Titelthema
Verlorenes Vertrauen
Der Machtwechsel in Afghanistan setzt Europa in jeder Hinsicht unter Druck. Auf Veränderungen lässt sich allenfalls hoffen.
Demonstrieren verboten. Einer der ersten Erlasse des nun von den Taliban geführten Innenministeriums galt den Protestkundgebungen. Diese sind seit Anfang September „bis auf Weiteres“ nicht mehr zulässig. Sie störten die öffentliche Ordnung, auch würden Menschen belästigt, begründete das Ministerium seinen Entscheid.
Schwindende Freiheitsrechte, die sich kurz zuvor bereits bei der Vorstellung der Übergangsregierung andeuteten. Schon da zeigten die Taliban, was sie von politischer Vielfalt halten: nichts. Dem Kabinett gehören ausschließlich deren eigene Leute an, also ausschließlich männliche Paschtunen. Angehörige anderer ethnischer Gruppen – ihre Zahl schwankt je nach Definition zwischen 50 und 200 – bleiben außen vor, ebenso die Frauen des Landes. Läuft es schlecht, werden sie alle hinnehmen müssen, was den Taliban in den Sinn kommt.
Allerdings flackern derzeit immer wieder Proteste auf, zuletzt etwa in Kandahar, wo Anwohner einer Siedlung gegen einen Räumungsbescheid auf die Straße gingen. Die Einwohner einer Siedlung des Militärs sollten weichen, um Wohnraum für Milizen der Taliban zu schaffen.
Andere Afghanen hingegen demonstrieren nicht, sondern bereiten ihre Flucht aus dem Land vor. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen nimmt an, dass bis Ende 2021 rund eine Million Afghanen versuchen werden, ihr Land zu verlassen. Sie dürften vor allem zu den gebildeten Bürgern gehören, jenen, die für das stehen, was der Westen über Jahre als politische Verheißung im Angebot führte: Pluralismus, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit.
Mit ihrer Flucht vollzieht sich der nächste Akt jenes Exodus, der sich seit Jahren andeutete und in zahlreichen – im Westen kaum bemerkten – Tragödien vorbereitete. Einher gingen sie mit einer schleichenden Erosion des Glaubens an die vom Westen gemachten Versprechen.
Die Dimension dieser Tragödien ist ablesbar an Zahlen. Insgesamt starben in dem Krieg nicht nur rund 120.000 Milizen der Taliban, sondern auch über 67.000 Angehörige des afghanischen Militärs und der Polizei sowie knapp 48.000 Zivilisten (Quellen: Watson Institute der Brown-Universität, New York Times, Uppsala Conflict Data Program). Insbesondere aus deren Sicht war der Afghanistan-Einsatz eine nicht endende Schreckensfahrt. Dem Bureau of Investigative Journalism in London zufolge starteten die Interventionsstaaten allein zwischen 2015 und 2020 über 13.000 Drohnenangriffe, dabei sollen zwischen 4000 und 10.000 Afghanen getötet worden sein, darunter mindestens 1600 Kinder.
Zahlen wie diese verdeutlichen den gewaltigen Unterschied der Wahrnehmung dieses Krieges. Während im Westen von Präzisionswaffen und einem durch sie ermöglichten „sauberen“ Krieg die Rede ist, erleben die Afghanen diesen auf ganz andere Weise, nämlich als dauerndes Verhängnis – als unberechenbare Schicksalsmacht, die jederzeit den Tod aus den Wolken schicken kann. Diejenigen, die gekommen waren, das Land zu befreien, praktizierten aus Sicht der zu Befreienden eine tödliche Arroganz. „Wir schossen regelmäßig auf Menschen, deren Identität unklar war“, schreibt der ehemalige US-Soldat Erik Edstrom in seinem Buch Un-American. A soldier’s reckoning of our longest war. „Die Afghanen wurden von uns komplett entmenschlicht.“
Verhängnisvoller Pakt mit Warlords
Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass der Glaube der Afghanen an die Heilsversprechen des Westens auf das Äußerste strapaziert und teils eben auch zerstört wurde. Die Menschen mussten erleben, dass die westlichen Staaten im Kampf gegen ihre Gegner – Al-Kaida und die Taliban, später auch den „Islamischen Staat“ – auf Partner setzten, mit denen viele Afghanen nichts zu tun haben wollten, nämlich auf Warlords, Drogenproduzenten, lokale Gewaltherrscher. Akteure, die im Kampf für die Zivilisation auf solche Verbündete setzten, konnten Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung kaum mehr beanspruchen. Was aber passiert, wenn sich Absichtserklärungen und Handlungen nicht decken, hätte man angesichts bisheriger Erfahrungen wissen können: Potenzielle Partner wenden sich ab, suchen Zuflucht anderswo – in dieser Region oft genug im politischen Islam.
Für den Westen bedeutet das Resultat dieser Entwicklung einen massiven Einflussverlust – nach dem Nahen Osten, wo er auf den Krieg in Syrien und dessen Folgen kaum hatte einwirken können, nun auch in Südasien. Mit den Taliban hat sich dort nun ein konfessionelles Regime etabliert. Der Bogen islamischer und/oder islamistischer, aber auch säkularer autoritärer Regierungen erstreckt sich nun nahezu über die gesamte Region. Gemeinsam ist ihnen eines: Von Pluralismus und Bürgerrechten halten sie nichts. Staaten wie China und Russland, wenngleich hinsichtlich möglicher terroristischer Gefahren durchaus in Sorge, werden diese Entwicklung mit Genugtuung verfolgen: Freiheitsrechte wie überhaupt liberales Denken haben es nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in dessen geografischer Fortsetzung nach Asien immer schwerer. Der Westen mag Sympathisanten in der Region haben. Allein, sie sind nicht an der Macht, im Gegenteil: Sie sind auf jede Unterstützung angewiesen.
Doch in den Genuss dieser Unterstützung kommen zunächst, wenngleich indirekt, die Taliban. Mitte September kamen auf einer UN-Geberkonferenz 1,2 Milliarden für Afghanistan zusammen – und zwar zunächst ohne politische Vorbedingungen. Gewiss, das Geld ist dringend nötig, in Afghanistan droht nach dem politischen Umbruch wie auch aufgrund einer Dürre eine Hungersnot. Auch soll das Geld den Zusammenbruch staatlicher Institutionen verhindern. All dies ist dringend notwendig, ethisch ebenso wie politisch. Ein „failed state“ von der Größe Afghanistans würde die gesamte Region erschüttern, vornehmlich in Form von Terrorismus und Flüchtlingsbewegungen. Wahr ist aber auch: Das Geld kommt zumindest indirekt auch dem neuen Regime zugute, das von der vornehmsten Regierungsaufgabe überhaupt, dem Staatserhalt, zumindest in Teilen entlastet ist. Die Hilfe von außen lässt sich in erheblichen Legitimationsgewinn im Inneren umwandeln.
Wirtschaftlich dürfte der Gewinner des Machtwechsels China heißen. Zwar hält sich die Regierung in Peking derzeit noch zurück und beobachtet die Entwicklung im Nachbarland. Aber die seit Jahren gepflegten Kontakte zwischen Peking und den Taliban dürften absehbar auf eine umfassende Zusammenarbeit hinauslaufen. Für China bedeutet das nicht nur den Zugriff auf die Bodenschätze Afghanistans, darunter auch für die digitale Informationstechnologie so wichtige Rohstoffe wie Lithium und Kobalt. Die Kooperation wird auch die chinesischen Exportwege enorm verkürzen. Ein Blick auf die Karte zeigt es: Statt des langen Seewegs werden sich Exportwaren absehbar über den Landweg, in Erweiterung der Neuen Seidenstraße transportieren lassen, mit Folgen auch für den europäischen Markt, auf dem China noch preisgünstiger auftreten kann.
Der Machtwechsel in Afghanistan setzt Europa in jeder Hinsicht unter Druck. Auf Veränderungen lässt sich allenfalls hoffen. Nach Stand der Dinge dürften sie, wenn überhaupt, in Afghanistan selbst beginnen.
Kersten Knipp ist Autor und Journalist mit den Schwerpunkten arabische und romanische Welt. Auf den Online-Seiten der Deutschen Welle berichtet er regelmäßig über die politische Entwicklung im Nahen Osten.
Weitere Artikel des Autors
Afghanistan: Zeit der Abrechnung
4/2020
Selbsterhaltungskampf
9/2018
Schicksalstage eines Kontinents
Mehr zum Autor