt nichts.“ Wir können uns die Gärten der Vornehmen und Reichen seiner Zeit meisterhaft gestaltet vorstellen. Griechische Sklaven hatten die Kunst der Gartengestaltung nach Rom gebracht, die Ars topiaria vermochte Pflanzen durch Wuchs- und Schnitttechniken in kunstvolle Formen zu bringen. Duftende Blumen verbreiteten Wohlgeruch. Eine in der Tat idyllische Vorstellung, in einem solchen Ambiente zu studieren und zu philosophieren!

Nach einem schweren Schicksalsschlag gewinnt der Garten für Cicero noch eine weitere Bedeutung. 45 vor Christus stirbt seine geliebte Tochter Tullia nach der Geburt ihres zweiten Kindes. Cicero leidet nachhaltig und trauert. In dieser Situation plant er einen Garten mit einem Tempel als Trost- und Trauerort. Eine ungewöhnliche Idee. Zu seiner Zeit waren andere Formen der Erinnerung an die Toten üblich. An den Ausfallstraßen der Städte standen Nekropolen, die der Erinnerungskultur und dem Ruhm der Verstorbenen dienen sollten.

Doch Cicero sucht nicht Ruhm, sondern einen eingefriedeten Trauerort, weil er die heilsame Wirkung von Gärten kennt und im Garten Trost sucht. Auch wenn es wissenschaftlich sicher höchst problematisch ist, sich über den garstigen Graben der Geschichte in die Psyche eines römischen Vornehmen der Antike einfühlen zu wollen: Wir ahnen doch, was Cicero in seinem Garten gesucht und wahrscheinlich auch gefunden hätte. Vermutlich sollte der Garten zur Erinnerung an Tullia dort entstehen, wo heute die Villa Farnesina liegt. Die Pläne werden nie realisiert, weil Cicero 43 vor Christus auf der Flucht ermordet wird. Wäre es anders gekommen, könnten wir Cicero heute als einen der Erfinder des Gartenfriedhofs würdigen.

Im Rückblick scheint es fast merkwürdig, dass diese Idee nicht viel früher in der Geschichte wieder aufgegriffen wird. Denn die Idee des römischen Gelehrten wird tatsächlich erst sehr viel später realisiert, auch wenn uns heute der Friedhof in der Form eines gestalteten Gartens so selbstverständlich erscheint.

Ein Ort von tiefer Bedeutung

Der erste Parkfriedhof entsteht erst 1803 in Mainz, ist also kaum mehr als 200 Jahre alt. Zuvor werden die Toten in Kirchen oder auf Kirchhöfen beigesetzt, also möglichst nahe am Heiligtum. Dem engen Platz geschuldet, bekommen selbstverständlich nur die Vornehmen ein Einzelgrab, alle anderen finden ihre letzte Ruhe im Massengrab auf dem Kirchhof. Die Folge sind katastrophale hygienische Zustände. Napoleon will hier Abhilfe schaffen.

Der Mainzer Bürgermeister Jeanbon St. André befolgt die napoleonische Bestimmung, dass Gräber nicht mehr unter kirchlicher, sondern unter staatlicher Aufsicht stehen und Bestattungen aus hygienischen Gründen nur außerhalb der Stadt erfolgen dürfen. Die neue Erfindung des Parkfriedhofs findet schnell Anklang. Johann Wolfgang von Goethe, der ein sicheres Gespür für interessante Neuerungen hat und sich mit Pflanzen und der Natur auskennt, lässt schon 1809 in seinem Roman Die Wahlverwandschaften durch die Hauptfiguren des Romans einen Parkfriedhof anlegen.

Bald entstehen überall Friedhöfe, die als Parks angelegt werden. Doch auch dort, wo kein Park entsteht, werden auf den eingefriedeten Totenruhestätten die Gräber als kleine Gärten angelegt. Viele Friedhofssatzungen verbieten bis heute eine Grabgestaltung ohne Begrünung. In etwas mehr als 200 Jahren entwickelt sich eine einzigartige Kultur, die zu Recht im März 2020 auf Empfehlung der Deutschen Unesco-Kommission in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen wird. Der Friedhof als Garten ist Teil dieser Kultur.

Der französische Philosoph Michel Foucault identifiziert in den 1960er Jahren von ihm so genannte Heterotopien, „Anders-Orte“, die besondere Funktionen für die Menschen haben. Der Garten ist seiner Ansicht nach eine der ältesten Heterotopien, der verschieden gelagerte und tiefe Bedeutungen hat.

Als weitere besondere Heterotopie benennt Foucault den Friedhof als Raum, der mit allen Orten der Stadt und allen Menschen zugleich verbunden ist, da alle Menschen in der Stadt Angehörige auf dem Friedhof liegen haben. Im als Garten gestalteten Parkfriedhof finden demnach zwei Heterotopien zusammen.

Der Friedhof als Garten erfüllt verschiedenste Bedürfnisse. Menschen pflegen die Gärten auf den Gräbern ihrer Toten und finden das, was auch Cicero in seinem Garten für Tullia gesucht hat: Trost in der Trauer. Gedenksteine und historische Grabmäler bewahren das Gedächtnis einer Stadt. Begegnungen finden statt, und so manches ältere Paar hat sich tatsächlich auf einem Friedhof kennengelernt.

Wie sinnstiftend schon ein privater Garten sein kann, hat die Soziologin Christina Waldeyer in ihrem Buch Homo hortulanus im Blick auf private Hausgärten untersucht. Waldeyer meint, dass vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Wendepunkte und Krisen der private Garten als Ort der Selbstbestimmung und Freiheit, als Natur und Idyll erlebt wird. Der Friedhof als Garten transformiert diese Möglichkeit in die Öffentlichkeit. Das können ein Friedwald, Ruheforst oder eine Seebestattung nicht bieten, erst recht nicht als Diamant gepresste Asche. Der Garten ist sorgfältig gestaltete Natur. Sowohl die allen Sinnen sich öffnende Schönheit des Gartens als auch der Gestaltungsprozess selbst birgt dabei Trostpotenzial. Es ist zwar kaum vorstellbar, dass Cicero in seinem Trostgarten selbst Hand anlegen wollte. Doch tatsächlich ist nicht nur der Aufenthalt in einem Gartenfriedhof, sondern auch die Arbeit in ihm trostvoll und sinnstiftend.

Erde zu Erde

Christen erinnert der als Garten gestaltete Friedhof an den Paradiesgarten und ist damit eine sinnhafte Botschaft der Verheißung. Doch der Friedhof öffnet sich allen Menschen und Religionen, und auch Atheisten finden auf ihm ihren Platz. Der Friedhof nimmt alle und jeden auf. Foucault hat das durchaus ironisch gesehen und angemerkt, dass jedenfalls seit dem 19. Jahrhundert jedermann ein Recht auf seinen kleinen Kasten für seine kleine persönliche Verwesung habe. Ich schätze diese soziale Komponente jedoch hoch ein! Glücklicherweise leben wir nicht mehr in der Sklavenhaltergesellschaft Ciceros, in der die Sklaven oft ihr ganzes Geld für einen Erinnerungsstein aufsparten und dankbar sein mussten, wenn ihre vornehmen Herren es gestatteten, dass sie in ihren Grabstätten mitbestattet wurden.

Umsonst ist der Tod jedoch nicht, das Sprichwort ist schlicht falsch. Die Kosten einer Bestattung sind hoch, manche Familie kann sich das nicht leisten. Es ist ein Verdienst unserer sozialen Gesellschaft, dass in solchen Fällen die Stadt für die Kosten einer Bestattung aufkommt. Niemand muss namenlos verscharrt werden. Damit stellen sich die Städte in die jüdisch-christliche Tradition der Werke der Barmherzigkeit, zu denen es gehört, die Toten zu bestatten.

Der Wandel in der Bestattungskultur hat vielfältigste Formen hervorgebracht, der kleine Kasten für die kleine persönliche Verwesung ist längst nicht mehr die vorherrschende Version. Der neueste Trend „Reerdigung“ integriert sogar die Verstorbenen selbst. Die Toten werden in einem verschlossenen „Kokon“ auf ein Pflanzenbett gelegt. Bakterien zersetzen den Körper innerhalb von 40 Tagen zu Erde und demonstrieren die tiefe Wahrheit der christlichen Worte am Grabe, dass der Mensch von Erde genommen und zu Erde werden wird. Nach dem Kompostierungsvorgang kann der Tote Bestandteil seines Gärtleins auf dem Friedhof werden.

Die Auszeichnung „immaterielles Weltkulturerbe“ verhindert leider nicht, dass die Existenz der Parkfriedhöfe gefährdet ist. Zwar kann der Friedhof als Garten viele Bedürfnisse integrieren, doch ist seine Pflege kostenintensiv. Viele Flächen, die lange für Erdbestattungen vorgehalten wurden, liegen nun brach. Bevor es zu spät ist, muss nach Lösungsmöglichkeiten für die Gartenfriedhöfe gesucht werden.

Alles, nur kein Museum

Was es bedeutet, wenn die Heterotopie Friedhof verschwinden würde, spitzt Jean Baudrillard zu: „Wenn der Friedhof nicht mehr existiert, so deshalb, weil die modernen Städte als Ganze diese Funktion übernommen haben: Sie sind tote Städte und Städte des Todes.“

Bevor es so weit kommt, gilt es, diese besonderen Gärten durch innovative Ideen und finanzielle Unterstützung zu retten. Warum nicht in attraktive Gastronomie investieren, die auch für die „Tröster“ im Anschluss an eine Beisetzung zur Verfügung steht, genauso aber auch Erfrischungen bietet für diejenigen, die einfach den Park genießen wollen. Auf leer stehenden Flächen am Rand des Friedhofs könnten Kindergärten gebaut werden. Kulturelle Veranstaltungen, Konzerte und Lesungen könnten das besondere Ambiente des Parks nutzen. Nur eines sollte ein Friedhof nicht werden: ein Museum.

Ein aufgelassener oder musealer Friedhof kann nämlich nicht mehr als öffentlicher Raum dienen, in dem bei einem Gottesdienst die Auferstehung inszeniert oder in einer säkularen Trauerfeier der Toten gedacht wird. Der Friedhof geht dann als mit Leben erfüllter Trauerraum und als Raum der tröstlichen Begegnung verloren.

Manchmal merkt man erst im Rückblick, dass etwas Kostbares unwiederbringlich verloren gegangen ist. Das sollte mit unseren besonderen Friedhöfen nicht geschehen.

Angela Rinn

Prof. Dr. Angela Rinn ist Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der EKHN in Herborn. Als Privatdozentin für Praktische Theologie lehrt sie an der Universität in Heidelberg. Sie ist Mitglied der EKDSynode und Autorin in der Rundfunkarbeit bei SWR und DLF. Unter dem Pseudonym Vera Bleibtreu schreibt sie Kriminalromane. Zuletzt erschienen ist „Das Erbe der Toten“.


 

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