https://rotary.de/gesellschaft/ankunft-in-der-realitaet-a-11375.html
Titelthema

Ankunft in der Realität

Titelthema - Ankunft in der Realität
Zu einem fundierten Wissen über die Welt gehört auch ein breites Korrespondentennetz: Reporter (hier ein Korrespondenten-Team des Bayerischen Rundfunks), die nicht nur aus dem Internet erfahren, was jenseits deutscher Grenzen passiert, sondern die ein Gespür für ihr Berichtsgebiet entwickeln und Netzwerke pflegen, die tiefere Einsichten ermöglichen. Allerdings können – oder wollen – sich viele Medien dieses aus Kostengründen nicht mehr leisten. © BR/Liora Ben-Haim

Das Rotary Magazin trauert um seine Autorin Sylke Tempel, die am 5. Oktober 2017 bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen ist. Erst vor wenigen Tagen verfasste sie für die aktuelle Oktober-Ausgabe den folgenden Beitrag über die Bedeutung der deutschen Außenpolitik und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit unseres Landes. In unruhigen Zeiten wird Sylke Tempels kluge und souveräne Urteilskraft künftig fehlen.

Sylke Tempel01.10.2017


Man war, so war den zahlreichen Kommentaren über das Fernsehduell zu entnehmen, ganz zufrieden. Kanzlerin Angela Merkel und ihr Herausforderer waren auf die wichtigsten Themen angesprochen worden: Bildung, Mieten, Renten, Jobsicherheit, Staatsverschuldung. Außenpolitik kam gerade einmal eineinhalb Minuten vor, und dabei ging es eigentlich um europäische Innen- bzw. Finanzpolitik, nämlich Griechenland und die Euro-Krise. Den Kommentatoren hatte der Bereich „Außen und Sicherheit“ ganz offensichtlich nicht gefehlt. Das war im September 2013 und der Herausforderer hieß Peer Steinbrück.

Außenpolitische Zeitenwende

Nur wenige Monate später, im Februar 2014, verkündeten der damalige Bundespräsident Joachim Gauck, SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier und CDU-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zum Auftakt der Münchener Sicherheitskonferenz, dass Deutschland zukünftig außen- und sicherheitspolitisch mehr Verantwortung übernehmen müsste. Die Stimmung unter den internationalen Experten im Saal war deutlich: Dies war ein historischer Moment. Nach Jahren, in denen die Bundesrepublik sich ganz kommod unter den breiten Fittichen vor allem der USA fühlen konnte, war Berlin nun bereit, eine aktivere Rolle als Gestalter zu spielen.

Niemand aber verstand „außenpolitische Verantwortung“ als Signal für mehr militärische Einsätze; seltsamerweise aber wurden die Reden medial genau so interpretiert: als eine Art Militarisierung der deutschen Außenpolitik. Ganz offensichtlich gibt es in der Außenpolitik oft eine Kluft zwischen Sendung und Empfang, zwischen den sogenannten „Entscheidungsträgern“ und den Vermittlern, sprich den Medien – und damit potenziell auch immer zwischen Entscheidungsträgern und breiter Öffentlichkeit.

Vielleicht hätte dieser Auftakt der wichtigsten sicherheitspolitischen Konferenz im Bereich „Absichtserklärungen und Sonntagsreden“ verbucht werden können, wäre Deutschland nicht von der harschen Wirklichkeit eingeholt worden: der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland im März 2014 und der folgende Überfall auf die Ukraine; dem syrischen Bürgerkrieg, einer der größten humanitären Katastrophen seit 1945; dem Vormarsch des Islamischen Staates, den Terrorattentaten des IS innerhalb Europas; dem Auseinanderfallen Libyens; der Flüchtlingswelle von 2015, den wachsenden autoritären Tendenzen der Türkei, dem „Brexit“ und schließlich der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA – und damit eines Präsidenten, der die wesentlichen Fundamente der deutschen Politik, nämlich eine westliche Sicherheitsallianz und europäische Integration, für altruistischen Unsinn hält.

Veränderte Wirklichkeit

Es war ein harter Aufprall in einer neuen Realität: Deutschland war eben nicht nur von Freunden umgeben wie im kurzen Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer. Deutschlands Grenzen sind in Wirklichkeit Europas Grenzen und Europas unmittelbare Nachbarn – Ukraine, Türkei, Syrien, Nordafrika – sind Problemländer und -regionen. Und wie steht es jetzt mit der öffentlichen Debatte, da plötzlich ganz andere Anforderungen an dieses Deutschland gestellt werden?

Außenpolitik ist Innenpolitik, das war in der ersten halben Stunde des „Kanzlerduells“ 2017 spürbar, während der die ModeratorInnen fast ausschließlich nach der Flüchtlingspolitik fragten. Und wenn Talkshows die Foren der öffentlichen Debatte sind, dann lässt sich gewiss Eines ganz empirisch feststellen: So häufig ist noch nie über unser Verhältnis zur Türkei und zu Russland, die atomare Bedrohung durch Nordkorea, den „Brexit“, die Wahlen in Frankreich, die Zukunft Europas oder die amerikanische Regierung beziehungsweise einen US-Präsidenten diskutiert worden, den man nicht nur hierzulande zu hassen liebt. Deutlich wird auch: Die sogenannte „außenpolitische Community“, die Experten in den Think Tanks, Stiftungen und Universitäten, ist größer geworden. Und sie versteht – in Teilen zumindest – Außenpolitik nicht mehr als elitäre Angelegenheit, die die breite Masse ohnehin nicht allzu viel angeht, weil irgendwie viel zu komplex.

Jugendliche im Gaza-Streifen: Der Konflikt um Palästina polarisiert wie nie - und wird heftig diskutiert. © APA Images via Zuma Wire/Zuma/action press

Wo gesprochen wird, wird zuweilen auch gestritten – und zwar heftig. 2013 mochte sich die eine oder andere Abendbrot-Konversation noch an der Frage entzünden, ob man „den Griechen“ denn noch „ewig“ helfen sollte, oder ob es jetzt mal gut sein solle. Existenziell waren derlei Debatten nicht, man konnte dann doch meist getrost, fröhlich und harmonisch zum Dessert übergehen.

Ganz anders im Jahr 2015 und folgende: Über der Frage, ob Russland nun ein Aggressor ist oder nicht, an der Frage der Aufnahme und Integration von Flüchtenden sind manche Tischtücher unter Freunden und in Familien zerschnitten worden. Noch nie ist Außenpolitik so leidenschaftlich, so polarisiert und unversöhnlich diskutiert worden.

Zunehmendes Interesse

Ist das gut? Reicht ein „Schon mehr“ als Unterstützung für eine „Neue Verantwortung“, die in einer demokratischen Gesellschaft eben auch von einer Mehrheit der Bürger getragen werden muss? Und wenn sie schon nicht getragen wird (der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wurde nie von einer Mehrheit der Deutschen gut geheißen) – reicht es dennoch für ein Mandat, das unsere Repräsentanten im Bundestag erteilen können? Oder anders ausgedrückt: Hat der Bürger zwar nicht viel für, aber auch nichts wesentliches gegen die Außenpolitik unserer Regierung? Und hier muss die Antwort heißen: Es ist schon besser geworden in den vergangenen Jahren, aber es reicht noch lange nicht.

Beginnen wir mit der Vogelperspektive: In einem Artikel für den britischen Guardian über den deutschen Wahlkampf schrieb die französische Journalistin Natalie Nougayrede jüngst, es fehle an „Gestaltungsambition“. Ja, es wird viel diagnostiziert, viel Richtiges gesagt zur allgemeinen komplizierten Lage der Welt.

Aber Berlin hat nun eine neue Rolle. Es kann nicht mehr Sicherheits-Trittbrettfahrer sein, was Ausrüstung, aber auch die Entwicklung von Ideen und Optionen betrifft. Es wird mehr an Material (auch sogenannte „Hard Power“), aber auch sich selbst politisch noch mehr einbringen müssen, weil es gefragter ist denn je. Man will „da draußen“ – innerhalb und auch jenseits Europas – wissen, was „die Deutschen“ vorhaben. Heißt: Deutschland braucht eine wesentlich ausgeprägtere Strategiefähigkeit, die im Übrigen auch an Akademien, in Think Tanks und Diplomatenausbildung gelehrt werden muss. Es braucht aber auch, was Neudeutsch gerne Public diplomacy genannt wird: eine ordentliche Kommunikation. Nach innen wie nach außen.

Kommunikation ist aber nicht von irgendwelchen Spin doctors zu entwickeln. Sie umfasst eine Hol- und eine Bringschuld bei Entscheidungsträgern, Vermittlern und bei den Bürgern selbst. Anders als das britische Westminster ist der Bundestag nie recht als Ort der heißen Debatte angelegt worden.

Genau dessen bedarf es aber: Grundsatzreden von Kanzler, Außen- und Verteidigungsminister, ja auch Minister der Entwicklungszusammenarbeit – und eine hoffentlich ebenso kluge wie kontroverse Auseinandersetzung mit der Opposition zu den außenpolitischen Fragen der Nation wären wünschenswerter und dringender denn je. Ein diplomatisches Korps, das sich nicht vor öffentlichen Formaten wie Town Hall Meetings scheut, sondern offensiv das Gespräch jenseits der üblichen Verdächtigen aus der Community sucht. Ein Sprache, die ebenso offen wie klar und nicht akademisch verquast ist, wäre etwas, das die sogenannte „Fachcommunity“ dringend zu erlernen hätte.

Mut zur vertieften Analyse

Und wenn wir schon bei einer Wunschliste sind: Es wäre wunderbar, wenn Medien nicht ganz so schnell auf jeweils neue Themen aufspringen würden, sondern sich die Zeit nähmen, anstatt des schnellen Kommentars lieber eine ausführliche Recherche zu bieten. Wenn sie es wagen würden, doch noch einmal über die Situation in der Ost-Ukraine zu berichten, auch wenn gerade jeder über die Atomtests Nordkoreas spricht. Wenn sie den alten journalistischen Grundsatz befolgen würden, dass man eben nicht das haben muss, was „alle anderen“ auch haben, sondern jene Themen verfolgten, die sie selbst für wichtig halten.

Dazu gehört etwas, das mit der Medienkrise immer schwerer zu erhalten sein wird: ein finanziell aufwändiges Korrespondentennetz. Sprich: Kollegen, die nicht aus dem Internet erfahren, was jenseits deutscher Grenzen passiert, sondern die ein Gespür für ihr Berichtsgebiet entwickeln und Netzwerke pflegen, die tiefere Einsichten ermöglichen.

Zu all dem gehört ein Bürger, der auch willens ist, sich auf komplexe Probleme der Außenpolitik einzulassen, der weiß, dass verlässliche Information Geld kostet. Der das tun muss, was gute außenpolitische Experten immer wieder tun müssen: Infrage zu stellen, ob das, was man zu wissen glaubt, wirklich schon ausreicht. Und vor allem: Zu wissen, dass außenpolitische Entscheidungen oft Entscheidungen zwischen lauter unzulänglichen Optionen sind. Das würde für das Anwachsen einer klugen, informierten und breiten außenpolitischen Debatte vorerst schon genügen.