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Alles nur virtuell?

Titelthema - Alles nur virtuell?
Lebenssimulation • Die Sims: Mit diesem Spiel lassen sich eigene Charaktere erstellen und steuern. Man bestimmt ihr Aussehen, ihre Eigenschaften und ihr soziales Miteinander, gründet eine Familie, baut ein Haus und lässt sie verschiedene Alltagsdinge erledigen. Die erste Ausgabe kam 2000 auf den Markt. © ea

Digitale Spiele und die Sorge um die fortschreitende „Entwirklichung“ und missachtete Verantwortung.

Benjamin Jörissen01.08.2023

Im Hinblick auf die Frage nach Virtualität versus Realität in Bezug auf digitale Spielkultur ist es zunächst notwendig, das „Virtuelle“ vom „Digitalen“ zu unterscheiden. Unter „Virtualität“ wird oft so etwas wie das Auseinanderfallen von Schein und Sein verstanden: Wir „bewegen“ uns durch imaginäre Räume, die keine realen Räume sind, vielleicht reiten wir dabei ein (Stecken-)Pferd, das kein Pferd ist. Die beiden Momente des sinnlichen Eintauchens (Immersion) der Folgenlosigkeit in Bezug auf das jeweilige virtuelle Handeln – beides Charakteristika eines jeden auch nicht digitalen Spiels – bilden zusammen mit dem Imaginär-Bildhaften die Komponenten, die einen Komplex „Virtualität“ (scheinhaft, konsequenzlos) von einem Komplex „Realität“ (existent, folgenreiche Wirkzusammenhänge) unterscheiden lassen. In der verführerischen Einfachheit dieser Unterscheidung können wir dann etwa die Realität des Computerspielens und seiner sozialen und personbezogenen Effekte einerseits von der Virtualität digitaler Spielwelten in ihrer Konsequenzlosigkeit unterscheiden. In der Folge neigen wir auch dazu, das Digitale als irgendwie virtuell und scheinhaft einem Non-Digitalen als real und authentisch gegenüberzustellen. Und wir vermischen schließlich damit zumeist auch die Vorstellung, dass das Digitale immer mit einem Entzug von materiellen und körperlichen Erfahrungen einhergeht, also auf körperloser, abstrakter Information basiert.

Naiver Glaube an die objektive Welt

Doch so einfach sind die Zusammenhänge allenfalls auf den ersten Blick. Es ist immerhin ein Vierteljahrhundert her, dass die wissenschaftlichen und philosophischen Debatten zum Thema mit einigen vermeintlichen Selbstverständlichkeiten aufgeräumt haben. Unter anderem versammelt der heute klassische und immer noch spannende Band der Philosophin Sybille Krämer aus dem Jahr 1998 unter dem Titel Medien, Computer, Realität: Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien viele wichtige Perspektiven. Skizzenhaft zusammengefasst:

1) Auf philosophischer Seite hat die Auseinandersetzung zwischen „realistischen“ und „antirealistischen“ Positionen gezeigt: Ein naiver Glaube an die von uns wahrgenommene „objektive Welt“, oder auch „Außenwelt“ unseres „Ich“, ist zwar im Alltagsvollzug zumeist sinnvoll und notwendig (während wir auf eine Wand zulaufen, ist es nur bedingt ratsam, die Existenz der Wand als solche philosophisch zu hinterfragen), aber es lässt sich darauf keine stringente Argumentation aufbauen. Sprich: „Gefühlte Realität“ ist keine solide Basis für eine haltbare Kritik von „Virtualität“. Also taugt sie auch nicht dazu, einen Gegensatz von „Realität“ und „Virtualität“ einfach zu behaupten. Diese Einsichten aus der Philosophie waren schon damals nicht unbedingt neu – nur konnte man sie, nachdem die „neuen Medien“ Einzug in den Alltag gehalten haben, nicht mehr als philosophisches Theoriespiel abtun.

2) Die Debatten und Forschungen aus dieser Zeit haben zudem auch aufgezeigt, dass „Realität“ und „Virtualität“ in vielfacher Hinsicht verflochten sind. Theater und Kunst, so hob der Philosoph Wolfgang Welsch hervor, setzen permanent „Wirkliches“ und „Nicht-Wirkliches“ zueinander in Bezug, und dies seit der Antike. Wirklichkeit wird zum (hier: szenischen) Bild, und die fiktive Wirklichkeit der aufgeführten Bilder lässt die Alltagswirklichkeit anders erscheinen. Ein schönes Beispiel für eine solche Durchdringung sind auch Tanz- und Bewegungskulturen: Durch Spiele wie Fortnite finden immer wieder Gesten und Siegestänze Eingang in die Populär- und Jugendkulturen.

3) Doch seit Anbruch der Moderne, so hält Welsch ebenfalls fest, hat sich die Verbindung zwischen den Sphären gelockert. Hatte man traditionell das Virtuelle als das immer nur der Möglichkeit nach Bestehende verstanden, so emanzipiert sich seitdem das Spiel mit den Symbolen. Aus heutiger Sicht erweist sich das vermeintlich Virtuelle zunehmend als hochgradig real. Das ist in der Kunst etwa dort der Fall, wo Symbolisches und Reales direkt miteinander verschränkt werden: In Marina Abramovićs Rhythm 0, Christoph Schlingensiefs Container-Aktion, Milo Raus Genter Altar ist Performance und Theater eben nicht mehr „nur Theater“, sondern körperliche und soziale Realität. Es scheint, als wäre der Gegensatz von Realität und Virtualität eher das Ergebnis einer lange währenden Strategie, beide Sphären „sauber“ zu halten – die Kunst ästhetisch und autonom, die Realität rational und kausal.

Nicht zuletzt aber schauen wir heute, im Rückblick, mit einiger Verwunderung auf die „rein symbolischen“ Prozesse einer im frühen 20. Jahrhundert von Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli und anderen entwickelten Mathematik, die von der Atomtechnik bis zur Digitalität völlig neuartige technologische Realitäten hervorgebracht hat. Es ist faszinierend zu sehen, dass die vermeintlich so virtuellen und abstrakten Berechnungen der Quantentheorie nicht nur buchstäblich den gesamten Planeten mit Technologie überzogen haben, sondern dass sie zugleich die kleinsten (Ab-)Gründe dessen, was wir für physikalische Wirklichkeit halten, hinterfragen.

Der Quantenphysiker Carlo Rovelli bringt das Resultat in seinem Sachbuch Helgoland wie folgt auf den Punkt: „Die beste Beschreibung der Wirklichkeit, die wir bislang gefunden haben, ist die in Form von Ereignissen, die ein Netz von Wechselwirkungen bilden. Die ‚wesenhaften Dinge‘ sind nur kurzlebige Knoten in diesem Netz. […] Jedes Ding ist nur das, als das es sich in anderen spiegelt“ (Seite 178). – Dies ist wohlgemerkt keine Philosophie, sondern die Interpretation einer angewandten Mathematik, deren Berechnungen sich als extrem wirksam erwiesen haben. Die „wesenhaften Dinge“, die aus Sicht der gegenwärtigen Physik immer nur aus Beziehungen hervorgehen und immer wieder aus diesen hervorgehen müssen – das sind Atome, Moleküle, Zellen, Kristalle oder auch Petunientöpfe, Pottwale und Subjekte wie wir: materielle „Realitäten“, die auf nichts als der Möglichkeit von Beziehungen basieren.

Computerspiele ermöglichen neue Weltbezüge

Hören wir also endlich auf, „Realität“ und „Virtualität“ naiv entgegenzusetzen. Fragen wir lieber, auf welche Weise die Beziehungen, aus denen wir selbst hervorgehen und die wir verändern und umschaffen, zugleich neue Möglichkeiten und neue Wirklichkeiten hervorbringen, für die wir (mit-)verantwortlich sind. Auf welche Weise also stiften digitale Technologien Verbindungen, welche Wirklichkeiten erzeugen sie damit, welche möglichen Wirklichkeiten erzeugen sie gerade nicht oder schließen diese sogar aus? Computerspiele ermöglichen (neue) Weltbezüge: Initiativen wie Games for Change und Stiftung digitale Spielekultur heben die leider eher wenigen Spiele daraus hervor, die ihre Verantwortung zur Veränderung sozialer und ökologischer Realitäten mit virtuellen Ausdrucksmitteln aktiv und zugleich reflektiert ergreifen.


34
Prozent aller männlichen Gamer beschäftigen sich mit Simulationsspielen. Bei den Frauen sind es 

21 
Prozent. Zu den beliebtesten Spielen gehören neben den „Sims“ auch Landwirtschafts- und Flugsimulatoren. 
(Quelle: Statista 2023)

Prof. Dr. Benjamin Jörissen ist Erziehungswissenschaftler an der Friedrich- AlexanderUniversität ErlangenNürnberg mit dem Schwerpunkt Kultur und ästhetische Bildung. fau.de