Titelthema
Ankunft im Osten?
Die deutschen Einheitsschmerzen zwischen Wirtschaft und Identität lassen sich nicht mit panischem Ausschütten finanzieller Leistungen bekämpfen
Drei Landtagswahlen in Ostdeutschland im September werfen ihre Schatten voraus: In Thüringen, Sachsen und Brandenburg droht ein Szenario, in dem es schwierig bis aussichtslos werden könnte, an der AfD oder dem BSW vorbei eine Regierungsmehrheit zu bilden. Zwar sind beide Parteien auch in Westdeutschland erfolgreich, doch fielen die Ergebnisse bei den letzten Wahlen zum Europaparlament im Osten und Westen sehr unterschiedlich aus. Auf Karten der Wahlergebnisse tritt die vor 34 Jahren untergegangene innerdeutsche Grenze deutlich hervor. Diese Phantomgrenze erscheint auch in kartografischen Visualisierungen von Alter, Einkommen, Arbeitslosigkeit, Kinderbetreuung unter drei Jahren, Ausländeranteil und weiteren Faktoren, weshalb Sylvia Sasse von der DDR als einer „Zombie-Republik“ sprach.
Das Warten auf das Ende der Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland scheint sich somit in ein absurdes Theaterstück verwandelt zu haben, auch wenn die Bundesregierung Jahr für Jahr im Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit tapfer weitere Fortschritte erklärt. Der Soziologe Steffen Mau verkündete dagegen in seinem jüngsten Buch Ungleich vereint das Ende solcher Hoffnungen: Statt Angleichung konstatiert er „Ossifikation“. Mit diesem Wortspiel beschreibt er, dass die in Ostdeutschland nach 1990 entstandenen sozialen und mentalen Frakturen verknöchert und somit dauerhaft geworden seien.
Diese Diagnose stützt sich auf eine sich allmählich ausbreitende Erkenntnis: Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten basierte auf einem Modell, das Ungleichheit durch Angleichung beseitigen wollte. Marcus Böick und Christoph Lorke sprechen von „Nachbau West“. Als Vorbild für Ostdeutschland diente die alte Bundesrepublik. Deren politische Führungsschicht fürchtete sich 1990 vor den westdeutschen Wählern, die kritisch auf die drohenden Kosten der Wiedervereinigung blickten. Ihnen wurde deshalb versprochen, dass sich für sie durch die Wiedervereinigung nichts ändern würde. Gleichzeitig versprach Bundeskanzler Helmut Kohl den Ostdeutschen in einem später zum geflügelten Spottwort gewordenen Ausspruch „blühende Landschaften“. Wie aber sollte diese Quadratur des Kreises gelingen? Dazu diente vor allem die Hoffnung auf ein erneutes „Wirtschaftswunder“ nach dem Vorbild des westdeutschen Wiederaufbaubooms, diesmal aber in Ostdeutschland.
Anwendung veralteter Konzepte
Der Fokus der Überlegungen zur Gestaltung der deutschen Wiedervereinigung lag somit auf der Wirtschaft, was dem damaligen Zeitgeist entsprach: 1992 führte Bill Clinton seinen erfolgreichen Wahlkampf in den USA unter der Parole „It’s the economy, stupid“. Der anfängliche Siegesrausch der alten Bundesrepublik vernebelte jedoch den Blick dafür, dass kaum Konzepte existierten, wie eine staatssozialistische Gesellschaft in eine liberale, auf Privateigentum gegründete Gesellschaft zu transformieren sei. Anders als in den weiter östlich gelegenen postsozialistischen Demokratien kamen in Ostdeutschland weniger die heute viel gescholtenen neoliberalen Reformkonzepte zum Zuge, sondern eher die alten ordoliberalen Rezepte: Statt Milton Friedman wurde Ludwig Erhard zum Säulenheiligen einer marktwirtschaftlichen Transformation Ostdeutschlands.
Bei der als Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gestalteten deutschen Vereinigung wurde somit das politische, rechtliche und wirtschaftliche System der alten Bundesrepublik unverändert auf Ostdeutschland übertragen. Hinzu kam der grundgesetzliche Auftrag zur Herstellung „einheitlicher Lebensverhältnisse“ (Artikel 72 Absatz 2). 1994 wurde dieser auf „gleichwertige Lebensverhältnisse“ herabgestuft, worin sich die Ängste westdeutscher Länderregierungen vor Dauertransfers in den Osten niederschlugen. Schon seit den frühen 1990er Jahren kursierten Schreckensszenarien, wonach der Osten zu einem deutschen Mezzogiorno zu werden drohe, wobei linke und konservative Ökonomen miteinander beim Entwurf solcher Bilder wetteiferten: Die einen warnten davor, dass der Osten hauptsächlich als Absatzmarkt für Produkte aus dem Westen sowie als billige Arbeitskraftreserve dienen würde. Die anderen warnten dagegen vor finanziellen Dauertransfers von West nach Ost, die eher dem Konsum als Investitionen dienen würden.
Inzwischen sind solche Stimmen weitgehend verstummt. Stattdessen überwiegen differenziertere Analysen, die vor allem einen Gegensatz von boomenden Leuchtturmregionen und abgehängten Regionen in Ostdeutschland betonen. Vorzeigeprojekte wie Tesla in Grünheide konkurrieren mit Tristesse in Schwerin und anderswo, wo oftmals den einstigen Absatzmärkten in der Sowjetunion und dem billigen Öl aus Russland nachgetrauert wird. Allerdings finden sich ähnliche Gegensätze nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in Westdeutschland sowie in vielen anderen Ländern der Welt, etwa in Frankreich, Italien, den USA und Polen.
Nicht nur mit Blick auf Ostdeutschland wird der Gegensatz zwischen boomenden städtischen Regionen und ländlichen beziehungsweise deindustrialisierten abgehängten Regionen als wichtiges Erklärungsmoment für den Aufstieg populistischer Parteien herangezogen. Der Vergleich mit den 1990er Jahren zeigt jedoch, dass sich die Auseinandersetzungen heute oftmals weniger um Ökonomie als um Identität drehen, auch wenn dahinter oftmals wirtschaftliche Krisenwahrnehmungen stecken. Das gilt für Ostdeutschland nicht weniger als für die USA. Selbstverständlich existieren zahlreiche sozialstatistisch belegbare Faktoren, welche die verbreitete Unzufriedenheit mit dem politischen System der Bundesrepublik in Ostdeutschland erklären helfen. Dies reicht von der ungleichen Vermögensverteilung über den Anteil von Ostdeutschen an den Eliten der Bundesrepublik bis zum statistischen Überschuss junger Männer in manchen ostdeutschen ländlichen Regionen. All dies verdichtet sich oftmals zur Wahrnehmung einer generellen Benachteiligung und mangelnder Wertschätzung. Freilich existiert auch ein umgekehrtes Phänomen: gewissermaßen ein ostdeutsches „cool“. Doch insgesamt scheint es, dass in Westdeutschland vor allem Abstiegsängste grassieren, während in Ostdeutschland eher das Gefühl vorherrscht, um das mit der Wiedervereinigung verbundene Aufstiegsversprechen geprellt worden zu sein.
Wechsel der Vorzeichen
Ging es nach 1990 darum, die politischen und ökonomischen Folgen der DDR zu überwinden, so geht es heute um die Nachwirkungen dieses Umbauprozesses unter westdeutschen Vorzeichen. Dass dabei zumindest die Alltagswelt der DDR gelegentlich nachträglich verklärt wird, ist eine indirekte Folge davon. Es wird also nötig sein, sich von der ohnehin fragwürdigen Fiktion zu verabschieden, dass mit der politischen Einheit auch eine gesellschaftliche Einheit verbunden sein würde. Dies anzuerkennen, könnte ein erster Schritt sein, um die politischen Probleme in Ostdeutschland, denen sich die repräsentative Demokratie ausgesetzt sieht, zu verstehen und vielleicht Antworten zu entwickeln, die über das panische Ausschütten neuer finanzieller Leistungen hinausgehen.
Buchtipp
Constantin Goschler
Schuld und Schulden: Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945
Wallstein 2005,
543 Seiten, 29 Euro
Constantin Goschler ist Professor für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur deutschen und europäischen Zeitgeschichte und Mitherausgeber des „Jahrbuchs Deutsche Einheit“.
© Matthias Komm