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Selbsterhaltungskampf

Titelthema - Selbsterhaltungskampf
Russlands Präsident Wladimir Putin (l.) und Syriens Machthaber Baschar al-Assad ordnen die Verhältnisse im Nahen Osten neu. © Alexei Druzhinin/DPA/Picture Alliance

Das Elend an der türkisch-griechischen Grenze ist nicht nur ein humanitäres Desaster. Es konfrontiert die Staaten der Europäischen Union auch mit der Frage, für welche politische Kultur sie in Zukunft stehen wollen.

Kersten Knipp 01.04.2020

Den Flüchtlingen an der türkisch-griechischen Grenze bläst im Wortsinn der Wind ins Gesicht. Mitte März brachte das griechische Militär riesige, normalerweise in Windkanälen für Fallschirmspringer eingesetzte Ventilatoren an die Absperrungen. Sie sollten den Rauch und das Tränengas zurückblasen, die von türkischer Seite über die Zäune wehten.

Das Bild der Ventilatoren, im Verein mit bewaffneten griechischen Soldaten und, in einigem Abstand, selbst ernannten griechischen „Heimatschützern“, ist geeignet, Europas Image als Hort der Menschenrechte infrage zu stellen oder sogar zu ruinieren.

Syriens Vertreibungspolitik

Das Jahr 2015 werde und solle sich nicht wiederholen, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederholt erklärt, und darin ist sie sich einig mit den anderen EU- und Regierungschefs. Unkontrollierte Grenzübergänge sollen ausgeschlossen sein, heißt es in den europäischen Hauptstädten – ungeachtet des menschlichen Leids, das sich vor Europas Toren abspielt.

Die innenpolitischen Motive Merkels wie auch anderer Regierungschefs liegen auf der Hand. Zum einen darf Europa nicht den Anschein wecken, erpressbar zu sein. Zum anderen aber geht es darum, rechtspopulistische Parteien abzuwehren. Die kritisieren nicht nur die Flüchtlingspolitik des Jahres 2015, sondern zielen mit nationalistischen Vorstellungen auf das Herz der EU. Der restriktive Kurs an den Außengrenzen ist auch ein Selbsterhaltungskampf nach innen.

Die Bilder an der türkisch-griechischen Grenze zeigen aber auch, wie wenig angemessen die EU auf den Krieg in Syrien reagiert hat. Nach über 70 Jahren eines fast durchgehenden Friedens sind die europäischen Regierungen ebenso wenig wie die Bürger mit der Vorstellung vertraut, dass schiere Gewalt sich am Ende durchsetzen könnte.

Genau das ist in Syrien aber der Fall. Menschenschlächter vom Schlage des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und seiner Helfer, allen voran das von Wladimir Putin geführte Russland und der Iran unter dem Regime der Mullahs, zögern nicht, auf Gewalt zu setzen. Alle drei betreiben in Syrien eine Vernichtungs- und Vertreibungspolitik, die aus westlicher Perspek- tive historisch überwunden schien.

Die meisten Syrer machen sich über ihr Regime seit Jahrzehnten keine Illusionen mehr. Der Schriftsteller Mustafa Khalifa, Jahrgang 1948, wurde als linker Oppositioneller 1982 verhaftet. Die nächsten zwölf Jahre verbrachte er in den Gefängnissen des Regimes. Dessen Brutalität verdichtet sich in Khalifas Romanen in schwer zu verkraftenden Szenen. So etwa, als die Häftlinge gezwungen werden, das offene Rinnsal im Hof leer zu trinken – eine Mischung „aus Speichel, Rotz, Urin und anderem Dreck“. Die Gewalt setzt sich auf breiter Front im Krieg fort: 6,7 Millionen Syrer hatten im Jahr 2018 ihr Land UN-Angaben zufolge verlassen, fast ebenso viele, 6,6 Millionen, irren als Binnen- flüchtlinge umher.

Auf diese Katastrophe reagieren die europäischen Staatschefs seit Jahren immer gleich: mit Appellen, humanitärer Hilfe, Konferenzen und Vermittlungsbemühungen. Weder Giftgasangriffe noch Massenvertreibungen noch Folter konnten sie dazu bewegen, nennenswerten militärischen Einfluss auf diesen Krieg zu nehmen. Auch nahmen sie es hin, dass das globale diplomatische Forum, die Vereinten Nationen, mit Blick auf Syrien einen Totalaus- fall erlitt: Im UN-Sicherheitsrat verhinderte Russland wiederholt jede Verurteilung und jede nennenswerte Initiative gegen seinen syrischen Schützling. Umgehend begriff man in Damaskus, dass man von Europa nichts zu befürchten hat. Der Kontinent begnügt sich mit der Rolle des mahnenden Zuschauers.

EU gerät zunehmend unter Druck

Natürlich: Es gab und gibt viele gute Gründe zur Zurückhaltung, allen voran den, das Leben europäischer Soldaten zu schüt- zen und den Krieg nicht noch weiter auszudehnen. Doch die vorsichtige Haltung hat einen Preis: Die EU hat in der Flüchtlingskrise keinerlei Gestaltungs- kraft. Sie agiert nicht, sie reagiert nur, und zwar ausgesprochen hilflos. Sie mag Flüchtlinge auf Lesbos versorgen. Doch sie ist hilflos, wenn es darum geht, die Fluchtursachen vor Ort zu bekämpfen.

So gerät sie zunehmend unter Druck. Dies umso mehr, als sie sich am Mittelmeer einem zweiten Krisenherd gegenübersieht: Libyen. Dort hat sich seit dem Sturz des Machthabers Muammar al-Gaddafi 2011 über die Jahre ein ebenfalls international befeuerter Krieg entwickelt, der in den letzten Monaten zunehmend „hybride“ Züge trägt: Zwischen staatlichen und privaten Akteuren ist kaum mehr zu unter- scheiden. Kampfdrohnen und Söldnertruppen dienen auch dazu, die Identität der jeweiligen Akteure zu verschleiern. So entziehen sich die Akteure der Kritik – und unterminieren von Libyen aus die Autorität des UN-Sicherheitsrats.

Für die Staaten der EU werden sich künftig immer dringlichere Fragen stellen: Wie handhaben sie das Asylrecht? Was tun sie, um der Verletzung der Menschenrechte entgegenzutreten? Kann sich die Verteidigung der Menschenrechte auf Appelle beschränken? Und was tun angesichts der Ohnmacht der Vereinten Nationen? Sind sie noch ein taugliches Forum?

Ignorieren lassen sich diese Fragen nicht. Das zeigt sich etwa mit Blick auf die Türkei, die angesichts der Zusammenstöße mit syrischen und russischen Truppen nun den Beistand der NATO fordert. Der wird ihr mit guten Gründen verweigert. Aber die Frage nach der Geschlossenheit des Bündnisses steht im Raum. Fragen muss Europa sich auch, wie es zu den Autokraten im arabischen Raum steht, deren rigoroser Umgang mit weiten Teilen der eigenen Bevölkerung für eine „Stabilität“ sorgt, die ihren Namen nicht verdient. Denn sie ist nur eine auf Zeit.

Auch muss die EU klären, welches Ver- hältnis sie künftig zum Sieger des Syrien-Krieges, zu Baschar al-Assad, pflegen will. Dessen Regime hat sich zahlloser Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht. Will man ein solches Regime unterstützen, etwa durch Wiederaufbau? Der Großteil der Hunderttausenden in Deutschland lebenden und wohl hier bleibenden Syrer dürfte davon alles andere als begeistert sein. In anderen Worten: Der Krieg ist mit Deutschland längst auf das Engste verwoben.

Europäischen Rechtsraum schleifen

Der Krieg in Syrien ebenso wie der in Libyen nagen an dem europäischen Selbstverständnis – und zwar sehr zur Zufriedenheit einiger autoritärer Regierungen in mittel- und unmittelbarer Nachbarschaft der EU. Noch liefert die demokratische, rechtsstaatliche Verfassung der EU trotz aller Mängel die Folie, vor der sich alle anderen politischen Systeme bewerten lassen müssen. Gut kommen sie dabei – auch in den Augen eines Großteils ihrer eigenen Bürger – nicht weg. Insofern haben die Verfechter eines autoritären Stils ein natürliches Interesse, den europäischen Rechtsraum zu schleifen. Nebenbei geht es in Syrien auch darum.


Buchtipp:

 

Kersten Knipp,
Paris unterm Hakenkreuz, wbg Theiss,
472 Seiten, 28 Euro

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Kersten Knipp

Kersten Knipp ist Autor und Journalist mit den Schwerpunkten arabische und romanische Welt. Auf den Online-Seiten der Deutschen Welle berichtet er regelmäßig über die politische Entwicklung im Nahen Osten.

 

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