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Ukraine

Europa, Kommunen und der Krieg in der Ukraine

Ukraine - Europa, Kommunen und der Krieg in der Ukraine
© Adobe Stock Photo

Gedanken von Anna Walther, gebürtig aus der Ukraine vom RC Böblingen-Schönbuch, heute verwurzelt in Deutschland

12.01.2024

Ein Vortrag aus dem Dezember, der viele Clubfreunde bewegte...

Liebe rotarischen Freundinnen und Freunde,

ich freue mich, mit Euch meine ganz persönlichen Gedanken zu Europa, Kommunen als Schulen der Demokratie und dem Krieg in der Ukraine zu teilen.

Ich beginne mit Europa und was es für mich als Ukrainerin in meiner Jugend war, was es für mich heute als deutsche Bürgermeisterin ist und was und vor allem wie es werden soll, um unsere wunderbare demokratische, vielfältige, freie, innovative Welt zu erhalten und für Frieden zu sorgen.

Mein Name ist Anna Walther, geborene Sulymenko, 1985 in Kiew geboren und aufgewachsen. Ich wuchs in einer wissbegierigen und weltoffenen Familie auf. Mit zehn Jahren war ich zum ersten Mal in Westeuropa. Drei Monate verbrachte ich in der Schweiz als Teil einer Gruppe ukrainischer Kinder, die von der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl betroffen waren. Es war eine Art Kur-Reise.

Ich war begeistert von dem Land und insbesondere von den bunten Zahnbürsten, die ich in einem Supermarkt entdeckte – solch schöne Zahnbürsten gab es damals in der Ukraine nicht. Fast mein ganzes Geld, das ich in der Schweiz dabei hatte, gab ich für diese bunten Zahnbürsten aus, um meiner Familie ein schönes und, aus meiner damaligen Sicht, seltenes Geschenk mitzubringen. Schon damals wurde mir klar, dass ich immer wieder nach Europa kommen werde, um gegebenenfalls den "bunten" Zahnbürstennachschub zu sichern.

In den darauffolgenden Jahren besuchte ich mit meiner Schulklasse das eine oder andere Land der Europäischen Union, wie die Slowakei, Tschechien, Polen, Ungarn. Das Highlight der Europäischen Union war für mich Deutschland, das ich mit 16 Jahren gemeinsam mit dem Kirchenchor der Kiewer evangelisch-lutherischen Kirche St. Katharina zum ersten Mal besuchte. Das Land beeindruckte mich durch Organisationstalent, Gastfreundschaft, Weltoffenheit, Sauberkeit und nicht zuletzt durch die Tatsache, dass deutsche Männer auch ganz allein mit ihren Kindern auf den Spielplatz gingen. Das war für mich damals eine ganz beeindruckende neue Erkenntnis. Inzwischen gibt es auch in der Ukraine sowohl bunte Zahnbürsten als auch Männer, die ganz allein mit ihren Kindern auf den Spielplatz gehen.

Westeuropa war für mich als Ukrainerin schon immer eine sehr gut organisierte, prosperierende, durchdachte, funktionierende demokratische Welt ohne Korruption, ein Vorbild für die Ukraine.

Als sich mir die Gelegenheit bot, als Au-pair für ein Jahr nach Deutschland zu kommen, musste ich nicht lange zögern. Ich nahm ein Urlaubssemester – ich studierte damals Rechtswissenschaften in Kiew – und kaufte mir ein Busticket. 31 Stunden dauerte meine Busreise von Kiew nach Stuttgart. Ich war glücklich, diesen Schritt gewagt zu haben. Es war im Jahr 2004 – im Jahr der „Orangen Revolution“ in Kiew. Unter der „Orangen Revolution“ ist eine Serie von Massenprotesten zu verstehen, die sich im Jahr 2004 im Zuge der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine ereignet hat. Benannt ist die Revolution nach der Farbe der Wahlkampagne des Präsidentschaftskandidaten aus dem pro-westlichen Lager, Wiktor Juschtschenko, der laut offiziellem Ergebnis der Zentralen Wahlkommission dem von Russland unterstützten Kandidaten Wiktor Janukowytsch in der Stichwahl unterlegen gewesen sein soll. Die Oppositionsbewegung sprach von massiven Wahlfälschungen und setzte sich erfolgreich zur Wehr. Auf Beschluss des Obersten Gerichts wurde die Stichwahl einen Monat später wiederholt, dieses Mal ging nach der Auszählung Wiktor Juschtschenko als Sieger hervor.

Die „Orange Revolution“ hatte eine große Bedeutung für die ukrainische Gesellschaft, denn es ging um das Durchsetzen einer demokratischen, also freien und fairen Präsidentschaftswahl. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben Haltung bewiesen und für Demokratie gekämpft.

Doch warum lohnt es sich, für Demokratie zu kämpfen? Demokratie ermöglicht es uns, Respekt, Wertschätzung, gegenseitige Hilfe, Empathie, Rücksichtnahme und Solidarität zu erleben und zu leben. Demokratie ermöglicht es uns, selbst Verantwortung zu übernehmen. Demokratie ist die Grundordnung für eine Welt der Akzeptanz der Vielfalt von Meinungen, Lebensarten, Herkunft, sexueller Orientierung… Demokratie ermöglicht Teilhabe. In einer Demokratie kann jede und jeder mitmachen, dazugehören.

Ich muss viele überzeugen, um in einem demokratischen Land an die Macht zu gelangen und die Macht zu erhalten. Das bedeutet: Man muss die Perspektive wechseln können, andere Meinungen respektieren und akzeptieren können, diskutieren können, Kompromisse, aber auch Konsens, finden können... Das ganze Volk ist der Souverän. Es gibt nicht die einzig richtige Meinung, der sich alle unterwerfen müssen – koste, was es wolle.

Während des Au-pair-Jahres lernte ich meinen künftigen Mann kennen. 2011 wurde unser erster Sohn geboren. 2013 erblickte unser zweiter Sohn das Licht der Welt. Zwischen Ende November 2013 und Februar 2014 verfolgte ich aus Stuttgart die Entwicklungen auf dem Euromaidan in Kiew. Proteste, deren Auslöser die überraschende Erklärung der ukrainischen Regierung war, das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnen zu wollen. Die Ereignisse auf dem Euromaidan führten zum Fall der pro-russischen Regierung. Ich war stolz auf die Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich für eine pro-europäische Ukraine einsetzten. Der Euromaidan forderte mehr als 100 Opfer. Jedes Opfer ein Opfer zu viel.

Die darauffolgende Annexion der Krim durch Russland im Frühjahr 2014 war für mich etwas Undenkbares. Aus heutiger Sicht waren die Reaktionen demokratischer Staaten hinsichtlich des völkerrechtswidrigen Verhaltens Russlands nicht geschlossen, nicht entschlossen genug. Wir sollten daraus für die Zukunft lernen.

Nun möchte ich mich der Gegenwart zuwenden, in der ich seit Mai 2021 als Bürgermeisterin die Geschicke von Schönaich, einer 11.000-Einwohnerinnen- und Einwohner-Gemeinde im Kreis Böblingen, leiten darf. Jeder Tag meines Amtes zeigt mir eindrucksvoll, welchen Einfluss Kommunalpolitik auf alle übergeordneten politischen Ebenen hat, inklusive der Europäischen Union.

Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hat das Wesen der Kommunalpolitik aus meiner Sicht sehr treffend beschrieben:

„Kommunalpolitik steuert, sie moderiert, sie beflügelt, sie schafft Lebensqualität, sie schafft Perspektiven. Vor allem: Sie schafft Möglichkeiten der Mitwirkung für Millionen von Menschen. Kommunen sind Heimstatt, und sie sind Werkstatt der Demokratie. Wo, wenn nicht dort, wo Menschen dem Staat so direkt begegnen, können sie Vertrauen in das Prinzip der Teilhabe gewinnen und lernen, selbst Verantwortung zu übernehmen?“

Wie geht es aber unseren Kommunen heute – angesichts der vielen Krisen, die wir bewältigen müssen? Wie steht es um die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger mitzuwirken, Verantwortung zu übernehmen, Demokratie zu leben? Nun, die Politikverdrossenheit ist enorm. Das zeigt sich auch an den Herausforderungen bei der Aufstellung der Listen für die kommende Kommunalwahl.

Ich wage die These, dass wir heutzutage schlecht gelaunte Kommunen haben. Diese schlechte Laune geht weiter Richtung Land, Richtung Bund, Richtung Europa.

Kommunen bewältigen Realität, Menschen in den Kommunen bewältigen Realität. Realität, die mit jeder weiteren Krise für manch einen unerträglich scheint. Das Gefühl der Ohnmacht bereitet den Nährboden für Rechtsradikale vor: auf kommunaler, auf Landes-, auf Bundes- und auf der Ebene der Europäischen Union.

Es ist eine große Gefahr für unsere Demokratie. Diese Gefahr müssen wir sehr ernst nehmen. Die Brandmauer gegen den Rechtsextremismus darf nicht hinterfragt werden. Dieser Gefahr müssen wir unweigerlich mit guter Laune begegnen, die uns Stärke und Zuversicht verleiht, dass wir alle Krisen gemeinsam überstehen und die Welt für die kommenden Generationen noch besser machen werden.

Europa ist auf kommunaler Ebene aktuell nicht richtig spürbar, und wenn, dann eher negativ. Als Beispiel kann ich die Datenschutzgrundverordnung und die damit einhergehenden bürokratischen Herausforderungen in den Kitas und Schulen nennen.

Wenn eine Kommune in den Genuss von EU-Fördermitteln kommen möchte, braucht diese ein Fachbüro, um den Fördermittelantrag stellen zu können.

Das Gefühl der Überregulierung muss dem Gefühl der Klarheit und Sinnhaftigkeit weichen.

Energiewende, Flucht, demographischer Wandel, Fachkräftemangel sind einige der Beispiele von Herausforderungen, die auf kommunaler Ebene ganz real bewältigt werden müssen und tagtäglich bewältigt werden. Ich gehe optimistisch und gut gelaunt an die Krisenbewältigung heran. Denn die Aufgabe der gewählten Amtsträgerinnen und Amtsträger ist es, Krisenmanagement zu beherrschen. Schlechte Laune kommunaler Oberhäupter färbt auf die Bürgerinnen und Bürger ab. So lautet zum Beispiel die Haltung des baden-württembergischen Gemeindetags zu den multiplen Krisen der Gegenwart „Kein Weiter so!“ und wird bei jeder Gelegenheit thematisiert. Kommunen seien durch Geflüchtete, das Heizungsgesetz und viele weitere Herausforderungen komplett überfordert.

Wenn wir schon auf kommunaler Ebene pessimistisch sind, dann strahlt es unweigerlich auch in die EU-Ebene aus.

Es ist auf jeden Fall sinnvoll und erforderlich, für weitere Unterstützung von übergeordneten politischen Ebenen zu kämpfen. Aber bitte gut gelaunt und souverän.

Meine Aufgabe als Bürgermeisterin ist es, meinen Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, das Gefühl zu vermitteln, dass Schönaich für Herausforderungen gut gerüstet ist und dass diese mit Zuversicht bewältigt werden.

Natürlich könnte ich auch den Weg wählen, ein schlecht gelauntes „Kein Weiter so!“ zu skandieren. Dies widerspricht allerdings meinem Verständnis eines gelingenden Krisenmanagements. Mit schlechter Laune lassen sich Krisen nicht allzu gut bewältigen.

Mein Appell an die kommunalen Oberhäupter lautet daher: resilient werden, gut gelaunt werden, mit gutem Beispiel vorangehen und den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl der Sicherheit vermitteln, am Erhalt der Demokratie arbeiten, denn Kommunen sind Schulen der Demokratie.

Ich möchte mich nun von der kommunalen auf die Ebene der Europäischen Union begeben.

In Vorbereitung dieses Vortrages habe ich einige Menschen in meinem Freundes- und Kollegenkreis gefragt, was sie mit der Europäischen Union in erster Linie verbinden. Die meisten verbinden die EU primär mit der Freizügigkeit im Hinblick auf Reisen. Die „fehlenden Grenzen“ seien „ganz toll“. Vereinzelt wurde aber auch angegeben, dass man sich mit den Werten der Europäischen Union identifizieren würde. Es war selbstverständlich keine repräsentative Umfrage, aber die Erkenntnis war für mich persönlich erhellend: Die Ebene der Werte und der Identifikation mit dem großen Ganzen – mit unserer Europäischen Union – gerät aus dem Fokus und man konzentriert sich auf das individuelle Interesse, „ohne Grenzen verreisen zu können“.

Gemäß Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) sind die Werte, auf die sich die Europäische Union gründet, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte von Personen, die Minderheiten angehören.

Um die Wahrung dieser Werte sicherzustellen, enthält Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union einen EU-Mechanismus, mit dem festgestellt werden kann, ob eine schwerwiegende Verletzung durch einen Mitgliedstaat besteht und ob Sanktionen verhängt werden sollen. Dieser Mechanismus wurde vor Kurzem erstmals bei Polen und Ungarn angewandt. Die EU ist zudem an die Charta der Grundrechte gebunden und hat sich verpflichtet, der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten beizutreten. Seitdem die Werte der EU in einigen Mitgliedstaaten bedroht werden, verfeinern die EU-Organe ihr Instrumentarium, um der Aushöhlung der Demokratie entgegenzuwirken und demokratische Verhältnisse, die Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte, Gleichheit und Minderheiten in der gesamten Europäischen Union zu schützen.

Ein solches verfeinertes Instrumentarium brauchen wir unbedingt. Es ist höchste Zeit, schnell und entschlossen die Mitgliedsstaaten zu sanktionieren, die schlechte Laune hinsichtlich unserer gemeinsamen Werte verbreiten, rechtsextremes Gedankengut salonfähig machen und so den Frieden und die Demokratie gefährden.

Es darf nicht sein, dass die für die Aufnahme in die EU ausschlaggebenden Kriterien nach dem Beitritt nicht mehr vollumfänglich erfüllt werden müssen.

Ein Teil der EU sein zu dürfen, bedeutet kontinuierliche Arbeit am Erhalt demokratischer Werte und des Friedens. Und dabei sind alle Europäerinnen und Europäer gefordert: von der kommunalen bis zur europäischen Ebene.

Ich bin mir sicher, dass wenn diese gemeinsamen demokratischen Grundwerte in Vergessenheit geraten, wird es schwierig, geschlossen und entschlossen zu handeln. Kompromissfindung wird erschwert. Und auch das Selbstverständnis der Pflicht der Friedenswahrung und des Einstehens für demokratische Werte in Europa gerät ins Wanken. Die EU darf nicht auf „Urlaub ohne Grenzen“ reduziert werden.

Frieden in Europa geht nur über die Identifikation mit der EU und den gemeinsamen Grundwerten. Die Unterstützung der Ukraine bei der Verteidigung ihrer Freiheit und Souveränität gegen den brutalen Angriffskrieg Russlands stellt die EU vor eine Mutprobe.

Ich bin froh, dass Europa zusammenhält und gemeinsam an der Seite der Ukraine steht. Diese entschlossene gemeinsame Überzeugung, die Ukraine bei der Verteidigung auch unserer Grundwerte zu unterstützen, stärkt den Zusammenhalt Europas und unterstreicht die Identifikation mit der demokratischen Grundordnung. Diese entschlossene gemeinsame Unterstützung darf nicht schlecht gelaunten Einstellungen weichen, wie solchen von Ungarn, das die EU-Finanzhilfen für die Ukraine blockiert hat. Vielleicht sollte das Einstimmigkeitsprinzip der EU auf den Prüfstand gestellt werden. Dann müsste man sich auch keine Gedanken darüber machen, wie man Herrn Orbán dazu bewegt, den Sitzungssaal zu verlassen, während die Abstimmung über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine läuft.

Wir brauchen eine resiliente, gut gelaunte Europäische Union, die Krisen gekonnt trotzt und positive Gefühle hervorruft.

Die enormen Herausforderungen, die bei uns schon längst angekommen sind, können und müssen nur gemeinsam in einem vereinten Europa gemeistert werden.

Gemeinsam schaffen wir es, dem Klimawandel Einhalt zu gebieten, Fluchtursachen zu bekämpfen, eine starke Wirtschaft aufzubauen, Digitalisierung voranzutreiben, für gute Bildung und Chancengleichheit zu sorgen, Frieden zu sichern, gut gelaunte Kommunen zu etablieren.

Dafür müssen wir an einer positiven Vision der Europäischen Union arbeiten, die für die Bürgerinnen und Bürger klar und verständlich ist. Die EU darf nicht ausschließlich mit Komplexität, lästigen Vorgaben oder „Urlaub ohne Grenzen“ in Verbindung gebracht werden. Die EU kann nur weiterentwickelt werden, wenn Menschen etwas Positives damit verbinden und dadurch bereit sind, sich mit den Grundwerten der EU zu identifizieren.

Wir beginnen mit dieser positiven Überzeugungsarbeit auf der Basis Europas, auf kommunaler Ebene, „denn Kommunen sind Heimstatt, und sie sind Werkstatt der Demokratie. Wo, wenn nicht dort, wo Menschen dem Staat so direkt begegnen, können sie Vertrauen in das Prinzip der Teilhabe gewinnen und lernen, selbst Verantwortung zu übernehmen?“

Und ich würde unseren ehemaligen Bundespräsidenten Gauck gerne ergänzen: „Wo, wenn nicht auf kommunaler Ebene, können Zuversicht und gute Laune vermittelt werden?“

Lasst uns gemeinsam in diesem Jahr:

Mehr Resilienz wagen.

Mehr gute Laune wagen.

Mehr Europa wagen.

Nicht weniger.