Marienborn
Ein Treffen mit Symbolcharakter
30 Jahre Deutsche Einheit – das sind auch 30 Jahre Städtepartnerschaft Aschersleben – Peine. Und mittendrin die Rotary Clubs beider Städte, deren Mitglieder sich aus Anlass des Jahrestages in der „Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn“ trafen.
In den frühen Morgenstunden des 3. Oktober 1990 notiert ein gerade 20-jähriger NVA-Soldat nach der Wache am Munitionsdepot in Weißenfels "Feuerwerk am Himmel" als besonderes Vorkommnis im Wachbuch und gibt danach Waffe und Uniform ab. Welch historischer Moment Grund für das Feuerwerk war, wusste er zwar, konnte das aber alles noch nicht so richtig einordnen, war er doch einfach erst einmal müde. Genau 30 Jahre und einen Tage später steht eben dieser, nun 50-Jährige wieder vor einem alten Wachzaun, der sich aber pünktlich um 10 Uhr am 4. Oktober 2020 für rotarische Freunde aus Aschersleben und Peine öffnet, um Einlass in die "Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn" zu finden. Anlass des Treffens an der ehemaligen Grenze sind 30 Jahre Deutsche Einheit und 30 Jahre Städtepartnerschaft Aschersleben – Peine.
Die heute noch etwa 7,5 Hektar (früher 35 ha) große Anlage hat drei Eingänge, so dass zur Öffnung der Tore zufälligerweise ein Teil der Gruppe aus Richtung Eingang West, der andere Teil aus der gegenüberliegenden Richtung kam. So konnte zumindest ein wenig nachempfunden werden, wie die ersten Begegnungen zwischen "Hüben & Drüben" emotional wahrgenommen worden sind.
Als Gast konnten die Rotarier Governor Dietmar Bräuer (RC Bernburg-Köthen) begrüßen. In seiner Funktion ist er für fast 80 Rotary Clubs im Distrikt 1800 (Teile Sachsen-Anhalts und Niedersachsens) zuständig. Seine Anwesenheit ist also eine besondere Würdigung dieses Ereignisses.
Einreise in DDR musste gut vorbereitet sein
Auf einem geführten Rundgang wurde sehr anschaulich die Komplexität dieses Objektes erklärt. Zwar ist heute nur noch ein kleiner Teil der Anlage zu besichtigen. Doch das reicht aus, um die damalige, erdrückende Atmosphäre und die Abläufe zu verstehen. Einige Freunde aus Peine konnten aus eigenem Erleben berichten, dass eine ungeschickte Bemerkung, eine unbeachtetes, im Auto liegendes Heft zu stundenlagen Kontrollen führen konnten, die meist mit der Zahlung entsprechender DM-Beträge als "Strafe" oder "Servicegebühr" endeten. Eine Einreise in die DDR musste gut vorbereitet werden. Ist das Passbild noch aktuell, der Bart fehlt auf dem Bild? Kein Problem: In der Service-Stelle konnte der Friseur gegen DM-Entgelt Abhilfe schaffen. Auch das Verlassen des Autos während der Kontrolle war an sich nicht möglich. Ein Gang zur Toilette war nur unter Bewachung möglich. Glücklicherweise gab es auch Handbücher für eine richtige Einreise.
Der Bau der Grenzübergangsstelle (GÜSt) im Jahre 1972 kostete rund 70 Millionen DDR-Mark. Rund 1000 Personen waren rund um die Uhr dort im Einsatz. Die Belegschaft wurde regelmäßig gewechselt – es kamen nur als besonders verlässlich geltende Beschäftigte zum Einsatz. Trotzdem flüchtete auch Personal.
Im Objekt war alles Notwendige vorhanden: Notstromaggregate, Versorgungseinrichtungen für die Bediensteten, Viehboxen, Veterinär- und Pflanzenschutzkontrollen, eine Sprenggrube für Munition, eine Wechselstelle der Staatsbank für den Zwangsumtausch und Versorgungstunnel unterhalb der Anlage. Dort verliefen alle Leitungen für das auch nachts blend- und schattenfrei voll ausgeleuchtete Objekt. Die Kontrolle der drei West-Alliierten oblag ausschließlich den Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte, die in unmittelbarer Nähe einen eigenen Abfertigungsbereich und eine Kaserne unterhielten.
Alles unter Kontrolle
Bereits viele Kilometer vorher war die Autobahn in allen Richtungen vollständig unter Beobachtung. Gelang es aber trotzdem jemandem, die ersten Absperrungen zu überwinden, setzte der im DDR-Jargon genannte "Fiffi" dem Durchbruchsversuch ein Ende. Dabei schnellte auf Knopfdruck (im Kommandantenturm – Befehlszentrum des diensthabenden Offiziers) aus Betonkanälen ein Stahlträger (Rollsperre) heraus, der mühelos auch ein tonnenschweres Fahrzeug zum Stehen brachte.
Was aus dem Fahrer wurde, wie die Grenze auf beiden Seiten gesichert worden ist, kann man in der Dauerausstellung im ehemaligen Dienstgebäude erfahren. Dort waren die Büros der Leiter Passkontrolleinheit, des Zolls und der Grenztruppen.
Zeitzeugen erinnern sich
Nach Besuch der Ausstellung hielten die Präsidenten der Clubs, Steffen Fleischer (Aschersleben) und Ulrich Wölfel (Peine), sowie Governor Bräuer jeweils kurze Ansprachen, um dann diesen besonderen Moment mit einen Glas Sekt zu würdigen.
Im Anschluss an ein gemeinsames Mittagessen im Ratskeller Schöningen berichten Zeitzeugen aus der rotarischen Runde über ihre Erlebnisse vor 30 Jahren. Bürgermeister a.D. Michael Keßler erzählte über die Anstrengungen der Stadt Peine, vor der Wende eine Städtepartnerschaft mit einer Stadt in der DDR zu begründen. Der Landtagsabgeordnete Detlef Gürth erinnerte sich an seine Zeit in der ersten und letzten freigewählten Volkskammer der DDR. Damals mussten in kürzester Zeit viele Entscheidungen getroffen werden.
Sichtlich berührt berichtete Landwirt Albrecht Schneidewind, wie sein Vater den seit vielen Generationen im Familienbesitz befindlichen Bauernhof über die DDR-Zeit rettete und meinte, eine Deutsche Einheit werde er nicht mehr erleben. Zum Glück täuschte er sich und sein Sohn ist seit der Wende Bürgermeister in Mehringen.
Erinnerung an die Clubgründung in Aschersleben
Das Ehrenmitglied des RC Aschersleben, Wolfgang Schridde aus Peine, der vor wenigen Tagen seinen 75. Geburtstag feierte, schilderte die Bemühungen der Rotarier in Peine, in Aschersleben einen Rotary Club zu gründen. Mit viel persönlichem Engagement – selbst die Anreise von Peine nach Aschersleben war damals an manchen Wintertagen eine Herausforderung – gelang dies. Otto Heil, damals Stadtdirektor der Stadt Aschersleben, wurde der Gründungspräsident des RC Aschersleben. Als einer der letzten Zeitzeugen aus diesen Gründungsjahren ist er wie alle Zeitzeugen dieser Zeit dankbar, dass heute so ein Treffen möglich ist. Alle anderen Redner sahen das genau so und betrachten dieses Jahr als das beste und spannendste ihres Lebens.
Nach leckerem Pflaumenkuchen und Kaffee löste sich die Runde allmählich auf. Auf der Rückfahrt spielte das Autoradio passenderweise das Lied "Als ich fortging" der Gruppe Karussell aus dem Jahr 1987, das vor der Wende oft zu hören war. Dort heißt es: "Nichts ist unendlich, so sieh das doch ein, …. Nichts ist von Dauer, wenn's keiner recht will!"
Jens Schwarz