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Über die DDR als Unrechtsstaat und die Frage, warum sich immer noch viele Menschen mit diesem Begriff schwer tun

»?Auch in der Diktatur scheint die Sonne, nur nicht für jeden?«

25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer diskutiert die gesamtdeutsche Öffentlichkeit über die Frage, ob die Deutsche Demokratische Republik ein Unrechtsstaat war oder nicht. Während die einen für ihre Bewertung die Struktur des Staates zugrundelegen, betonen andere, dass auch die totalitäre Gesellschaft private Nischen hatte. Die Beiträge diese November-Titelthemas widmen sich wichtigen Aspekten der Debatte.

13.11.2014

Herr Jahn, wann immer darüber diskutiert wird, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, beantworten Sie diese Frage mit einem eindeutigen „Ja“. Warum?

Roland Jahn: Mir ist wichtig, dass wir das System klar als das benennen, was es war. Nämlich ein Unrechtssystem, in dem von Staats wegen Unrecht begangen worden ist, in dem Menschen nicht frei ihren politischen Willen ausdrücken konnten, in dem in Artikel 1 der Verfassung der Staat als „politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ beschrieben war. Und diese Partei, die SED, hat bekanntermaßen die ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Institutionen – Justiz, Polizei, Grenztruppen und nicht zuletzt das Ministerium für Staatssicherheit – dazu genutzt, ihren Machtanspruch zu verteidigen. Das alles klar zu benennen hilft der Aufarbeitung.

Kritiker des „Unrechtsstaats“-Begriffs sagen, dass es in der DDR zwar Unrecht gegeben hat, aber nicht überall, weshalb sie den Begriff ablehnen.
Natürlich gab es – wie in jeder anderen Diktatur auch – Bereiche, in denen der Staat nicht, bzw. kaum präsent war. Viele Menschen haben sich auch ihre privaten Nischen gesucht, wo sie sich ein Stück Freiheit nehmen und die Auseinandersetzung mit dem System vermeiden konnten. Das ist eine legitime Form zur Wahrung der Selbstbestimmung.

Doch wenn wir die DDR als Staat bewerten wollen, dann geht es um ihre Organisation und Strukturen. Und hierbei ist entscheidend, dass das in der DDR geschehene Unrecht nicht die Taten einzelner waren, sondern dass es erstens ein staatlich durchgesetztes Unrecht war, und dass man zweitens kaum eine Chance hatte, sich da dagegen zu wehren. Das macht einen Unrechtsstaat aus. Wenn ich mich wehren kann mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen Unrecht, zum Beispiel gegen Behördenwillkür, dann kann ich dafür sorgen, dass sich etwas ändert in meiner Gesellschaft. Aber wenn ich nicht einmal die Chance habe, mich zu wehren, weil das staatliche Recht meine persönlichen Rechte unterdrückt, dann muss man von einem Unrechtssystem, von einem Unrechtsstaat sprechen.

Warum wird diese Debatte heute – ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall – noch so erregt geführt?
Die SED und ihre Nachfolgeparteien haben es geschickt vermocht, die Kritik am Staat DDR auf ihre früheren Bewohner zu projizieren. Und so lehnen viele Menschen den Begriff „Unrechtsstaat“ deshalb ab, weil sie diesen als Angriff auf ihre eigene Biographie ansehen. Eine solche Haltung finden Sie zum Teil sogar bei Menschen, die nicht der SED oder einer der Blockparteien oder einer Massenorganisation angehört haben. Und diejenigen, die im System als Stütze funktioniert haben, wollen natürlich nicht hören, dass sie einem Unrechtsregime gedient haben. Das alles erklärt, warum der Begriff „Unrechtsstaat“ so emotional diskutiert wird.

Aber ist die Aussage – insbesondere der Nachfolger der alten Staatspartei –, dass die Charakterisierung der DDR als Unrechtsstaat auch das Leben ihrer 17 Millionen Einwohner diskreditiert, nicht eine ungeheure Anmaßung? Denn damit erheben sie doch – und das noch nicht einmal indirekt – den Anspruch, dass ihnen die Biographien derjenigen, die sie einst beherrschten, immer noch gehören.
Richtig. Und deshalb ist es so wichtig, zwischen dem Staat als System und seinen Bewohnern zu trennen. Wir sollten in diesem Zusammenhang auch bedenken, dass die Strategie der SED-PDS-Linkspartei u.a. auch dadurch erleichtert wurde, dass sich viele Ostdeutsche in der Bundesrepublik als Bürger zweiter Klasse fühlten und immer noch fühlen.

Hat die Nach-Wende-Gesellschaft Fehler in der Aufarbeitung der DDR-Geschichte gemacht? Zum Beispiel, indem sie sich zu sehr auf die Staatssicherheit konzentrierte und andere Bereiche des Staates – allen voran die marxistisch-leninistische Partei – zu wenig beleuchtet wurden?
Das ist genau der Punkt. Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit hat sich aus meiner Sicht zu sehr auf die Stasi konzentriert. Hier muss vielmehr die Verantwortung der SED in den Mittelpunkt gerückt werden, aber auch die Verantwortung jedes einzelnen als Rädchen im Getriebe dieses Systems. Das betrifft natürlich den Alltag in der Diktatur. Auf diesem Gebiet sind wir noch mitten drin in der Aufarbeitung.

Was heißt „jeder einzelne“? Nur die Mitglieder der SED oder auch die Bürger des Landes?
Auch jeder einzelne DDR-Bürger. Es ist wichtig, dass jeder bei sich selbst anfängt und sich fragt, wo er in seiner Verantwortung anders hätte handeln können. Auch ich habe mich in meinem Buch „Wir Angepassten“ kritisch an die eigene Nase gefasst und beschrieben, wo ich in den Bahnen des Systems mitgelaufen bin, wo ich funktioniert und meinen Mund gehalten habe: am 1. Mai, beim Wehrdienst, im Studium. Diese Fragen sollte sich jeder stellen, wenn er sein Leben in der DDR reflektiert.

Sollte man auf den Begriff „Unrechtsstaat“ evtl. verzichten, wenn er zahlreiche Menschen nicht mitnimmt?
Wie gesagt kann ich durchaus nachvollziehen, warum manche Menschen dieses Wort erst einmal als gegen sie gerichtete Keule verstehen. Aber gerade weil das in der DDR begangene Unrecht aus dem System heraus betrieben worden ist und vom Staat getragen wurde, ist es wichtig, die Dinge klar zu benennen.

Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels aus meinem Leben verdeutlichen: Als ich wegen einer politischen Aktion in U-Haft gekommen war, wurde ich deshalb aus meinem Betrieb entlassen, obwohl das Arbeitsgesetz ganz klar sagte, dass man erst nach Abschluss eines Strafverfahrens entlassen werden darf. Dann wurde mir vor dem Arbeitsgericht ein Schauprozess gemacht, in dem der Richter meine Entlassung entgegen der Gesetze bestätigte. Und dann kam der Vernehmer der Stasi zu mir und sagte: „Jetzt haben Sie gesehen, dass es nicht darauf ankommt, wer Recht hat, sondern darauf, wer die Macht hat. Und die haben wir.“

Ein anderes Beispiel für das Unterdrückungssystem war die Sippenverfolgung. Vor allem bei politischen Delikten musste ein Angeklagter damit rechnen, dass nicht nur er bestraft wird, sondern auch seine Angehörigen: Eltern verloren ihre Reiseerlaubnis zu einem Verwandtenbesuch in den Westen, Ehepartner wurden plötzlich in der Karriere gebremst, und Kinder verloren ihren Platz in einem Leistungszentrum des Sports. So wurde ein Klima der Angst geschaffen. Die Menschen ordneten sich unter aus Angst vor den Folgen ihres Handelns für ihre liebsten Mitmenschen.

Und weil diese Beispiele keine Einzelfälle waren, sondern Unrechtsmaßnahmen, die der Staat systematisch, zielgerichtet und willkürlich ausgeübt hat, ist die DDR richtigerweise als Unrechtsstaat zu bezeichnen.

Was war für Sie persönlich das Spezifische am Charakter der DDR?
Das ist natürlich eine sehr umfangreiche Fragestellung. Das Entscheidende ist, dass sie – wie gesagt – ein Staat war, der vom System her staatliches Unrecht organisiert und durchgesetzt hat, zum Machterhalt einer Partei. Wichtig ist es zu betonen, dass es viele Menschen geschafft haben, in diesem System ein anständiges Leben zu führen. Wir müssen bei der Aufarbeitung unbedingt die Menschen abholen, bei ihren eigenen Erlebnissen, die natürlich oftmals auch sehr schön waren. Aber gleichzeitig müssen wir immer wieder deutlich machen, dass das System ein unmenschliches war. Auch in der Diktatur scheint die Sonne, nur nicht für jeden.

Das Gespräch führte René Nehring


Zur Person

Roland Jahn

ist seit 2011 Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU). In der DDR demonstrierte er als Regime-Gegner und Bürgerrechtler wiederholt offen gegen die SED-Diktatur, wofür er u.a. 1977 exmatrikuliert wurde. Als einer der Mitbegründer der oppositionellen Friedensgemeinschaft Jena wurde Jahn 1983 zwangsausgebürgert und lebte fortan in West-Berlin. Dort arbeitete er als freier Journalist u.a. für das ARD-Magazin „Kontraste“ und produzierte zahlreiche Beiträge zu Opposition, Menschenrechtsverletzungen und Alltag im SED-Staat. Vor kurzem erschien sein Buch „Wir Angepassten. Überleben in der DDR“ (Piper Verlag 2014, 19,99 Euro).

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