Titelthema
Angeschlagen, aber nicht am Ende
Der Abstieg der Volksparteien ist dramatisch – aber nicht unumkehrbar.
Die Diskussion über die Krise der Volksparteien ist so alt wie die Volksparteien selbst, und bisher haben sie noch jede Prophezeiung ihres baldigen Endes überlebt. Es ist jedoch unbestreitbar, dass sie aufgrund des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels mit längerfristigen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die drei Parteien, um die es hier geht, die CDU, die CSU – zusammengenommen als Union bezeichnet – und die SPD, haben ihre historischen Wurzeln und Vorläufer in den Massenintegrationsparteien des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Deren Anhängerschaft bestand aus relativ homogenen sozialen Großgruppen, der Arbeiterschaft und den Katholiken, die in voneinander abgeschottete soziale Milieus eingebunden waren. Diese Milieus, in die man hineingeboren wurde, die das tägliche Lebensumfeld bestimmten, die durch eine Reihe von Organisationen, insbesondere natürlich die Gewerkschaften und die katholische Kirche, gestützt wurden und deren Wertesysteme sich wesentlich voneinander unterschieden, bildeten ein eindimensionales politisches Sozialisationsumfeld und führten zu festen, langfristigen, nicht nur rational-interessengeleiteten, sondern auch gefühlsmäßigen Bindungen an die das Milieu politisch repräsentierenden Parteien: die SPD und das Zentrum.
Ausgehend von diesen historischen Wurzeln, begann nach dem Zweiten Weltkrieg die Herausbildung der Volksparteien. Maßgeblich hierfür waren zwei Grundsatzentscheidungen der politischen Eliten, die über die traditionelle Kernwählerschaft hinaus neue Wählerschichten erschlossen und so das für eine Volkspartei charakteristische breite Wählerspektrum schufen. Die katholische Führungsschicht stand vor der Frage, ob man das katholische Zentrum wiederbeleben oder eine interkonfessionelle Union aller Christen anstreben sollte. Man entschied sich für den Unionsgedanken und schuf damit die Voraussetzung für eine auf einem christlich-sozialen, ökonomisch liberalen und gesellschaftspolitisch konservativen Wertefundament ruhenden Volkspartei, wobei man der bayerischen Sondersituation durch die Gründung einer eigenen Partei Rechnung trug. Bei der SPD wurde der Wandel zur Volkspartei mit ideologisch gemäßigten Positionen durch das Godesberger Grundsatzprogramm von 1959 vollzogen.
Konjunkturen der Volksparteien
Bis Ende der 1960er Jahre konnten die Volksparteien ihre Wählerunterstützung deutlich steigern. Auf dem Höhepunkt ihrer Dominanz erzielten sie bei den Bundestagswahlen in den 1970er Jahren rund 91 Prozent der Stimmen und 92 Prozent der Bundestagsmandate. Danach begann jedoch ein längerfristiger Abwärtstrend, der sich auf vielfältige Prozesse des ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandels zurückführen lässt. Die Veränderung der Berufsstruktur, die Mobilitätssteigerung, die zunehmende Globalisierung, der Säkularisierungsprozess, die Bildungsexpansion und die Individualisierung der Gesellschaft haben zu einer Verringerung der Größe der traditionellen Unterstützergruppen, zu einer Aufweichung der engen Beziehung zwischen sozialer Gruppenzugehörigkeit und Wertorientierungen sowie zu einer Erosion der traditionellen sozialen Milieus geführt. Damit einher ging eine Abnahme der langfristigen festen Parteibindungen, wobei allerdings auch heute noch mehr Wähler fest an die Union gebunden sind als an die SPD.
Der dadurch bewirkte längerfristige Abwärtstrend der Volksparteien wurde jedoch auch durch die Parteien selbst immer wieder deutlich verschärft, abgemildert oder sogar ins Gegenteil verkehrt. Dies geschah vor allem durch politische Sachentscheidungen, aber auch durch bestimmte Personalentscheidungen. Das ist auch nicht verwunderlich, denn das Ausmaß der Unterstützung für die Parteien bei Wahlen wird eben nicht nur durch den langfristigen Faktor der Parteibindung bestimmt, sondern auch – und durch den Bindungsrückgang in zunehmendem Maße – von zwei kurzfristigen Faktoren: den Orientierungen der Wähler gegenüber den inhaltlichen Positionen der Parteien in wichtigen Sachthemen und gegenüber dem Spitzenpersonal. Der geschilderte Entwicklungstrend führt somit nicht unausweichlich zum Ende der Volksparteien, sondern kann von ihnen selbst beeinflusst und durch ein optimales inhaltliches und personelles Angebot an die Wähler sogar umgekehrt werden.
Konfliktlinien
Beeinflusst wurde der Trend vor allem durch deutliche Positionsveränderungen der Parteien auf einer der Konfliktlinien des Parteiensystems. Der parteipolitische Wettbewerb wird seit längerer Zeit durch eine ökonomische und eine gesellschaftspolitische Konfliktlinie geprägt. Der ökonomische Sozialstaatskonflikt dreht sich um die Rolle des Staates im wirtschaftlichen Wettbewerb, also um die Frage, inwieweit die Wettbewerbsergebnisse durch staatliche Interventionen in Form von Umverteilungsmaßnahmen beeinflusst werden sollen. Er wird zwischen den Verfechtern der Grundwerte soziale Gerechtigkeit und Marktfreiheit ausgetragen. Der gesellschaftspolitische Konflikt betrifft die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens. Dort stehen sich multikulturell-linksliberale und nationalbetont-konservative Werthaltungen vor allem in den Bereichen Familienbild, Rolle der Frau, gleichgeschlechtliche Ehe, Multikulturalismus vs. deutsche Leitkultur und Öffnung vs. Abschottung in Bezug auf Migration gegenüber. Wenn man das traditionelle Links-Rechts-Schema benutzen will, dann gibt es somit sowohl im ökonomischen als auch im gesellschaftspolitischen Bereich eine „linke“ und eine „rechte“ Position.
Die Volksparteien müssen bei der Positionierung auf den beiden Konfliktlinien einen schwierigen Balanceakt vollführen: Einerseits müssen sie voneinander unterscheidbar sein, um den Wählern inhaltliche Argumente für ihre Wahl zu liefern. Andererseits müssen sie in der Nähe der Mitte bleiben, weil an den Rändern zu wenig Wähler sind. Bei der Unterscheidbarkeit helfen den Parteien ihre unterschiedlichen historischen Traditionslinien, die zu unterschiedlichen Markenkernen, d.h. durch die Wähler zugeschriebenen politischen Kernkompetenzen, geführt haben. Der traditionelle Markenkern der Union ist ihre Wirtschaftskompetenz, der Markenkern der SPD ihre Sozialkompetenz. Volksparteien brauchen in ihrem Markenkern die Kompetenzführerschaft in der Bevölkerung. Um ihre immer heterogener werdende Wählerschaft optimal anzusprechen, müssen zu diesen Kernkompetenzen aber auch Sekundärkompetenzen bei wichtigen anderen Themenbereichen hinzukommen. Die Verbindung von Kern- und Sekundärkompetenzen bildet sozusagen einen Akzeptanzkorridor seitens ihrer Wählerschaft, innerhalb dessen sich die Parteien mit ihrem Politikangebot halten müssen, der nur schwer zu verändern ist und dessen Verlassen für sie gravierende Konsequenzen haben kann.
Beispiele dafür gibt es sowohl für die SPD als auch für die CDU. Bei der SPD war dies die Agenda 2010, mit der Gerhard Schröder die Partei im Sozialstaatskonflikt nach Ansicht eines Teils der Funktionäre, Mitglieder und Wähler der SPD zu weit in Richtung einer marktliberalen Positionierung verschob. Dies führte zu Wahlniederlagen und einer Strukturveränderung des Parteiensystems, nämlich einer Westabspaltung von der SPD in Gestalt der WASG, deren Vereinigung mit der damaligen PDS zur Linkspartei und damit der Schaffung einer gesamtdeutschen Konkurrenzpartei zur SPD mit demselben Markenkern der sozialen Gerechtigkeit, die ihr bis heute einen Teil ihres Wählerpotenzials wegnimmt. Die CDU wurde durch Angela Merkel sowohl ökonomisch als auch gesellschaftspolitisch nach „links“ gerückt, also hin zu mehr staatlicher Regulierung und weg von konservativen Werthaltungen. Damit hatte sie lange Zeit Erfolg. Durch das Traumergebnis bei der Bundestagswahl 2013, wo die Union ihren Stimmenanteil um 7,7 Prozentpunkte auf 41,5 Prozent steigern und fast die absolute Mehrheit der Bundestagsmandate holen konnte, gelang sogar die deutliche Umkehr des langfristigen Negativtrends. Danach lag sie zwei Jahre lang in den Umfragen auf der Höhe ihres Wahlergebnisses. Dies änderte sich ab dem September 2015, weil Angela Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik aus der Sicht des konservativen Teils ihrer Wählerschaft den gesellschaftspolitischen Akzeptanzkorridor verließ, was zu einer massiven Abwanderung führte. Die Union verlor in den Umfragen etwa ein Fünftel ihres Wählerpotenzials und konnte sich davon bis zur Bundestagswahl 2017 nicht mehr wirklich erholen. Zudem führte diese Sachentscheidung zum Erstarken der AfD, die der Union bei der letzten Wahl fast eine Million Stimmen wegnahm.
Die Bedeutung des Personals
Zu den Sachentscheidungen kamen in neuerer Zeit Personalentscheidungen, die die Wählerunterstützung wesentlich beeinflussten. Das beste Beispiel ist die deutliche Verbesserung der Umfragewerte der SPD nach der Entscheidung, Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten zu machen. Der Schulz-Hype hielt allerdings nur zwei Monate und nach der Bundestagswahl war das Führungschaos um Schulz und seine Wortbrüche der wesentliche Grund für den weiteren Absturz der SPD. Den gleichen Negativeffekt hatte der eskalierende Streit zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer im Sommer für die Union. Hinzu kam die unselige Entscheidung zur Versetzung und damit einhergehenden Beförderung des Verfassungsschutzpräsidenten Hans- Georg Maaßen. Danach verloren alle drei Parteivorsitzenden in der Bevölkerung dramatisch an Vertrauen, und die Umfragewerte ihrer Parteien erreichten Tiefstwerte, die vor allem bei der SPD dem für eine Volkspartei charakteristischen Ausmaß an Wählerunterstützung nicht mehr entsprechen.
Als Fazit lässt sich konstatieren: Die goldene Zeit der Volksparteien scheint vorbei zu sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich der gegenwärtige Negativtrend fortsetzen muss. Wenn die Parteien den Wählern ein optimales personelles Angebot machen und verlorengegangenes Vertrauen in ihre politische Problemlösungsfähigkeit zurückgewinnen, können sie auch heute noch deutlich höhere Werte erzielen.
Prof. Dr. Oskar Niedermayer ist Parteienforscher und leitete von 1993 bis 2017 das Otto-Stammer-Zentrum der Freien Universität Berlin. 2009 erschien „Die Zukunft der Mitgliederpartei“.
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