60 Stunden in der Ukraine
Ein rotarischer Reisebericht aus der Ukraine

Norbert Ratzlaff (RC Pforzheim) hat gemeinsam mit zwei Clubfreunden aus dem polnischen Freundschaftsclub eine Lieferung von Hilfsgütern in die Ukraine begleitet. Seine Eindrücke von der Reise hat er aufgeschrieben.
Das rotarische Netzwerk führte uns im Jahr 2019 nach Tschenstochau in Polen, eine der Partnerstädte Pforzheims. Mein rotarischer Freund Florian Kollmar und ich hatten damals die Idee, eine Freundschaftsbeziehung zu dem dortigen Club aufzubauen, nachdem vorhandene Partnerbeziehungen mit englischen und französischen Clubs nicht mehr aktiv betrieben wurden. Aufgrund der Coronapandemie konnten wir unseren persönlichen Erstkontakt erst 2022 mit einer Gruppe von 15 Clubmitgliedern und deren Angehörigen fortführen.
Zu diesem Zeitpunkt war der russische Angriffskrieg 2022 gegen die Ukraine bereits drei Monate alt, sodass sich unser ursprünglich entspannt geplanter Besuch mit Betriebsbesichtigungen und kulturellen Highlights grundlegend veränderte. Stattdessen standen nun Besuche von Kriegsdenkmälern, einer Hilfsstation für ukrainische Geflüchtete und einer Flüchtlingsunterkunft im Mittelpunkt. Viele Gespräche drehten sich um die aktuelle Situation und das Leid der Menschen.
Nach unserem Besuch in Polen verfolgten wir weiterhin die Aktivitäten unseres Freundschaftsclubs, den wir auch finanziell bei Projekten in der Ukraine unterstützten. Die bewundernswerte Arbeit unserer neuen rotarischen Freunde würdigten wir im Oktober 2023 mit der Verleihung der Paul-Harris-Fellow-Auszeichnungen an Wojciech Jankowski und Vitaliy Yurkevych. Diese Geste stärkte unsere Verbundenheit und führte zu weiteren Hilfsaktionen. Im Jahr 2025 wollten wir – die zwei polnischen Freunde und ich – uns selbst ein Bild von der Lage vor Ort machen. Vitaliy, der bereits viele Hilfsfahrten bis nach Charkiw unternommen hatte, plante eine weitere Tour – dieses Mal beschlossen Wojciech und ich, ihn zu begleiten.
Die Fahrt in die Ukraine
Unsere Reise begann am 1. Februar 2025 in Krakau. Nach einer achtstündigen Autofahrt über Lwiw erreichten wir den Südwesten der Ukraine. Entlang der Strecke passierten wir Friedhöfe mit frischen Kriegsgräbern, geschmückt mit einem Meer ukrainische Flaggen und in den Ortschaften Standbilder gefallener Soldaten. In vielen Dörfern waren diese Erinnerungsstätten zentral aufgestellt – oft in langen Reihen mit 20 bis 40 Bildern. Die Gesichter darauf zeigten vor allem junge, aber auch ältere Männer.
Während unserer dreitägigen Reise besuchten wir sechs unterschiedliche Sozialeinrichtungen. In den wenigen staatlich unterstützten Einrichtungen war die finanzielle Lage prekär – Modernisierung war dringend notwendig, doch es fehlte an Mitteln. Dennoch gab es vereinzelt Fortschritte, etwa durch private, vor allem ausländische Spenden. Eine bemerkenswerte Unterstützung leistete der örtliche Rotary Club, der unter anderem auch einen 37-kVA-Stromgenerator finanzierte.
Rotary Club Tschernowitz – Engagement trotz Krieg
Trotz der schwierigen Lage ist der Rotary Club in Tschernowitz sehr aktiv. Gründet 1930 auf damals rumänischen Gebiet, neu gegründet im Jahr 2009, besteht er heute aus 18 Mitgliedern, je zur Hälfte Frauen und Männer. Es werden wöchentliche Treffen abgehalten und zahlreiche Sozialprojekte umgesetzt. Viele Aktivitäten werden direkt über Facebook dokumentiert. Vor unserer Reise hatten wir mit einer Vertreterin des Clubs Kontakt aufgenommen, um die Sicherheitslage zu klären. Ihre Aussagen entsprachen unseren Erfahrungen vor Ort: keine Luftalarme, keine Stromausfälle in der Stadt. Zwar sind Randbezirke gelegentlich von Stromabschaltungen betroffen, doch insgesamt ist die Situation in dieser Region stabil und ruhig. Ein gemeinsames Abendessen mit Vertretern der drei Rotary Clubs sowie der gemeinsame Besuch sozialer Einrichtungen stärkten die rotarische Freundschaft und führten zu neuen Projekten. Ein traditioneller Wimpeltausch dokumentiert die Gemeinsamkeit.
Kinder – die stillen Verlierer des Krieges
Ein wiederkehrendes Bild auf unserer Reise war die Situation der Kinder, insbesondere jener mit Behinderungen. Die Atmosphäre in den Einrichtungen hing stark von den Betreuenden ab: Wo mütterliche Fürsorge spürbar war, wirkten die Kinder trotz aller Umstände fröhlicher und zugewandter. Viele Kinder, die aus Kriegsgebieten evakuiert wurden, sollen später wieder in ihre Heimatregionen integriert werden – idealerweise durch Adoption in lokale Familien. Berührende Berichte zeugten von großherzigen Menschen, die bereit waren, gleich mehrere Kinder aufzunehmen.
Traumatisierungen – Flucht unter Beschuss
Die tiefgreifenden Traumatisierungen der Menschen wurden in Gesprächen nur ansatzweise greifbar. Eine Heimleiterin berichtete uns von einer dramatischen Flucht aus Charkiw mit 53 Kindern – ohne offizielle Papiere, ohne festes Ziel und unter Beschuss. Ihre Schilderung war tränenreich und für uns Außenstehende kaum vorstellbar. Nur durch glückliche Umstände und viele helfende Hände konnten die Kinder schließlich in Sicherheit gebracht werden.
Konkrete Hilfe – Spenden und Hilfsgüter
Während unserer Besuche überreichten wir zahlreiche Hilfsgüter: Kinderkleidung, die in Pforzheimer Unternehmen und durch private Spenden gesammelt worden war, sowie Waschmaschinen und Trockner, die aus Spendengeldern finanziert wurden. Auch an Lebensmitteln mangelt es vielerorts – insbesondere an frischen Produkten wie Obst und Gemüse. Wir konnten einige dieser dringend benötigten Nahrungsmittel mitbringen und übergeben.
Blick in die Zukunft
Die Menschen in der Südwestukraine leben von Tag zu Tag, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. In Tschernowitz scheint der Krieg weit entfernt – doch fast jede Familie hat Verwundete oder Gefallene zu beklagen. Für Außenstehende wirkt das Leben geordnet, doch ab 23 Uhr gilt eine Ausgangssperre, und das öffentliche Leben kommt zum Stillstand. Unsere Zusammenarbeit mit dem Rotary Club in Tschernowitz wird weitergehen, nicht zuletzt, weil ein Verantwortlicher des Clubs Czestochowa in Polen ukrainische Wurzeln hat und gezielt auf die Bedürfnisse vor Ort eingehen kann. Die Unterstützung bleibt wichtig – und unsere rotarische Freundschaft wird weiter wachsen. Nach drei Tagen vor Ort ziehen die drei Rotarier ein klares Fazit: „Helfen ist gut, gezielt helfen ist besser. Hilfe, die von Herzen kommt, kommt am besten an.“