Quedlinburg
Gemeinschaftsprojekt mit Lions trägt Früchte
Mittags ist es auf den langen, hellen Fluren des Hauses Weingarten 22 ruhig. Noch gehen die 19 Bewohner des historischen Fachwerkensembles, das von der Lebenshilfe Harzkreis-Quedlinburg GmbH genutzt wird, ihrer Arbeit nach. Sie sind in geschützten Werkstätten beschäftigt, die die Selbsthilfeorganisation Menschen mit Behinderungen anbietet. Aus einem breiten Spektrum, das von der Papier- oder Metallverarbeitung über eine Tierpension bis zu einem Supermarkt oder einer Kaffeerösterei mit angeschlossenem Café reicht, können die Frauen und Männer auswählen, wo sie sich engagieren möchten. Der 36-jährige Heiko hat sich für das in einem Fachwerkgebäude aus dem 16. Jahrhundert untergebrachte Café Samocca entschieden. Kaffeeduft erfüllt den geschmackvoll eingerichteten Raum, in dem der junge Mann die verschiedensten Kaffeearten zubereitet und den Gästen serviert.
Positive Entwicklung
Zurück im Weingarten, kündigt klapperndes Geschirr in der Küche am frühen Nachmittag die Rückkehr der Bewohner an, die zwischen 23 und 57 Jahre alt sind. Schon bald versammeln sie sich bei Kaffee und Kuchen, besprechen die Ereignisse des Tages oder erzählen von Problemen bei der Arbeit. Mittendrin sitzt Melanie Tischner, eine junge Heilerziehungspflegerin, die seit drei Jahren hier arbeitet. Schnell werden auch wir Besucher in die lebhafte Unterhaltung einbezogen. Einige erzählen von ihren Hobbys: von Einsätzen als Schiedsrichter beim heimischen Fußballclub, vom Theater und vom ehrenamtlichen Engagement bei der Feuerwehr. Draußen im Hof zeigt uns Simone die Kaninchen, um die sie sich liebevoll kümmert. Nachdem uns einige Bewohner Zutritt zu ihren Zimmern gewährt haben, dürfen wir auch einen Blick in eine von vier kleinen Wohnungen werfen, die hier integriert sind. Weitgehend eigenständig, ohne aber auf die Gemeinschaft verzichten zu müssen, lebt hier ein Ehepaar, das uns stolz durch seine persönlich gestalteten Räume führt.
Vor zehn Jahren, am 4. Juli 2002, wurde die Einrichtung der Lebenshilfe inmitten der historischen Altstadt von Quedlinburg feierlich eingeweiht. Zwei Jahre lang war der Gebäudekomplex, der bereits dem Verfall preisgegeben zu sein schien, saniert worden. In der Bausubstanz des stattlichen, aus vier Häusern bestehenden Anwesens spiegeln sich vier Jahrhunderte wider – beginnend 1597, als das Hauptgebäude entstand, ein Renaissancefachwerkbau, der später durch Anbauten ergänzt wurde. Bis ins 20. Jahrhundert beherbergte das repräsentative Bürgerhaus den „Gasthof zum Güldenen Schwert“. Anschließend wurde es als Mietswohnhaus genutzt, bis es durch jahrzehntelangen Leerstand so baufällig geworden war, dass Einsturzgefahr drohte.
Eine positive Entwicklung zeichnete sich ab, als Gottfried Kiesow, der damalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Stiftung Denkmalschutz (DSD), sich für die Erhaltung des bedeutenden Quedlinburger Einzeldenkmals einsetzte. Er konnte zwei begeisterte Mitstreiter gewinnen, die seine Idee, das denkmalgeschützte Haus im Weingarten zu sanieren und es behinderten Menschen zur Nutzung zu überlassen, mit großem Engagement unterstützten: Alexander U. Martens vom Lions Club und der Rotarier Wolfgang Firnhaber. Bei der Lebenshilfe, die auf der Suche nach einer zentral gelegenen Unterkunft war, stieß dieser Plan auf offene Ohren. So wurde erstmals ein gemeinsames Projekt der beiden Serviceclubs auf den Weg gebracht, das auf Bundesebene bis heute einmalig ist. Auch wenn Martens und Firnhaber viel Überzeugungsarbeit leisten mussten, gelang es, rund 650.000 Euro und damit rund ein Drittel der Gesamtkosten aufzubringen. Jeweils eine Million Mark steuerten die DSD und die Städtebauförderung zur Finanzierung bei. Um den Wohnkomplex dauerhaft zu erhalten, gründeten die beiden Clubs darüber hinaus gemeinsam eine von der DSD treuhänderisch verwaltete Stiftung. Als Dank an die großzügigen Förderer trägt die Einrichtung im Weingarten den Namen „Haus der Lions und der Rotarier“.
Wartung und Pflege nötig
Zugleich denkmal- und behindertengerecht zu sanieren, stellte eine große Herausforderung dar. Ein gravierendes Problem bestand darin, die notwendige Barrierefreiheit herzustellen. „Es gab überhaupt keine gemeinsamen Ebenen, überall waren Stufen“, erinnert sich Rainer Mertesacker, der die Maßnahme als Projektarchitekt unserer Stiftung betreute. Das bereits vor der Sanierung wegen Einsturzgefahr abgetragene vierte Haus wurde neu errichtet, die beiden schmalen, mittleren Häuser wurden zur Hofseite durch eine gläserne Galerie verbunden, die den Blick auf breite, für Rollstühle geeignete Flure sowie das kostbare Fachwerk freigibt. Für die Verwendung von Glas als Baumaterial sprach nicht nur der Lichteinfall. Glastüren helfen auch bei der Orientierung und geben Sicherheit. Aus diesem Grund wurde auch in den Aufzugschacht ein langes Fenster integriert. Es gewährt zudem einen Ausblick auf die malerische Altstadt und vermittelt den Bewohnern das Gefühl, im sozialen Gefüge verankert zu sein.
„Vom intensiv betreuten Wohnen hier im Weingarten ist das betreute Wohnen außerhalb der Einrichtung der nächste Schritt in die Selbstständigkeit“, sagt Melanie Tischner. „Wir sind hier die letzte Stufe auf diesem Weg.“ Um die Bewohner weiterhin auf ihrem Weg unterstützen zu können, soll auch die Zukunft ihres Quedlinburger Domizils auf eine sichere finanzielle Grundlage gestellt werden. Bisher waren nur kleine Renovierungen notwendig, doch nach zehn Jahren fallen erstmals größere Wartungs- und Pflegemaßnahmen an. Es sind umfangreiche Putz- und Anstricharbeiten erforderlich. Das Fachwerk an der Giebelwand muss restauriert, alle Fenster und Türen müssen überarbeitet und gestrichen werden. Möge das Haus seinen Nutzern auch in Zukunft erhalten bleiben.