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Die Tragödie von Bern
Als klarer Favorit verliert Ungarn das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft am 4. Juli 1954 gegen die Bundesrepublik Deutschland – für das ungarische Volk ein Trauma, welches im Volksaufstand mündet.
Stille. Minutenlang. Die Blicke nur nach unten gerichtet. Der Schock sitzt tief. Sehr tief. Bei den Spielern. Beim Trainer. Bei den mitgereisten Fans. Bei einer ganzen Nation. Und noch konnte niemand ahnen, was daraus einmal folgen sollte.
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Sie waren die Magischen Magyaren, die Goldene Elf Ungarns. Die letzte Niederlage vor dem Weltmeisterschaftsfinale in Bern 1954 war am 14. Mai 1950 ein 3:5 gegen Österreich gewesen. Es folgten 32 Spiele ohne Niederlage, ein Torverhältnis von 144:33. Ungarn wurde Olympiasieger und hatte England in Wembley vor 100.000 Zuschauern sensationell mit 6:3 besiegt. Spätestens mit diesem Sieg umgab die Mannschaft der Nimbus der Unbesiegbarkeit. Der Weltmeistertitel war bereits gebucht. Ungarn war der größte Favorit aller Zeiten.
Die ungarische Nationalmannschaft von Trainer Gusztáv Sebes der frühen 1950er Jahre legte den Grundstein für den modernen Fußball. Ihr Spielsystem war bis dahin unbekannt. Sie spielten ab 1952 ein offensives 4-2-4-System mit einem zurückfallenden Mittelstürmer. Erstmals angewandt wurde es in der zweiten Halbzeit bei einem Länderspiel gegen die Schweiz. Es war die Geburtsstunde des Spielgestalters Nándor Hidegkuti, der extra für dieses System eingewechselt wurde. Zuvor spielte das Team mit einer 3-2-5-Aufstellung.
Die Außenspieler Mihály Toth und Zoltán Czibor konnten die Seiten wechseln, der linke Flügelstürmer wurde zum rechten Flügelstürmer und der Gegner verwirrt. Hinzu kamen mit Ferenc Puskás und Sándor Kocsis zwei Ausnahmestürmer im Strafraumzentrum, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Der kopfballstarke Kocsis, der später in Spanien „Cabeza de oro“ (Goldköpfchen) getauft wurde, war die perfekte Ergänzung zum Edeltechniker und Linksfuß Puskás.
„Im modernen Fußball kann nur jener Spieler Erfolg haben, der ein universell ausgebildeter Fußballer ist, für den es gleichgültig ist, welche Nummer er auf dem Trikot trägt und mit welcher Aufgabe er betraut wird“, hatte Sebes seine Philosophie einmal erklärt und diese über Jahre hinweg mit harter Hand durchgesetzt.
Hidegkuti war der Schlüsselspieler
Die Fäden hielt Nándor Hidegkuti in der Hand. Er war das Hirn dieser Mannschaft. Hidegkuti, gelernter Mittelstürmer, ließ sich, wie im neuen Spielsystem vorgesehen, meist ins Mittelfeld zurückfallen und holte sich dort selbst die Bälle. Der Ausnahmespieler war bekannt dafür, sich sprichwörtlich seine Tore selbst vorzulegen. Doch seine Spielweise hatte noch einen zweiten Effekt, der seinen Mitspielern Puskás und Kocsis zugutekam. Zog er sich ins Mittelfeld zurück, folgte meist sein Gegenspieler. So entstanden im Strafraum oft Lücken, die die Mitspieler zu nutzen wussten. Nicht umsonst hatte der deutsche Trainer Sepp Herberger im Finale mit Werner Liebrich und Horst Eckel gleich zwei Spieler auf ihn angesetzt. Herberger war klar: Nur wenn Hidegkuti nicht zur Entfaltung kommt, hat Deutschland eine Chance.
Österreichs Sportjournalistenlegende Dr. Willy Meisel urteilte einmal über das ungarische Team: „Ungarn hatte das Glück, zu Beginn der 1950er Jahre mit Bozsik, Kocsis, Hidegkuti und Puskás gleich vier Weltspitzenspieler zu besitzen.“ Wer sollte diese Übermannschaft also schlagen? Dann kam der 4. Juli und das WM-Finale gegen die westdeutsche Auswahl im Berner Wankdorfstadion. Ein Finale, dessen Resultat weit größere Auswirkungen für beide Nationen hatte, als man zuvor hätte ahnen können.
Deutschland erhielt sein Selbstbewusstsein zurück
Diesem Endspiel, in Deutschland als „Das Wunder von Bern“ bezeichnet, wurde nicht nur ein preisgekrönter Spielfilm gewidmet; Fernsehdokumentationen und zahlreiche Publikationen beschäftigen sich mit diesem Sensationserfolg. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es für die Deutschen zum ersten Mal einen Grund, wieder stolz auf das eigene Land zu sein. Eine noch immer am Boden liegende Nation erhielt ihr Selbstbewusstsein zurück. „Es gab drei Gründungsväter der Republik: Adenauer im politischen, Erhard im wirtschaftlichen und Fritz Walter im mentalen Bereich“, hatte es Historiker Joachim Fest einmal treffend beschrieben. Das Zitat lässt erahnen, was umgekehrt die Niederlage für die Ungarn bedeutet haben musste. „Meine Tränen fließen. Aber glauben Sie mir, dass die Jungs alles gegeben haben.“ Das sind die Worte des ungarischen Kommentators György Szepesi nach dem 3:2 Helmut Rahns für die Deutschen. Das Unvorstellbare war eingetreten, Ungarn hatte verloren. Ferenc Puskás sprach später in seiner Autobiografie von einer „untröstlichen“ Nation.
Aus ungarischer Sicht war alles ganz anders geplant. Für die Kommunistische Partei Ungarns sollte der Sieg im Finale nicht weniger als die Überlegenheit des Sozialismus demonstrieren. Siegessicher hatte man bereits vor dem Endspiel mit dem Drucken von Sonderbriefmarken begonnen – heute heiß begehrt bei Philatelisten –, die Siegesfeier geplant und bereits Pfeiler eines Denkmals errichtet. Die KP brauchte diesen Erfolg, denn ihre Akzeptanz in der Gesellschaft war bis dahin nie stark ausgeprägt gewesen.
Bei den letzten freien Wahlen 1945 hatte die Kleinbauernpartei mit 57 Prozent die absolute Mehrheit errungen, die Kommunisten erhielten gerade einmal 17 Prozent. Das Votum war deutlich: Die Ungarn wollten nach dem Zweiten Weltkrieg eine bürgerliche Republik. Doch Moskau hatte andere Pläne. Es war Stalin selbst, der 1945 auf „proletarischen Ausgleich“ drängte, und so erhielt die Kleinbauernpartei nur die Hälfte der Ministerposten. In den Jahren danach ließ Mátyás Rákosi, Führer der ungarischen KP, mit Rückendeckung Moskaus nach und nach seine politischen Widersacher ausschalten. Zehntausende landeten im Gefängnis, einige wurden nach Schauprozessen hingerichtet. Rákosi bewies dabei, dass er sich den Spitznamen „Stalins bester Schüler“ nicht zu Unrecht selbst gegeben hatte.
Die Goldene Elf verliert ihre Vermittlerrolle
Je rigoroser Ungarn jedoch zu einem sozialistischen Musterstaat umgebaut wurde, desto größer wurde der Unmut in der Bevölkerung. Diese beklagte zudem, dass die Wirtschaft nicht in Schwung kam. Zwischen 1949 und 1952 schrumpften die Reallöhne gar. Die Fußballer um ihren Kapitän Ferenc Puskás waren somit der kleinste gemeinsame Nenner zwischen dem stalinistischen Regime und dem ungarischen Volk. Dieses Team hielt den Staat noch zusammen, wie es auch Peter Kasza treffend in seinem Buch Fußball spielt Geschichte – Das Wunder von Bern beschreibt. Dann kam das Endspiel 1954. Mit der Niederlage büßte die Goldene Elf ihre Rolle als Vermittlerin ein. Für immer. Direkt nach Spiel ende kam es in Budapest zu ersten Ausschreitungen. Und letztlich waren diese Proteste nur das Vorspiel zum Volksaufstand zwei Jahre später.
Verhaftung und Gerichtsverfahren
Auch für die Fußballer hatte die Niederlage unmittelbare Konsequenzen. Auf der Heimfahrt hielt der Zug nicht wie sonst zum Zwischenstopp in Wien, wo die Spieler großzügig einzukaufen pflegten, um die Ware dann im Heimatland weiterzuverkaufen. Stattdessen kam es zu einem Halt kurz vor Budapest. Die Mannschaft musste aussteigen, kam in ein Trainingslager, und KP-Führer Rákosi höchstselbst stattete dem Team am Abend einen Besuch ab. „Niemand von euch soll Angst haben, bestraft zu werden für dieses Spiel“, soll er laut den Erinnerungen von Torwart Gyula Grosics gesagt haben. Grosics wusste, dass sie nun alle in Gefahr waren. Und er, der den Schuss zum 3:2 von Rahn nicht gehalten hatte, am allermeisten. Er sollte Recht behalten.
Vier Monate nach dem Spiel wurde Grosics verhaftet und kam wegen angeblicher Spionage vor Gericht. Es folgten Hausarrest und dreimal wöchentlich Verhöre in einem Gefängnis, die erst nach einem Jahr endeten. Grosics’ Vater verlor seinen Arbeitsplatz.
In der Mannschaft brodelte es. Wenngleich gerade die Stars die Rolle der Staatsrepräsentanten mit allerlei Annehmlichkeiten sichtlich genossen, waren viele keine Sympathisanten der Kommunistischen Partei. Neben dem starken Mannschaftsgeist waren es die Privilegien mit vielen Auslandsreisen, die das Team dennoch weiter zusammenhielten. Doch das sollte sich abrupt ändern. Als am 23. Oktober 1956 der Volksaufstand begann, hatte die Vereinsmannschaft von Honvéd Budapest, in der viele der Nationalspieler spielten, gerade ein Europapokalspiel gegen Athletic Bilbao absolviert. Die Spieler weigerten sich, im Anschluss nach Ungarn zurückzukehren. Wien wurde zunächst zur neuen Heimat. Das war den Fußballfunktionären zunächst auch ganz recht, die befürchteten, Puskás und Co. könnten zur Zielscheibe der Aufständischen werden.
Wie fatal letztlich die Entscheidung der Funktionäre und Spieler für den ungarischen Fußball sein sollte, war da noch nicht absehbar. Doch sie bedeutete letztlich das Ende der großen ungarischen Fußballära. Die Starspieler Ferenc Puskás, Sándor Kocsis und Zoltán Czibor kehrten zu ihrer aktiven Zeit nicht mehr nach Ungarn zurück. Puskás bildete ab 1958 mit Alfredo di Stefano bei Real Madrid ein kongeniales Angriffsduo, Czibor und Kocsis brillierten im Trikot des FC Barcelona. Fast noch schlimmer als der Verlust der Stars war die Flucht vieler Jugendspieler in den chaotischen Monaten der letztlich erfolglosen Revolution. Schätzungsweise 12.000 Spieler verließen ihr Heimatland. Von diesem Verlust hat sich der ungarische Fußball bis heute nicht erholt. Darüber können auch Teilnahmen wie an der diesjährigen Europameisterschaft nicht hinwegtäuschen.
Copyright: Andreas Fischer
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