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Afghanistan: Zeit der Abrechnung
Die Versäumnisse der Vergangenheit dürften sich nur mit größten Mühen ausgleichen lassen. Und zu einem hohen Preis. Denn einen solchen dürften die Taliban für ihr Entgegenkommen, weitere Ortshelfer ausreisen zu lassen, verlangen.
Der Traum vom Westen endet in einem Haufen zurückgelassenen Reisegepäcks. Koffer, Taschen, Beutel, zurückgelassen vor dem Flughafen von Kabul. Nun, da die Flugzeuge nicht mehr starten, braucht es auch das Gepäck nicht mehr. Achtlos liegt es am Straßenrand, der Traum vom Westen endete für viele Afghanen binnen weniger Tag an einer Müllhalde.
Die Hoffnung auf Sicherheit in Europa oder den USA hat sich für Zehntausende zerschlagen, läuft es schlecht, für immer. Stattdessen droht Terror. Die zarten Inseln westlich inspirierter Ideen – Gleichberechtigung, Bildung, Recht auf Individualität – dürften in wenigen Wochen Geschichte sein. An ihre Stelle tritt eine Religionsdiktatur, mit desaströsen Folgen für alle, die sich mit ihr nicht abfinden wollen. Der Glaube an die Versprechen der westlichen Staaten endet für die zivilen Verbündeten des Westens in einem Kellerleben: versteckt vor den Häschern, ständig in der Angst, verraten zu werden. Denn vor Ort weiß man sehr genau, wer mit wem paktiert hat. Die Zeit der Abrechnungen hat begonnen.
Ganz vorne unter den Verratenen: die deutschen Ortskräfte. Tausende hoffen, doch noch irgendwie von ihren ehemaligen Arbeitgebern und Gefährten gerettet zu werden. Jetzt, da der Himmel über dem Kabuler Flughafen wieder still ist, setzen sie auf die Reise von Außenminister Heiko Maas durch die afghanischen Nachbarländer, um doch noch einen Weg für die Verbliebenen zu finden. Immerhin: Ein Konvoi mit Mitarbeitern der deutschen politischen Stiftungen konnte Mitte dieser Woche die Grenze zu Pakistan passieren.
Zwar ist das Ergebnis der deutschen Rettungsaktion auf den ersten Blick beachtlich: Über 5300 Personen brachte die Bundeswehr nach Angaben des Auswärtigen Amts seit dem 16. August über die Luftbrücke in Sicherheit, darunter rund 4400 Afghanen. Allerdings sind unter ihnen nur 138 Ortskräfte und deren Angehörige, insgesamt 634 Menschen. Die Masse der Helfer und ihrer Familien befindet sich weiterhin in Afghanistan. Mindestens weitere 40.000 Menschen hätten in den letzten Tagen ein Hilfeersuchen gestellt, erklärte am Montag ein Sprecher des Bundesinnenministeriums.
Dass das Schicksal dieser Menschen längst hätte entschieden sein können – das ist die Schuld, mit der die scheidende Bundesregierung wird leben müssen. Die grundsätzliche Gefahr für Ortshelfer war im Grundsatz seit Jahren bekannt – seit 2013 konnten gefährdete Ortskräfte nach Deutschland kommen, vorausgesetzt, sie konnten diese Gefährdung nachweisen. Dass die dafür nötige Gefährdungsanzeige statt der erhofften Ausreise schlicht auf ein Ende des Arbeitsverhältnisses hinauslaufen konnte, hielt viele Ortshelfer ab, diese zu stellen.
So bedrohlich die Lage also seit Langem war, so sehr spitzte sie sich in den Monaten nach der Rückzugserklärung der USA noch einmal zu. Das aber ignorierten das Kanzleramt und die federführenden Ministerien geflissentlich. Bereits Mitte Mai – zu dieser Zeit hätten noch sehr viele Menschen gerettet werden können – hatten über 80 Diplomaten, Kommandanten der Bundeswehr, Wissenschaftler und andere einen Offenen Brief unterschrieben, der in aller Eindeutigkeit vor den Risiken warnte, denen die Ortskräfte ausgesetzt waren und in den kommenden Wochen und Monaten immer stärker ausgesetzt sein würden.
Die Bundesregierung gab sich unbeeindruckt. Ihr Kurs zeigte sich am 23. Juni, als die Koalitionsfraktionen einen von den Grünen eingebrachten Antrag zur "großzügigen Aufnahme afghanischer Ortskräfte" ablehnten.
Dahinter mögen – angesichts der Lage erstaunlich bieder anmutende – Motive stehen wie etwa jenes, dass die Koalitionsfraktionen im Parlament gemeinsam gegen Oppositionsanträge stimmen, wie der CDU-Abgeordnete und ehemalige Oberst der Bundeswehr, Roderich Kiesewetter im Gespräch mit dem Tagesspiegel erklärte. Vor allem aber ein Anliegen dürfte die Entscheidung der Koalitionäre beeinflusst haben: nämlich dass sich die Masseneinwanderung des Jahres 2015 nicht wiederholen dürfe. Das Zaudern war begründet: Zu groß waren in deren Folge die innenpolitischen Verwerfungen, die der schon totgeglaubten AfD einen neuen, kaum mehr erhofften Schub bescherte und das politische Klima in Deutschland spürbar rauer werden ließ. Und gerade jetzt, kurz vor den Bundestagswahlen…
Dabei gehören Ortskräfte zu einer anderen Kategorie als Flüchtlinge und Migranten. Ortskräfte – Dolmetscher, Vermittler, Chauffeure, Handwerker, Köche – sind gegenüber Deutschland in Vorleistung getreten, und zwar erheblich. Gewiss, manche dürften das weniger aufgrund politischer Überzeugung denn aus finanziellen Erwägungen getan haben. Aber alle wussten, worauf sie sich einließen und mit wem sie zusammenarbeiteten. Und viele – darauf weisen insbesondere Bundeswehrangehörige immer wieder hin – im Rahmen ihrer Arbeit oft genug ihr Leben aufs Spiel setzten.
Die Rettung dieser Menschen ist nicht nur ein ethischer Imperativ. Er wäre, wenn auch unintendiert und eher nebenbei, ein sinnvoller Beitrag zur Steuerung der Einwanderergesellschaft gewesen, die die Bundesrepublik de facto längst ist. Denn gekommen wären Migranten, von denen man aus guten Gründen annehmen darf, dass sie sich mit der politischen Kultur des Gastlands identifizieren.
Solche Menschen einfach ihrem Schicksal zu überlassen ist nicht nur ethisch nicht vertretbar. Es dürfte auch für künftige Auslandseinsätze der Bundeswehr, sollte es sie weiterhin geben, schwerwiegende Folgen haben. "Nehmen wir die gefährdeten Ortskräfte nicht auf, untergraben wir unsere eigene Glaubwürdigkeit", sagte mir Bundeswehr-Hauptmann Marcus Grotian, Erster Vorsitzender des "Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte" Ende Juni in einem Interview, das ich für die Deutsche Welle mit ihm führte. Eine Ablehnung sei strategisch kontraproduktiv. "Denn in Regionen, deren Sprache wir kaum kennen, sind wir auf Helfer zwingend angewiesen. Nehmen wir diese Leute nun nicht auf, wird sich das auch anderswo rumsprechen. Man wird sich dann zweimal überlegen, ob man uns helfen will."
Tatsächlich dokumentierte die Abstimmung im Juni eine erstaunliche strategiepolitische Kurzsichtigkeit der Koalitionsabgeordneten: Wie will man Mitarbeiter gewinnen, die nicht wissen, ob sie sich im Ernstfall auf ihren Partner verlassen können? Die fürchten müssen, dieser Partner trete, sobald es opportun erscheint, den Rückzug an und lasse die meisten seiner Verbündeten zurück, und zwar auch dann, wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass diese tödlichen Racheakten zum Opfer fallen?
Auf Gefahren dieser Art hatten die Unterzeichner des Offenen Briefes – und nicht nur sie – hingewiesen. Die Koalitionäre wischten es ungerührt zur Seite. Zwei Chartermaschinen, mit denen das Bundesverteidigungsministerium Ende Juni rund 300 Afghanen aus Masar-i-Scharif hatte nach Deutschland bringen wollten, starteten schließlich doch nicht. "Zu dem geplanten Zeitpunkt konnten die Voraussetzungen wie Pass und Visa für die sichere Abfertigung der möglichen Passagiere nicht mehr erfüllt werden", hieß es später seitens des Vereidigungsministeriums. Und noch am 19. August wurden Bundesinnenminister Horst Seehofer und sein Staatssekretär Hans-Georg Engelke auf einer Pressekonferenz darauf angesprochen, dass Ortskräfte ihr Visum mangels einer funktionsfähigen konsularischen Vertretung in Afghanistan gar nicht mehr beantragen konnten, sondern nur noch in Nachbarländern wie etwa Indien und Pakistan. Die Antwort des Staatssekretärs: Dafür sei sein Haus "nicht zuständig". Diese Verschiebung von Verantwortlichkeit zugelassen zu haben, ist der Vorwurf, den sich Bundeskanzlerin Merkel fortan gefallen lassen muss.
Die Versäumnisse der Vergangenheit dürften sich, wenn überhaupt, dann nur mit größten Mühen ausgleichen lassen. Und zu einem hohen Preis. Denn einen solchen dürften die Taliban für ihr Entgegenkommen – die Ortshelfer ausreisen zu lassen – verlangen.
Die Ankündigung etwa, man werde die Entwicklungshilfe kürzen, sei kaum ein wirksamer Hebel, sagt Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, den ich Ende August für die Deutsche Welle interviewte. Denn: "Wer annimmt, die Taliban seien an Entwicklung interessiert, der kennt sie einfach nicht." Die Reise von Außenminister Maas deutet an, dass sich mit den Taliban womöglich doch reden lässt. Schon ist von 100 Millionen Euro humanitärer Hilfe und weiteren 500 Millionen für Unterstützungen in der Region die Rede – Geld, das auch dazu dienen dürfte, die politischen Lebenslügen der notorisch bildungsfeindlichen Taliban zu finanzieren.
Kersten Knipp ist Autor und Journalist mit den Schwerpunkten arabische und romanische Welt. Auf den Online-Seiten der Deutschen Welle berichtet er regelmäßig über die politische Entwicklung im Nahen Osten.
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