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Ein Gespräch über die Lehren aus der Euro-Krise, das Verhältnis zwischen Brüssel und den Mitgliedsländern und die Frage, warum Europa trotz mancher Mängel in unser aller Interesse liegt.

Johannes Hahn13.05.2013

In stürmischen Zeiten wie diesen gibt es sicherlich leichtere Aufgaben als die argumentative Verteidigung Europas und seiner Institutionen. EU-Kommissar Hahn traf sich dennoch mit dem Rotary Magazin.


Herr Hahn, wie geht es Europa im fünften Jahr der Krise?

Richtig bewerten können wird man das erst, wenn der Pulverdampf wirklich verraucht ist. Aber schon heute können wir sagen, dass wegen dieser Krise die europäische Integration viel schneller fortgeschritten ist als das ohne äußeren Druck möglich gewesen wäre. Wir haben heute eine Integrationstiefe, die unter normalen Bedingungen nicht möglich gewesen wäre.

Was haben wir unter dieser „Vertiefung“ zu verstehen?

Zunächst einmal haben wir jetzt Mechanismen, die es uns erlauben, die Budgets der Mitgliedsstaaten zu beurteilen. Die Kommission hat meiner Meinung nach durchaus eine Legitimation als Ratgeberin, da sie selbst aufgrund ihrer vertraglichen Struktur keine Schulden machen darf. Der nächste Schritt ist dann, dass wir uns stärker inhaltlich einbringen in die Entwicklung der Regionen. Dass etwa Deutschland selbst in Krisenzeiten gut dasteht, hängt u.a. mit dem hohen Industrialisierungsgrad des Landes zusammen, während Südeuropa weniger als halb so stark entwickelt ist. Die Situation der Krisenländer zu verbessern heißt also nicht nur, ihre Haushalte in Ordnung zu bringen, sondern auch an ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zu arbeiten.


Hat Europa – die Institutionen wie auch die Mitgliedstaaten – bei den vorherigen Integrationsschritten Fehler gemacht?

Grundsätzlich finde ich, dass sich die europäische Integration durchaus mit anderen Zusammenschlüssen messen kann: In der Wirtschaft gehen weit über 50 Prozent der Mergers von Unternehmen schief, weil man nicht imstande ist, zwei unterschiedliche Kulturen zusammenzubringen. In der Europäischen Union sind es demnächst – nach dem Beitritt Kroatiens – 28 höchst unterschiedliche Staaten. Für diese Leistung fällt mir eigentlich nur das Attribut „sensationell“ ein. Natürlich kann man im Nachhinein immer sagen, dieses und jenes war ein Fehler. Doch wir müssen immer sehen, dass es für die Entwicklung Europas keinen Masterplan gibt, in dem steht, wo wir alle am Ende landen werden. Die Dinge entwickeln sich Schritt für Schritt.

Braucht Europa trotz des fehlenden „Masterplans“ nicht doch so etwas wie eine große gemeinsame Erzählung, aus der sich eine emotionale Bindung zwischen den Menschen verschiedener Völker entwickeln kann?

Natürlich. Ich glaube aber auch, dass diese gemeinsame Erzählung schon da ist, bzw. dass sie sich gerade wandelt. Die Grundlage der europäischen Integration war die Erfahrung von zwei Weltkriegen, das Friedensprojekt. Dieses Ziel ist im Grunde erreicht, die Verleihung des Friedensnobelpreises im vergangenen Herbst war beinahe so etwas wie der Schlussstrich unter diese Phase. Die Erzählung der Gegenwart ist nun, Europa fit zu machen für den globalen Wettbewerb.

Neben der Stabilisierung des Friedens hat das vereinte Europa viele unstrittige Verdienste erworben: zum Beispiel einen weltweit vorbildlichen Wohlstand und vor allem die Reisefreiheit, von der Millionen Menschen täglich profitieren. Warum gelingt es dann nahezu überall Populisten, mit einem Wahlkampf „gegen Brüssel“ Stimmen zu fangen?

Ein Grund ist sicherlich, dass wir Menschen gern andere für eigene Versäumnisse verantwortlich machen. Die Österreicher haben zum Beispiel schon in der Monarchie gern auf den Wasserkopf Wien geschimpft. In der Republik haben dann immer noch acht Bundesländer auf Wien geschimpft – und jetzt können neun Bundesländer gemeinsam auf Brüssel schimpfen. Man kann immer wieder nur appellieren an die vernünftigen Kräfte in Europa, in ihrem jeweiligen Umfeld klarzumachen, wie wichtig dieser europäische Zusammenschluss ist.

Der Charme Europas ist – wenn man es etwa mit Amerika vergleicht – seine gewachsene Vielfalt. Dies macht jedoch manche Vorgänge im Alltag schwieriger. Dafür haben wir hier Standards, die weltweit einzigartig sind: einen im Großen und Ganzen funktionierenden Rechtsstaat, eine wirksame Alters- und Gesundheitsversorgung, wir kommen ohne die Todesstrafe aus usw. Nur müssen wir dies auch immer wieder herausstellen. Das ist allerdings nicht nur Aufgabe der EU-Kommissare.

Was antworten Sie Skeptikern, die sagen: „Warum sollen wir eigentlich Geld nach Brüssel überweisen, das wir dann irgendwann vielleicht über irgendwelche Programme irgendwie wieder zurückbekommen?“ Welchen Mehrwert leistet die Europäische Union für ihre Mitglieder?

Hierzu vielleicht ein Beispiel: Wir haben eine gemeinsame Strategie entwickelt: Europa 2020. Darin steht u.a. das Ziel, die Erneuerbaren Energien auszubauen. Das hat nicht nur mit dem Klimawandel zu tun, sondern auch mit unseren wirtschaftlichen Rahmendaten. Europa hätte bei den Waren- und Dienstleistungen einen Überschuss von ca. 150 Mrd. Euro – doch dieses positive Handelsbilanzsaldo dreht ins Negative durch unsere Energieabhängigkeit (237 Milliarden Euro 2011). Der Ausbau von innereuropäisch erzeugten Erneuerbaren Energien verringert unsere Abhängigkeit von fremden Märkten. Das lässt sich jedoch nur erreichen, wenn wir überall in Europa dieses Ziel gleichermaßen verfolgen. Als ein Beitrag dazu vereinbart die europäische Regionalpolitik mit jeder Region quantifizierbare Ziele zur „Reduzierung der Energieabhängigkeit“. Da diese mitunter sehr ehrgeizig sind, brauchen wir finanzielle Anreize und somit auch ein gesamteuropäisches Budget. Allein der Forschungsaufwand in diesem Bereich – zum Beispiel beim Thema Energiespeicherung – ist so hoch, dass ihn selbst ein reiches Land wie Deutschland kaum mehr allein bewältigen könnte.


In Ihre Kompetenz als EU-Kommissar fällt u.a. die Kohäsionspolitik, also die Zielsetzung, möglichst überall innerhalb der Europäischen Union gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Wie einheitlich muss Europa sein und wie verschieden?

Ich glaube, dass der hohe europäische Entwicklungsstand in allen Bereichen eng mit der Vielfalt unseres Kontinents zusammenhängt. Im Laufe unserer Geschichte gab es immer eine Wettbewerbskomponente, die die europäischen Länder immer wieder zu Innovationen angetrieben hat. In der EU leben heute 7 Prozent der Weltbevölkerung, diese erzeugen aber über 20 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Deshalb sollten wir gar nicht nach zu viel Einheitlichkeit streben, sondern vielmehr schauen, wie wir aus der gewachsenen Vielfalt weiterhin unsere Stärken entwickeln können.


Wie solidarisch sind die Europäer untereinander?

Im Großen und Ganzen ist Europa durchaus sehr solidarisch. Der Gedanke, sozusagen einer Familie anzugehören, die sich gegenseitig hilft, wenn ein Mitglied in Schwierigkeiten steckt, ist eindeutig da. Nur muss das einzelne Mitglied dann auch immer wieder beweisen, dass es seine Situation verbessern will. Wozu keine Bereitschaft da ist – das wird ja auch immer wieder befürchtet und kritisiert –, ist die Umwandlung der EU in eine Transferunion. Deshalb versuche ich, mit meiner Arbeit einen Beitrag dazu zu leisten, dass wir nicht in einen Zustand geraten, wo immer derselbe Teil liefert und der Empfänger auch immer derselbe ist. In meinen drei Jahren Amtszeit hat mir am meisten der estnische Regierungschef imponiert, der zu mir gesagt hat, das Ziel seines Landes ist es, eines Tages Nettozahler zu werden. Das ist der Geist, den ich eigentlich von allen erwarte.

Ist nicht aber gerade der Geist – man könnte auch sagen: die verschiedenen europäischen Mentalitäten – ein Teil des Problems? In Österreich, Deutschland oder im Baltikum haben wir doch ein ganz anderes Verständnis von Staat und Gesellschaft als in den meisten Regionen Südeuropas.

Da sprechen Sie eigentlich die größte Herausforderung an. Gesetze kann man schnell ändern, wenn der politische Wille und die Mehrheiten da sind, aber Mentalitäten dauern. Auch das ist ein Befund, dass wir in Europa eine unterschiedliche Sichtweise über die Aufgabe und Rolle des Staates haben. Das drückt sich ja z.B. auch in der Steuerquote aus.

Unsere Herausforderung ist es, einen Common Sense zu schaffen, der die unterschiedlichen Mentalitäten berücksichtigt. Auch wenn man davon ausgeht, dass diese in vielerlei Hinsicht nicht zu ändern sind, wird man zum Beispiel in den südeuropäischen Staaten verstehen müssen, dass das Steueraufkommen steigen muss, wenn die Staaten wieder leistungsfähig werden sollen. Und zwar nicht durch höhere Sätze, sondern ganz einfach dadurch, dass die bestehenden Steuern auch gezahlt werden. Ich sehe übrigens gerade in Griechenland erste Einsichten darin, dass der Staat und die gesellschaftliche Ordnung Spielregeln benötigen.


Wie wichtig ist aus Brüsseler Sicht die gewachsene Identität der Regionen und Nationen in einem vereinten Europa?

Sehr wichtig! Wir haben demnächst nach dem Beitritt Kroatiens 28 Mitgliedsländer mit dann 273 Regionen. Aus der deutschen Situation heraus wissen Sie, wie unterschiedlich die Identitäten allein innerhalb eines Bundeslandes sein können. Genau diese Unterschiede machen letztlich die Stärke Europas aus, weil dort die Identifikation vorhanden ist; die Bereitschaft der Bürger, ihre eigene Region weiterzuentwickeln. Und indem sie ihre eigene Region weiterentwickeln, entwickeln sie auch das Übergeordnete weiter. Insofern sehe ich keinen Gegensatz zwischen Brüssel und einem Europa der Regionen und der Mitgliedsländer. Aus der Organisationstheorie wissen wir doch, dass man eigentlich nur sechs bis zehn Mitarbeiter direkt führen kann. Wir haben jetzt schon die Herausforderung von 28 Mitgliedsstaaten; da fehlt mir ehrlich gesagt die Phantasie, wie man 273 Regionen aus einer Zentrale heraus direkt führen könnte. Es geht also gar nicht ohne die Zwischenebenen.


Die Europaparlament-Abgeordneten Guy Verhofstadt und Daniel Cohn-Bendit, beide sicherlich nicht ganz ohne Einfluss, haben allerdings unlängst in ihrem Buch „Für Europa!“ über die „faulen Regierungen der Nationalstaaten“ hergezogen und gefordert, alle Macht den europäischen Institutionen zu geben.

Es heißt ja nicht umsonst „Der Standort bestimmt den Standpunkt“. Auch ich als europäischer Funktionsträger – das ist nicht weiter verwunderlich – ärgere mich manchmal über nationale Verhaltensweisen. Aber dann lehne ich mich zurück und sage mir, dass es ja die Aufgabe nationaler Politik ist, die Interessen des eigenen Landes wahrzunehmen. Interessen, die oftmals in einer europäischen Einbettung besser wahrgenommen werden könnten. Jeder Verantwortliche hat seinen Platz, und jeder hat seine entsprechende Aufgabe. Letztlich kann aber dieses komplexe Gemeinwesen Europäische Union nur funktionieren, wenn wir viele, viele Rädchen haben. Europa wird durch viele kleine Rädchen in Schwung gehalten, und nicht durch ein großes Rad.

Was würde passieren, wenn die Euro-Zone oder gar die EU ganz oder teilweise auseinanderbrechen? Das Gespenst des Bankrotts einzelner Euro-Staaten ist ja nicht gebannt, und der britische Premier Cameron hat gar angekündigt, die Bürger seines Landes über einen Austritt aus der EU abstimmen lassen zu wollen.

Es gibt kein Land – und Großbritannien gehört definitiv dazu –, das in einer „Stand-alone“-Situation besser dastünde als in der Europäischen Union. Der polnische Außenminister, der wirklich anglophil ist, hat dies in einem Artikel über die Mythen des britisch-europäischen Zusammenlebens anhand von ganz eindeutigen Zahlen und Fakten belegt. Europa würde zweifelsohne einen Verlust erleiden, wenn Großbritannien austritt; aber für die Briten wäre das letal. Das ist der Unterschied. Und das wissen die Verantwortlichen aber auch, sie haben es jedoch in den letzten Jahren versäumt, das ihren Wählern auch klarzumachen.

Es wäre schön, wenn die Europäer Europa lieben würden, doch das kann man nicht verordnen. Aber die Bürger und erst recht die Politiker sollten zumindest einen vernünftigen, rationalen Zugang dazu haben und populistischen Anwandlungen widerstehen. Dann werden sie sehen, dass Europa trotz mancher Mängel in unser aller Interesse ist.

Johannes Hahn
Dr. Johannes Hahn ist ein österreichischer Poltiker und seit dem 1. November 2014 EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen. Von 2007 bis 2010 war er österreichischer Bundesminister für Wissenschaft und Forschung.

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