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„Lehrer müssen wählen können“

Forum - „Lehrer müssen wählen können“
Dr. David Klett ist ein Urenkel von Ernst Klett, dem Gründer des gleichnamigen Verlags aus Stuttgart © Privat

Interview mit Dr. David Klett, Gründer des Start-ups meinunterricht.de

01.05.2021

Ernstfall didacta: auf Europas größter Messe für Bildungsmedien lässt sich der dramatische Wandel ablesen, den die Digitalisierung für Schulbücher bringt. 2018 war David Kletts Stand für seine Online-Plattform noch irgendwo am Rand des Geländes zu finden, diesen Mai nun geht die ganze Veranstaltung online vonstatten. Verleger David Klett über die Transformation des Leitmediums Schulbuch.

Herr Klett, Lehrkräfte können neuerdings von zwei bundesweiten Plattformen digitales Unterrichtsmaterial herunterladen. Braucht man da das gute alte Schulbuch noch?

Ich sehe diese Form von Verdrängung nicht. Didaktische Prozesse laufen lang und sind komplex. Lehrkräfte brauchen  Orientierung und Sicherheit, um diese Prozesse aufbauen zu können. Das Schulbuch und seine digitalen Pendants geben sie ihnen.

Kritiker sagen, dass Schulbücher für unsere schnelllebige Zeit einfach zu langsam sind.

Wenn Sie etwas drucken müssen, und es gibt plötzlich Neuigkeiten, dann können Sie das nicht mal eben aktualisieren. Tatsache ist aber, dass um das Schulbuch herum wahnsinnig viel aktuelles Material entsteht – von den Verlagen selbst, aber auch von anderen Anbietern. Und bei digitalen Schulbüchern, wenn man sie so nennen will, ist das Aktualisieren normal.

Der Bund fördert die Produktion offener Bildungsinhalte, sogenannter Open Educational Resources. Sind diese OER das bessere Schulbuch?

OER steht zunächst für Lernmedien unter offener Lizenz. Was gute digitale Bildungsmedien sind, ist damit noch nicht entschieden. Bildungsmedien machen in meinen Augen nur dann einen Unterschied für bessere Bildung, wenn sie gut gemacht sind und wenn viele Lehrkräfte sie annehmen. Die Entscheidung über die Qualität treffen also am Ende die, die damit gut unterrichten wollen.

Aber, Verzeihung, die Kunden am Schulbuchmarkt sind doch eigentlich die Kultusminister – und nicht die Lehrer.

Ich bin der tiefen Überzeugung, dass die Lehrer wählen können müssen zwischen ganz verschiedenen Angeboten. Das ist in vielen Ländern Europas normal. Auch in Deutschland und Österreich. Wessen Angebote nicht gewählt werden, der sollte meines Erachtens daraus Nachteile haben. Sonst gibt es keinen Anreiz, sich mit der besten Idee am Markt halten zu müssen.

Wer könnte die Qualität von Open Educational Resources kontrollieren?

Das weiß ich nicht, und ich stelle es mir ziemlich kompliziert vor, alle gemixten und geremixten Elaborate zu kontrollieren, die da draußen auffindbar sind. Wenn Sie das aber allein dem Schwarm überlassen wollen und wenn sich die Lehrkräfte auf allen möglichen Plattformen ihre Materialien selbst zusammensuchen sollen, dann entlasten Sie diese nicht.

Ist es mit der föderalen Ordnung vereinbar, dass der Zentralstaat plötzlich beginnt, Unterrichtsinhalte zu produzieren?

Wenn ich mir anschaue, wie OER-Bildungsmedien in den Staaten um uns herum zentral entwickelt und dann den Schulen ungefragt bereitgestellt werden, dann klappt das in der Regel nicht. Egal ob in den Niederlanden oder in Polen, in Kroatien oder Bulgarien: Wir sehen Geschichten des Scheiterns. Der viel gefährlichere Fall ist, wenn die zentrale Entwicklung von Bildungsmedien ganz klar ein politisches Motiv hat. In Osteuropa sieht man das. Da geht es darum, die Kontrolle über Bildungsprozesse zu bekommen oder eine Parteidoktrin in die Köpfe der Kinder zu pflanzen. Der Staat schließt oder verstaatlicht mancherorts die Verlage – und schreibt die Geschichtsbücher neu.

Wäre das in Deutschland möglich?

Kaum vorstellbar. Aber nur ein Hinweis: Ich möchte keinen Bundesbildungsminister von der AfD, der
den Nationalsozialismus in Geschichtsbüchern als „Vogelschiss“ verhandeln lässt. Das wäre zentral relativ einfach zu machen. Etwa wenn ein solcher Minister so etwas über ein rechtes Netzwerk produzieren und unter freier Lizenz verbreiten lässt. Mit anderen Worten: In freihändig produziertem, nicht geprüftem Lernmaterial steckt ein strukturelles Risiko.

Das Gespräch führte Christian Füller.


Schulbuch & Co.

Der Markt der Bildungsmedien ist in drei Sektoren geteilt, sortiert nach Art und Volumen

MISCHSEKTOR: Der Schulbuchmarkt als hochreguliertes Oligopol von staatlich genehmigten und von Verlagen lizenzierten Schulbüchern. Drei große Player, Ernst Klett Verlag, Cornelsen und Westermann. Marktvolumen: 450 Millionen Euro.

STAAT: Die beiden neuen großen Plattformen Mundo und WirLernenOnline, die gerade entstehen. Die Bildungsserver
der Länder mit Landesmedienzentren und die Lernmanagementsysteme (LMS) wie IServ, mebis, Moodle, schul.cloud, LernSax, itslearning. Die Bildungsserver bieten Inhalte, die LMS sind eher digitale Klassenzimmer, die zum Teil auch Inhalte aufbauen. Marktvolumen: geschätzt 200 Millionen, große Wertsteigerung 2020.

PRIVAT: Die freien Bildungsmedien bestehend aus Non-Profit- Initiativen wie ZUM (Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet e. V.), Serlo oder segu Geschichte. Und die „alten“ Bildungs-Start-ups wie Sofatutor, Bettermarks, Lehrermarktplatz, Simpleclub, Tutory, GoStudent usw. Sofatutor und Bettermarks sind in Hamburg, Bremen, Sachsen und Rheinland-Pfalz bereits offiziell als Inhalteanbieter in den Schulen. Marktvolumen: nicht bezifferbar. Die Marktführer Sofatutor, GoStudent und Lehrermarktplatz erreichen jeweils um die zehn Millionen Euro Umsatz pro Jahr.