Titelthema
Am Scheideweg
Vor 130 Jahren schrieb Leo Tolstoi, der Patriotismus sei dumm und unmoralisch. In wenigen Wochen wird sich zeigen, wie dumm und unmoralisch Deutschland wählt.
Nach einer Lesung in Bremen war ich auf dem Weg nach Hamburg. Der Bahnsteig war übervoll von einer Menge junger, schwarz gekleideter Frauen und Männer. Sie sahen nicht wie Fußballfans aus, sondern verhielten sich sowohl am Bremer Bahnhof als auch im Gedränge des Zuges anständig, wie es sich für gute Fahrgäste der Deutschen Bahn gehört. In Hamburg stiegen sie aus, bildeten eine Kolonne auf dem Bahnsteig und marschierten in die Stadt, wobei sie skandierten: „Ausländer scheiße!“ Ich war erstaunt, wie schnell Passagiere zu Sturmtruppen werden.
Wir haben in Deutschland bereits gesehen, wie sich ein Land auf demokratische Weise in einen totalitären Staat verwandelt. Ist eine Wiederholung wirklich möglich? Die Umwandlung des Nazi-Regimes in eine demokratische Gesellschaft war nur durch eine militärische Niederlage möglich. Hätte sich Hitler-Deutschland ohne eine totale Niederlage 1945 von innen heraus zu einem Rechtsstaat neu erschaffen können? Auch Putins System wird Krieg führen, bis es besiegt ist.
Eine Demokratie zu sein, bedeutet auch, die Verantwortung für die Länder zu übernehmen, die sich gegen totalitäre Aggressoren wehren. Es hat mir wehgetan, die Appelle deutscher Intellektueller zu sehen: „Keine Waffenlieferungen an die Ukraine!“ Was wäre geschehen, wenn die USA England nicht geholfen hätten, als es allein in Europa gegen die deutsche Kriegsmaschine stand?
Deutschland hätte zusammen mit den anderen westlichen Demokratien der jungen russischen Demokratie in den 90er Jahren auf die Beine helfen sollen. Stattdessen haben sie der neuen Diktatur auf die Beine geholfen. Die Russen hatten keine historische Erfahrung mit der demokratischen Lebensweise, man musste ihnen einfach am eigenen Beispiel zeigen, wie ein Rechtsstaat funktioniert. Die demokratischen Staaten sollten ihre eigenen Gesetze nicht nur deklarieren, sondern anwenden. Ich habe damals als Dolmetscher gearbeitet und gesehen, wie die reichen Russen mit ihrem gestohlenen Geld im Westen ihre Konten eröffneten. Statt dem Recht Geltung zu verschaffen, hat der Westen das schmutzige Geld mit großer Freude genommen. Die Russen haben schnell begriffen: Beim großen Geld hört der Rechtsstaat auf. Die Milliarden aus Russland korrumpierten die westlichen Eliten in den letzten 20 Jahren durch und durch, man denke nur an Ex-Bundeskanzler Schröder. Ohne diese Unterstützung im Westen wäre die Entstehung der kriminellen Diktatur nicht möglich gewesen. Es liegt nun in der Verantwortung der westlichen Länder, darunter auch Deutschland, ihren Fehler zu korrigieren: Sie haben diesem Monster geholfen zu wachsen, sie sollten nun der Ukraine mit allen Mitteln, vor allem mit Waffen, helfen, es zu zerstören.
Die Menschheit erlebt die größte Revolution in ihrer gesamten Geschichte: den Übergang vom patriarchalischen Stammesbewusstsein zum individuellen Bewusstsein. Ich allein – nicht mein Führer, nicht mein Volk, nicht mein Staat – bin verantwortlich für die wichtigste Entscheidung in meinem Leben: Was ist gut, und was ist böse? Und wenn ich sehe, dass mein Volk, mein Land, Böses tut, werde ich gegen mein Land und gegen mein Volk sein. Der Slogan „Let’s make America (Russland, Deutschland, Ungarn – man kann hier viele Länder einfügen) great again“ führt uns direkt zurück zum Stammesbewusstsein. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung lebt immer noch in einem patriarchalischen Weltbild: Wir Russen seien von Feinden umgeben, die uns vernichten wollen. Putins Propaganda ist eine Kopie von Goebbels, nur das Wort „deutsch“ wurde durch „russisch“ ersetzt.
Alle Diktatoren missbrauchten den Patriotismus. Der Zweck der Schule in einer demokratischen Gesellschaft besteht darin, kritisch denkende Bürger auszubilden. Die Aufgabe der Schule in einem totalitären Land besteht darin, „Patrioten“ zu produzieren, die bereit sind, für ihr Vaterland (sprich: für das bestehende Regime) zu sterben. In Russland gibt es Hunderttausende Schulen, in jeder Schule hängt ein Porträt von Leo Tolstoi, aber kein Literaturlehrer wird neben dem Porträt des großen Humanisten seine Worte aufhängen: „Patriotismus ist Sklaverei.“
Heute geht es nicht nur um Konflikte zwischen Russland und der Ukraine, zwischen dem Iran und Israel. Im 21. Jahrhundert herrscht ein globaler Krieg zwischen Barbarei und Kultur, zwischen totalitären Regimen und Rechtsstaaten, zwischen überholtem patriarchalem Bewusstsein und der Idee der freien Persönlichkeit. Demokratische Länder brauchen keinen Krieg, alle Probleme zwischen Deutschland, der Schweiz oder den Niederlanden können durch Verhandlungen gelöst werden. Eine Diktatur lebt von Feinden, und wenn es keine gibt, werden immer Feinde erfunden. Die Kriege auf der Erde werden weitergehen, bis das letzte diktatorische Regime fällt. Die Demokratie ist fragil. Hunderte Menschen auf einem Stuttgarter Weihnachtsmarkt in die Luft zu jagen oder Kinder in einem Leipziger Kindergarten mit dem Schrei „Allahu akbar“ zu überfallen, würde ausreichen, um der AfD einen Wahlsieg zu sichern. Das darf nicht geschehen. Die Demokratie kann und muss sich verteidigen.
Ich möchte gerne glauben, dass die demokratische Entwicklung Deutschlands in den Jahrzehnten nach der Niederlage des Nationalsozialismus nicht umsonst war, dass das Stammesbewusstsein aus vergangenen Zeiten die Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht wieder infizieren kann.
© Tanja Draškić Savić