Erfurt
„bärenstark“ fürs Leben

Interview mit Michael Flügge, dem Leiter eines Familienzentrums, das vom RC Erfurt-Gloriosa unterstützt wird.
Herr Flügge, wie würden Sie das Umfeld beschreiben, in dem Sie tätig sind?

Der „Rote Berg“ in Erfurt ist ein sozialer Brennpunkt. In diesem Stadtteil lebten mehr als 70 Prozent der Kinder von Sozialleistungen. Die Zahl ist, auch Dank unserer Arbeit, auf 50 Prozent gesunken. In den Plattenbauten wohnten früher circa 17.000 Menschen auf engem Raum. Zwei Drittel sind weggezogen. Jetzt sind wir hier etwa sechseinhalbtausend. Durch Abriss ist zwischen den Häusern viel Grün gewachsen. Die, die hiergeblieben sind, konnten oft nicht wegziehen, ihnen fehlte das Geld, die Akzeptanz, die Arbeit oder sie waren schon zu alt. In den letzten Jahren sind mit der Flüchtlingswelle viele Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen hinzugekommen. Das hat es nicht unbedingt einfacher gemacht.
Wie sind Sie aktiv geworden?
Wir wollten dem etwas entgegensetzen, haben Spenden gesammelt, das sogenannte „Jesus-Projekt“ gegründet und das Familienzentrum „bärenstark“ gebaut – ein Anlaufpunkt für alle, die hier leben. Wir kümmern uns um Arbeitslose, um Bildungsferne, um alleingelassene Kinder, um Drogenabhängige, Alte, Einsame und wir stärken Familien. Wir integrieren, fördern Talente, feiern zusammen Feste und individuelle Geburtstage. Unsere engagierten Pädagogen sind Ansprechpartner, schaffen einen Ort der Geborgenheit und stärken das oft ramponierte Selbstvertrauen. Gemeinsam machen wir Kinder bärenstark fürs Leben.
Wird es angenommen?

Die Angebote für Alleinstehende, für Kinder und Familien werden toll angenommen. Sie umfassen Lebensabschnitte von der Wiege bis zur Bahre. Es gibt Krabbelgruppen für Mütter mit kleinen Kindern, teilweise Säuglingen, Elternschulungen, aber auch Beerdigungen. Es gibt Ferien- und Sportangebote für Jugendliche, die sonst in der Luft hängen würden. Wir haben Koch- und Backprojekte, die sehr nachgefragt sind. So wirken wir auch in den Alltag hinein bis hin zu Ernährungsfragen. Interessant: So lernen durch uns viele, die hier isoliert, aber auch in Familien wohnen, zusammen zu essen.
Der RC Halberstadt, der zu Gast hier war, hatte einen Scheck von 250 Euro dabei und der RC Erfurt Gloriosa hat Euer Projekt Jahre lang mit insgesamt 25.000 Euro unterstützt. Ist das nicht angesichts der gewaltigen Aufgabe ein Tropfen auf den heißen Stein?
Keinesfalls. Neben dem Gottvertrauen, dass wir hier haben, müssen wir natürlich alle Rechnungen und Gehälter, der Mitarbeitenden bezahlen. Hier arbeiten 22 Hauptamtliche und 50 Ehrenamtliche. Die meisten Angestellten haben einen 30-Stunden-Vertrag, machen ehrenamtlich aber viel mehr – oft 40 Stunden. Am Anfang haben alle nur von den Spenden gelebt. Im persönlichen Umfeld und Kirchgemeinden wurde gefragt: Wollt ihr das unterstützen mit 50 oder 100 Euro im Monat? Meine Frau und ich haben bis heute kein festes Einkommen. Wir leben immer noch auf Spendenbasis und verzichten auf ein Gehalt vom Verein. Die Arbeit, die wir machen und die Menschen denen wir gezielt helfen können, danken es uns - trotz mancher Rückschläge - nicht nur mit einem Lächeln. Sie engagieren sich häufig selbst in unseren Projekten. Eine Rotarierin, die vom Roten Berg stammt, hat kürzlich gesagt: Was aus mir heute geworden ist, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern verschiedenen Chancen und Menschen zu verdanken.

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