Titelthema
Auf dem Weg in die Mitte
Die Bundesgrünen haben keinen konservativen Vormann wie Winfried Kretschmann, von seinem Erfolg können sie dennoch einiges lernen.
Als Franziska Brantner und Cem Özdemir kürzlich auf dem digitalen Parteitag in Heilbronn die Bühne betraten, trugen sie gemeinsam ein rundes Schild: „Alles ist drin“, lautete die Botschaft. Brantner und Özdemir sind die Spitzenkandidaten der baden-württembergischen Grünen für den Bundestagswahlkampf. Nach zehn Jahren erfolgreichen Regierens im Südwesten könnte nun das Bundeskanzleramt in Reichweite sein. Ein Ort, vor dem selbst Joschka Fischer immer gewarnt hatte. Auch der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat den Übermut seiner Leute gedämpft, indem er ihnen gebetsmühlenartig eintrichterte: „Wir bleiben auf dem Teppich, auch wenn er fliegt.“ Dieser Satz fiel 2011 nach dem Überraschungssieg der Grünen in einer Situation, die die CDU damals reichlich selbstgefällig als Verkehrsunfall fehlinterpretierte – im Jahr von Fukushima und Stuttgart 21. Über die lange Regierung der Grünen im wirtschaftsstarken Südwesten staunt heute selbst der Economist. Und man fragt sich, ob das grün-schwarze Regieren zwischen Mannheim und Konstanz eine Blaupause für ein schwarz-grünes Regieren zwischen Flensburg und Rosenheim sein könnte.
Angekommen im Bürgertum
Das Erfolgsrezept der Grünen in Baden-Württemberg beruht auf mehreren Faktoren. Der wichtigste ist die überragende Popularität des Ministerpräsidenten. Hinzu kommen die erfolgreiche Beackerung klassischer grüner Themenfelder,die systematische Einhegung kritischer und vor allem schematischer Diskurse in der Öffentlichkeit und das hartnäckige Bestreben, mit klassischen CDU-Themen wie etwa wirtschaftliche Modernisierung und Digitalisierung eine Vollsortimenter-Partei zu werden. Nicht zuletzt steht Kretschmann für eine ökologische Reformpolitik, die mit Empathie und Bürgerbeteiligung im Einklang mit der Gesellschaft und nicht gegen gesellschaftliche Mehrheiten durchgesetzt wird. Das sah bei der Gründung der Grünen ganz anders aus. Damals verstanden sich viele als Graswurzel-Revolutionäre, denen das Verändern des eigenen Lebensbereichs wichtiger war als das Erringen gesellschaftlicher Mehrheiten. „Anstatt Angst, Ausbeutung und Entfremdung nur intellektuell und nüchtern zu analysieren, wurde die gesellschaftliche Situation als emotionale Erfahrung gedeutet und auf das eigene Leben bezogen. Statt Persönliches und Politisches voneinander zu trennen, wurde der eigene Lebensalltag politisiert“, schreibt der Historiker Sven Reichardt in seiner Geschichte des links-alternativen Milieus.
Entscheidend für das grüne Erfolgsmodell war auch die weitgehende Ruhigstellung der grünen Fraktion und die Sedierung des innerparteilichen Streits. Kretschmann gelang es philosophierend, das Vertrauen in grüne Politik bei der Bevölkerung zu vergrößern. Mal näherte er sich den Positionen der CDU haarscharf an, mal stichelte er mit gesundem Menschenverstand gegen alte Dogmen seiner Partei. Es gelang den Grünen auch, das Vorurteil zu überwinden, ökologische Politik sei per se wirtschaftsfeindlich. Dabei halfen einerseits viele mittelständische Unternehmen, für die Klimaneutralität und nachhaltige Produkte heute selbstverständlich sind, andererseits der Strategiedialog mit der Automobilindustrie. Der Dialog sollte in erster Linie dazu dienen, mit Wissenschaft, Verbänden und Gewerkschaften die Transformation der Automobilwirtschaft zu begleiten.
Zum Sonderweg der Grünen im Südwesten gehört auch, dass sie schneller als andernorts mit ihren Ideen und ihrer Politik im Bürgertum Fuß fassen konnten. Dabei kamen ihnen einige gesellschaftliche Besonderheiten Baden-Württembergs zu Hilfe: die durch den Pietismus tief verankerte Obrigkeitskritik, die anthroposophische Bewegung und die Tatsache, dass sich postmaterialistische Haltungen dort besonders gut kultivieren lassen, wo es den Menschen an Materiellem nicht fehlt. Diese Fortschrittsskepsis zeigte sich schon in den 1980er Jahren auch in den südwestlichen Hochburgen der CDU, nur wollte bei den Konservativen damals niemand diesen Mentalitätswandel verstehen. Dagegen lag Winfried Kretschmann schon 1991 goldrichtig mit seinem Aufsatz „Wie konservativ müssen die Grünen sein? Warum eine ökologische Partei nicht links sein kann“.
Baerbock braucht Unterstützung
Die grüne Bundespartei, vor allem Robert Habeck und Annalena Baerbock, beanspruchen für sich, vom südwestdeutschen Erfolgsmodell gelernt zu haben. Sie haben ebenfalls einen Stil entwickelt, bei dem es darum geht, Empathie in der Mitte der Gesellschaft zu gewinnen und auf starke Polarisierung zu verzichten. Mit diesem Versprechen stellte sich Annalena Baerbock jetzt als Kanzlerkandidatin vor: „Klimaschutz muss die neue Bundesregierung zum Maßstab für alle Bereiche machen“, sagte sie. In Deutschland seien das Auto und das Fahrrad erfunden worden, sie erwähnte Mittelstand, Handwerker und Industriearbeiter. „Die größte Kraft entwickelt man immer nur zusammen“, sagte Baerbock. Die Wortwahl ist generationenbedingt moderner als die Kretschmanns, programmatisch nahm sie deutliche Anleihen bei den Südwest-Grünen.
Doch gibt es zwischen einer grün dominierten Landesregierung und einer Juniorpartnerschaft in einer Bundesregierung erhebliche Unterschiede: Einen präsidialen Ministerpräsidenten, der Garant und Produzent von Vertrauen ist, haben die Grünen im Bund nicht. Die Macht dürfte auf verschiedene Bundesminister sowie – stärker als in Stuttgart – auf die Fraktion verteilt werden. Die Partei und die Bundestagsfraktion werden auch ihr sprunghaftes Wachstum verkraften müssen: In einer Fraktion, die künftig mehr als 100 Abgeordnete haben könnte, werden auch viele Neuparlamentarier sitzen, die sich als Vertreter der außerparlamentarischen Klimaschutzbewegung Fridays for Future verstehen. Der Partei muss es dann gelingen, diese neuen Kräfte in kürzester Zeit durch ein intelligentes Erwartungsmanagement zu integrieren.
Die Stunde der Grünen
Ähnlich wie für Kretschmann in der dritten Legislaturperiode dürfte auch in einer Bundesregierung mit grüner Beteiligung der Grundsatz „Klimaschutz, Klimaschutz, Klimaschutz“ gelten. Da es sich aber um ein Querschnittsthema handelt, das die Landwirtschaft genauso umfasst wie die Automobil- oder die Bauindustrie, dürfte es für die Grünen anspruchsvoller werden, unterschiedlichste Lobbygruppen, wirtschaftliche Akteure und gesellschaftliche Gruppierungen an einen Tisch zu bringen und von einem Klimakonsens zu überzeugen. Das dürfte deshalb schwieriger werden, weil das Wahlprogramm mit der Forderung nach einer Vermögensteuer, dem Kohleausstieg bis 2030 und der Ablösung von Hartz IV durch ein Grundsicherungssystem klare linke Akzente hat und die künftige Bundestagsfraktion durch die zu erwartende Vergrößerung und die Klimabewegung ebenfalls linker werden dürfte. Die Grünen sind auch nicht auf jedem Politikfeld erfolgreich – dort, wo es von vornherein schwierig ist, sind sie ungern präsent: Es gab bislang noch keinen grünen Innenminister. Und mit der Schulpolitik haben die Grünen schon in mehreren Bundesländern Wahlen verloren.
Zwei Trends spielen den Grünen im Herbst in die Hände: Anders als der Atomausstieg ist der Klimaschutz kein Vorhaben einer gesellschaftlichen Minderheit. Und weil die Grünen Repräsentanten eines in den 80er und 90er Jahren ausgebildeten neuen Bildungsbürgertums sind, können sie – nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren – vermutlich dauerhaft von der Post-Merkel-Krise der Unionsparteien profitieren.
Rüdiger Soldt studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Publizistik in Göttingen und Berlin. Der Politikredakteur ist seit 2006 als Baden-Württemberg-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Stuttgart tätig.