Buch der Woche
Fußballnation Brasilien?
Das Fußballland Brasilien, WM-Gastgeber 2014, ist ein globaler Mythos. Nicht zuletzt wegen der Titel, die die Seleçao in der Geschichte der Weltmeisterschaften gewonnen hat. In O Jogo Bonito, dem von Reinaldo Coddou H. kompilierten Bildband, finden indes nicht nur Aufnahmen der besten Spieler Brasiliens ihren Raum. Coddou zeigt auch andere Perspektiven auf: die von Fans, Freizeitkickern und hoffnungsvollen Talenten. Begleitet werden die zum Teil unveröffentlichten Fotos von Texten namhafter Autoren – unser Buch der Woche. Eine Bildergalerie zeigt eine kleine Auswahl an Fotos.
Der brasilianische Journalist Juca Kfouri über die Bedeutung des Spiels in seiner Heimat:
Wie soll ich einem deutschen Leser erklären, welchen Stellenwert der Fußball für uns Brasilianer hat? Vielleicht sollte ich ihn einfach mit einer wissenschaftlich fundierten Aussage überraschen: Brasilien ist keineswegs das Land des Fußballs. Zwar ist es schon immer das Land des weltbesten Fußballs gewesen, des schönen Spiels und vielleicht ist es auch weiterhin das Land, das die besten Spieler der Welt hervorbringt. Aber das Land des Fußballs ist Brasilien nie gewesen.
Seriöse Umfragen zum Thema „Interesse am Fußball“ zeigen, dass mehr als ein Viertel der Brasilianer überhaupt kein Interesse am Fußball hat. Erst die zweit-, dritt- und viertgrößten Gruppen in den Auswertungen sind die Fans von Flamengo, Corinthians und des FC São Paulo. Anders verhält sich das beispielsweise in Argentinien, wo beim selben Umfragetyp die Fans von Boca Juniors die größte Gruppe bilden, gefolgt von den River-Plate-Anhängern. Die Fußballdesinteressierten weisen dort erst den dritthöchsten Prozentsatz auf.
Ein weiterer Beleg für die Tatsache, dass Brasilien nicht das Land des Fußballs ist, offenbart sich im Zuschauerdurchschnitt der nationalen Meisterschaft. Er liegt mit etwa 15 000 Fans pro Spiel unter dem der Zweiten Ligen Deutschlands und Englands (jeweils ca. 17 000), ja sogar unter dem der Major League Soccer in den USA (knapp unter 18 000). Zudem gibt es in Brasilien nichts, was etwa dem Betreten des Old Trafford in Manchester oder dem Gefühl im ausverkauften Dortmunder Stadion auch nur annähernd ähnelt.
Wobei dies alles keineswegs bedeutet, dass der Fußball im Alltag Brasiliens nicht omnipräsent ist. Sei es in sprachlichen Metaphern oder auf den Spielfeldern im Sand der über 9000 Kilometer langen Meeresküste oder auf jenen Bolzplätzen, die die Immobilienspekulation überlebt haben.
Das brasilianische Volk ist stolz auf seine fünf Weltmeistertitel und fühlt sich im Fußball wie in der Musik als Teil der Ersten Welt. In der Musik ist das so, seit Heitor Villa-Lobos, Komponist der grandiosen brasilianischen Bachiaden, in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Welt verzauberte. Zuvor schon hatte Arthur Friedenreich, Sohn eines deutschen Vaters und einer dunkelhäutigen Brasilianerin, seine Fußballkunst im Dienste des Klub Athletico Paulistano 1925 auf den Spielfeldern Europas vorgeführt.
Die Erben von Villa-Lobos, wie Antônio Carlos Jobim mit seiner Garota de Ipanema oder Chico Buarque de Hollanda und Caetano Veloso, hielten den Standard in der Musik auf einem sehr hohen künstlerischen Niveau. Genauso, wie es Leônidas da Silva, Domingos da Guia, Mané Garrincha, Pelé – der Größte von allen, Didi, Rivellino, Gérson, Tostão, Zico, Falcão, Sócrates, Romário, Ronaldo und Rivaldo im Fußball taten.
Es lohnt sich daran zu erinnern, dass die brasilianische Nationalmannschaft, bevor sie die Weltmeisterschaften von 1958, 1962, 1970, 1994 und 2002 gewinnen konnte, 1938 bereits den dritten sowie 1950 den zweiten Platz erreichte. Vizeweltmeister 1950! Dazu muss weiter ausgeholt werden.
Im Spiel gegen die mutigen Uruguayer hätte im Maracanã vor 200 000 Zuschauern seinerzeit ein Unentschieden gereicht, um den Titel zu gewinnen. Brasilien ging mit 1:0 in Führung, um dann jedoch erbärmlich mit 1:2 zu verlieren. Diese Niederlage hat das Land traumatisiert. Sie ist die bis heute größte nationale Erschütterung der brasilianischen Geschichte, weswegen sie auch einen eigenen Namen erhalten hat: Maracanaço. Sie ist bedeutender als die Tode von Formel-1-Fahrer Ayrton Senna (1994) oder Tancredo Neves (1985), dessen Wahl zum Präsidenten der Republik – wenn auch indirekt durch den Nationalkongress – 21 Jahre Diktatur beendeten; Neves starb kurz vor seiner Vereidigung.
In den auf den Maracanaço folgenden acht Jahren, ehe Pelé und Konsorten in Schweden die erste WM einer Nationalmannschaft außerhalb des eigenen Kontinents gewinnen konnten, hielt sich in Brasilien die Idee des Journalisten, Schriftstellers und Dramaturgen Nelson Rodrigues: Brasilien sei ein Land, das an einem seltsamen Minderwertigkeitskomplex leide, dem Straßenköterkomplex – wie ein vagabundierender Hund, der ohne Herrchen und ohne Ziel durch die Straßen treibt. Mit dem Titel von 1958 änderte sich das. Aus dem Komplex wurde tiefer Nationalstolz.
Pelé – von den Franzosen zum „König des Fußballs“ ernannt, von den Amerikanern zum „Athleten des Jahrhunderts“ gekürt – wurde zum Synonym Brasiliens, zur internationalen Marke, die auf dem Höhepunkt in den 1960er Jahren weltweit bekannter war als Coca-Cola.
Gleichwohl ist die beste Definition dessen, was im brasilianischen Fußball wirklich vor sich geht, immer noch in einem Witz von zweifelhaftem Geschmack zu finden: Nachdem Gott zunächst Europa erschaffen hatte und sich an Amerika heran machte, erklärte er: „In Amerika werde ich ein großes Land einrichten, das sich Brasilien nennen wird. In ihm wird es keine Vulkane, keine Erdbeben oder andere große Naturkatastrophen geben, sondern eine tausende Kilometer lange Küste mit den schönsten Stränden. Und in Brasilien werden die besten Fußballspieler das Licht der Welt erblicken.“ Da protestierte ein Europäer und fragte, ob das nicht übertrieben sei: „Reicht es nicht, eine so wunderbare Natur zu haben?“ Daraufhin antwortete der Schöpfer: „Ah, warte. Ich werde dort auch die schlechtesten Fußballfunktionäre der Welt hinsetzen …“ Und so geschah es.
Die Verbandsstruktur des brasilianischen Fußballs ist extrem reaktionär, korrupt und korrumpierend. Sie ist modernisierungsresistent und sie steht im Zentrum unzähliger Skandale. João Havelange und Ricardo Teixeira, die Ex-Präsidenten des Brasilianischen Fußballverbandes CBF, sowie ihr im Amt befindlicher Nachfolger José Maria Marin sind lebende Beweise für diese These. Marin war zudem ein aktiver Kollaborateur in der brasilianischen Diktatur zwischen 1964 und 1985.
Das erklärt auch die Situation, in der sich der heimische Fußball aktuell befindet. Obwohl es in einem Land mit fast 200 Millionen Einwohnern natürlich eine hinreichende Menge an Fußballfans gibt, exportiert Brasiliens Fußball Arbeitskraft, verkauft seine Künstler und gewährt hoch verschuldeten Klubs Unterschlupf.
Trotzdem hat Brasilien die erfolgreichste Nationalmannschaft bei Weltmeisterschaften, und seit die FIFA im Jahr 2000 die Klub- WM kreiert hat, haben nicht weniger als vier Teams den Titel gewonnen: zweimal Corinthians, einmal der FC São Paulo – beide aus São Paulo, dem reichsten Bundesstaat des Landes – und einmal Internacional aus Porto Alegre, der Hauptstadt von Rio Grande do Sul, einem Bundesstaat mit einer großen deutschen Kolonie.
Das fantasiereiche Spiel, so etwas wie die patentierte Marke des brasilianischen Fußballs, übt ebenso wie der Karneval und die schönen Frauen des Landes einen starken Einfluss auf jenes Bild aus, das man in der Welt von Brasilien hat. Als ob wir einfach nur ein allzeit frohes und feierndes Volk wären, das sich wenig um die schwerwiegenden Probleme der sozialen Ungleichheit kümmert, die unseren Alltag bestimmen. Dieses Bild von einem Volk, das einfach nur herzlich ist, ist falsch und ungerecht. Es stimmt nicht mit der Realität überein – weder mit der vergangenen, noch der aktuellen.
Dazu muss man sich nur die Geschichte der erbitterten Kämpfe gegen portugiesische, französische und holländische Kolonisatoren oder die Sklavenaufstände vor Augen führen. Oder an jene Demonstrationen mit über einer Million Teilnehmern erinnern, die in den 1980er und 1990er Jahren für die Direktwahl des Republikpräsidenten durch das Volk auf die Straße gingen und die mit der Amtsenthebung von Fernando Collor endeten, dem ersten frei gewählten Präsidenten nach der Diktaturperiode.
Im Juni 2013 wurde die Welt während des FIFA-Konföderationen- Pokals erneut Zeuge riesiger Demonstrationen des Volkes, bei denen der WM-Standard nicht nur für den Bau von Stadien, sondern auch für Bildung, Gesundheitswesen und die öffentlichen Verkehrsmittel eingefordert wurde. Stand heute ist anzunehmen, dass diese Demonstrationen während der WM-Endrunde im Sommer 2014 wieder aufflammen werden. Es sei denn, es kommt bis dahin zu umsetzbaren Lösungsangeboten seitens der zuständigen Bundes-, Landes- und Kommunalregierungen.
Festgehalten gehört an dieser Stelle, dass bei der WM 2014 die Nationalmannschaft Brasiliens – neben der Deutschlands, der Spaniens und Argentiniens (in dieser Reihenfolge) – der Favorit auf den Titel ist. Denn brasilianische Spieler sind in 90 Minuten stets zu Dingen fähig, die sich sogar der Vorstellungskraft des allmächtigen Schöpfers entziehen.
Im kommenden Sommer werden die Brasilianer die Welt ganz sicher mit Partys, großer Gastfreundlichkeit und Freude empfangen. Aber wer glaubt, dass Siege im Fußball die Rechte und Pflichten der Bürger vergessen lassen machen, der irrt.
Als Brasilien in Mexiko 1970 seinen dritten WM-Titel gewann, ließ sich das Volk nicht von den wahren Siegern abbringen. Trotz aller Versuche von General Garrastazu Médici sich den WM-Triumph zu Nutze zu machen, ist der Diktator für immer in Erinnerung geblieben als ein Mann, der gnadenlos foltern ließ und für das Verschwinden vieler Oppositioneller und damit für eines der dunkelsten Kapitel der Landesgeschichte verantwortlich war. Im Gegensatz zu ihm werden Carlos Alberto, Gérson, Jairzinho, Tostão, Pelé und Rivellino, die Protagonisten von Mexiko, bis heute als Helden des beautiful game verehrt.
Quelle: Reinaldo Coddou (Hrsg.): O Jogo Bonito. Brasilien – eine fußballverrückte Nation in Bildern. Spielmacher, Mannheim 2014. 240 Seiten, 35 Euro. Die Leseprobe stammt von den Seiten 4 und 5.