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Auf dem Weg zur Unsterblichkeit

Forum - Auf dem Weg zur Unsterblichkeit
Zukunftsmusik? So könnte der Operationssaal der Zukunft aussehen: „Dr. KI“ verlängert das menschliche Leben. © blend images/mauritius images

Die moderne Medizin greift mittels künstlicher Intelligenz in die Evolution ein. Wo liegt die Grenze des ethisch Vertretbaren?

Axel Ekkernkamp01.11.2019

Als im Spätherbst 2018 die Meldung von der Geburt der chinesischen Zwillingsmädchen Lulu und Nana weltweit in die Schlagzeilen rückte, ließen die Reaktionen nicht lange auf sich warten: Tabubruch, EthikGAU, Eingriff in die Schöpfung, unverantwortliche Menschenversuche – das und viel mehr warf man dem chinesischen Genforscher He Jiankui vor, nachdem er verkündet hatte, dass er an den Babys eine Genmanipulation vorgenommen habe. Mit der Crispr/Cas9-Methode, besser bekannt als Gen-Schere, sei das Gen CCR5 ausgeschaltet worden. So soll verhindert werden, dass AIDS-Erreger in die Zellen der Mädchen eindringen können. Denn das Gen gilt als Eintrittstor für Viren vom Typ HIV 1, der Vater der Zwillinge ist damit infiziert.

Alles, was technisch möglich ist, wird auch gemacht, wenn es Menschen hilft – so sieht es der chinesische Wissenschaftler. Dass eine Genmanipulation an Embryonen letztendlich in die Evolution eingreift, scheint offenbar zweitrangig zu sein. Die immer schärfer formulierten Fragen insbesondere von Medizinethikern, ob man denn wirklich alle medizinisch möglichen Therapien ausreizen müsse, hatte Biophysiker He mit Fakten beantwortet. Der Forscher der Technischen Universität in Shenzen wurde zwar inzwischen beurlaubt, aber längst gibt es andere Wissenschaftler, die mit der Crispr-Methode die Keimbahn manipulieren und damit Menschen genetisch verändern wollen. So plant der russische Forscher Denis Rebrikov vom Nationalen Forschungszentrum für Geburtshilfe, Gynäkologie und Perinatologie, bei gehörlosen Paaren vererbte DNA-Fehler zu korrigieren, damit ihre zukünftigen Kinder dann hören können.

All das ist nur möglich, weil die Digitalisierung unseres Lebens vor dem Gesundheitsbereich natürlich nicht Halt gemacht hat. Wir leben in der Welt 4.0 – alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert. Aber darf dieses Paradigma wirklich auch für die Medizin gelten, gerade vor dem Kontext ethischer Verantwortung? Was kann, was darf die Medizin der Zukunft leisten? Wo sind die Grenzen? Ist technischer Fortschritt wirklich verpflichtend und in allen Bereichen unseres Lebens unaufhaltsam? Wie weit kann, wie weit darf die Verschmelzung von Mensch und Technologie gehen? Fragen, die uns zunehmend beschäftigen werden, insbesondere angesichts der Entwicklungen im Bereich künstlicher Intelligenz (KI).

Selbstlernende Systeme
Dass die Entwicklung der digitalen Medizin geradezu exponentiell voranschreitet und sich deshalb so viele neue Einsatzgebiete ergeben, hat mehrere Gründe: Zum einen ist die Zahl verfügbarer Daten (auch durch Vernetzung bislang getrennter Datenströme) in den letzten Jahren extrem angestiegen, zum anderen sind jetzt dank neuer Chiptechnologien große Rechenleistungen in kurzer Zeit möglich – unverzichtbar für KI-Anwendungen. KI gilt ohnehin als Schlüssel für die Entwicklung zahlreicher neuer Diagnostik- und Therapieangebote. Bestimmte radiologische Befunde lassen sich schon heute schneller und treffsicherer vom Computer ermitteln als vom Menschen. Ein trainiertes Programm ist besser darin, bösartige Melanome von gutartigen Muttermalen zu unterscheiden, als Hautärzte das zu leisten vermögen. Der entscheidende Vorteil: KI ermöglicht selbstlernende Systeme, Deep Learning genannt. Je mehr Bilder das Programm sieht, desto besser wird es in seiner Beurteilung. Und dank der sogenannten Präzisionsmedizin können genetische Codes und Rezeptoren bestimmt werden, für die dann individualisierte Medikamente zur Krebsbekämpfung entwickelt und angewendet werden. Bei Leukämie im Kindesalter gibt es dort schon Erfolge.

Große Datenmengen, verknüpft mit den passenden Algorithmen, lassen sich in Zukunft immer besser einsetzen, um die Gesundheitsprognose eines Patienten zu ermitteln: Wie groß ist die Gefahr, dass er an einer chronischen Krankheit leiden wird oder eine bestimmte Krebsart in wenigen Jahren zum Ausbruch kommt? Aber muss der Arzt über Krankheiten informieren, für die es bislang keine Heilung gibt, oder gilt das Recht des Nichtwissens? Und was ist, wenn ein Patient darauf besteht, dass sein genetischer Code grundsätzlich tabu ist und nicht ermittelt werden soll? Ärzte müssen diese Entscheidung respektieren – auch wenn der Patient damit mutmaßlich ganz bewusst ein Mehr an Lebensqualität und Langlebigkeit ablehnt. KI-Medizin darf bei alledem keine Zweiklassen-Medizin werden: Digitale Errungenschaften müssen letztendlich allen Behandlungsbedürftigen zur Verfügung stehen und nicht nur einer kleinen Gruppe, die sich eine solche, anfangs sicherlich kostenintensive, Behandlung leisten kann.

An der Berliner Charité arbeiten Forscher an einem Algorithmus, der bei dem Patienten individuell vorgibt, ob die Therapie eines Schlaganfalls noch sinnvoll ist oder nicht. Die endgültige Entscheidung trifft heute der Arzt, nicht die Maschine. Aber wer sagt denn, dass das immer so sein wird? Was passiert, wenn der sich immer weiter verbessernde „Dr. KI“ zuverlässiger agiert, als ein Mediziner es könnte? Und wenn dann im nächsten Entwicklungsschritt das Programm die letztendliche Entscheidung trifft? Was sich heute noch wie Science Fiction anhört, beschäftigt längst schon die Forscher. 23 KI-Experten aus der ganzen Welt fordern eine eigene Verhaltensforschung für Maschinen: In einem Beitrag für das angesehene Wissenschaftsmagazin Nature machen sie deutlich, dass man das Verhalten der Maschinen verstehen müsse, um künstliche Intelligenzen wirklich so programmieren zu können, dass sie Menschen dienen und nicht schaden. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass Maschinen eigene Verhaltensweisen entwickeln, die sich fundamental von denen der Menschen oder Tiere unterscheiden.

Das Ende der Menschheit bis 2075?
KI ist letztendlich eine Blackbox: Es ist nicht nachvollziehbar, wie sich algorithmusbasierte Quellcodes auf das Lernen der Maschinen auswirken. Es gibt durchaus ernstzunehmende Wissenschaftler, die davon ausgehen, dass bis 2075 eine KI erreicht wird, die menschliches Niveau hat und das Ende der Menschheit bedeuten könnte. Wie agieren dann Roboter dieser zukünftigen Generation, die heutzutage bei OPs zum Einsatz kommen, weil sie bestimmte Routineverfahren besser durchführen als Menschen, die auch mal müde sind und Fehler machen? Wie entwickeln und verhalten sich Assistenz-Roboter, die insbesondere im Pflegebereich oder beim altersgerechten Wohnen und Leben bereits Anwendung finden? 

Die Medizin der Zukunft wird auch bestimmt werden von der Schaffung künstlicher Organe. Mit 3D-Druck (und sogar schon 4D-Verfahren) werden sich immer mehr Bauteile des menschlichen Körpers herstellen lassen. So gibt es schon jetzt angepasste Implantate: Schwere Verletzungen im Gesicht können durch digitale Diagnostik, Aufbereitung von Modellen und die Herstellung von individuell gefertigten Implantaten versorgt werden. Ein Schritt weiter geht es mit dem sogenannten Bioprinting: Es erlaubt schon jetzt, Ohrmuscheln, Harnblasen oder Haut zu produzieren, eines Tages sollen es dann Niere, Leber und Herz sein. Als einer der weltweit führenden Forscher auf diesem Gebiet gilt Prof. Anthony Atala, Direktor des Wake Forest Institute for Regenera tive Medicine in Winston-Salem (USA).

Andere Forscher setzen auf Bioengineering: Organe eines Toten oder eines Tieres werden dezellularisiert, eine Spüllösung entfernt Lipide, DNA und lösliche Proteine. Übrig bleibt eine extrazelluläre Matrix, die das Organ zusammenhält. Um diese Matrix wieder neu aufzubauen, werden unter anderem pluripotente Stammzellen induziert. Bei der Chimären-Forschung testen Wissenschaftler, was passiert, wenn menschliche Stammzellen in Tiere eingepflanzt werden, um Organe zu züchten. Noch sind das alles Versuche, die Technik ist längst nicht einsatzbereit. Was aber, wenn sich künstliche Organe wie am Fließband herstellen oder sich nahezu uneingeschränkt reproduzieren lassen? Lässt sich damit Leben beliebig verlängern? Ein Leben aus dem Ersatzteillager: Wollen wir das wirklich? Dürfen wir das?

Schon heute werden die Menschen dank Hightech-Medizin deutlich älter als die Generationen zuvor. Und schon heute muss sich die Medizin zu Recht die Frage gefallen lassen, ob dieses, unter extremem Einsatz von Ressourcen, verlängerte Leben überhaupt noch lebenswert ist. Aber die Entwicklung geht unaufhaltsam weiter: Forscher experimentieren schon lange mit dem Enzym Telomerase, das beim Alterungsprozess des Menschen eine wichtige Rolle spielt. Eine Pille soll diesen Prozess zumindest deutlich verlangsamen. Würde es uns wundern, wenn es Forscher gäbe, die darauf hinarbeiteten, den Prozess gänzlich aufzuhalten? Auch das wäre ein elementarer Eingriff in die Schöpfung.

Ray Kurzweil, der US-amerikanische Zukunftsforscher, Erfinder, Vordenker und Wegbereiter der sogenannten Transhumanismus-Idee als Verpflichtung zum Fortschritt, sieht darin kein Problem. Der bald 72-Jährige nimmt nach eigenen Angaben täglich 150 bis 250 Tabletten mit Vitaminen, Mineralien und anderen Inhaltsstoffen zu sich. Er setzt auf eine Biotechnologie, die es schon in wenigen Jahren erlauben soll, dass Menschen ihre Gene optimieren und reparieren können. Die nächste Entwicklungsstufe sei dann, dass winzige Roboter, sogenannte Nanobots, in menschlichen Körpern eingesetzt werden und alte oder defekte Zellen austauschen. Bis etwa zum Jahr 2045 sei man so weit, dann gehöre das Altern der Vergangenheit an, der Mensch werde unsterblich.

Zukunftsfantastereien? Möglicherweise. Aber wer hätte vor einigen Jahren gedacht, dass es einmal etwas wie die Crispr-Genschere geben würde? Und trotz ethischer Bedenken: Es ist ja nicht so, dass sie per se die Grenzen des ethisch Vertretbaren durchtrennt. Forscher hoffen, mithilfe dieser Technik eines Tages menschliche Gendefekte reparieren und damit Erbkrankheiten wie etwa Mukoviszidose oder Sichelzellanämie verhindern zu können. Es ist eine relativ sichere Form der Gentherapie, wenn sie direkt am Patienten durchgeführt wird. Und dank KI-Anwendungen arbeitet die Hochpräzisionsschere immer genauer.

Wir müssen für unser Gesundheitssystem regelmäßig exakt definieren, welche Technologien wir im Interesse der Wissenschaft und des Patienten einsetzen wollen. Eigentlich ist es ganz einfach: das, was für den Menschen am besten ist. Aber genau deshalb ist die Genmanipulation bei den chinesischen Zwillingen nicht das, was wir wollen und verantworten können. Abgesehen davon, dass bei einem der Mädchen nicht alle Zellen das veränderte Gen tragen und sie deshalb nicht vollständig vor HIV geschützt ist: Der Eingriff mit der Genschere kann bei aller Präzision mit gefährlichen Nebenwirkungen verbunden sein. Dazu gehört das erhöhte Krebsrisiko – bei den Zwillings-Mädchen und bei all ihren Nachfahren.

Axel Ekkernkamp
Prof. Dr. med. Axel Ekkernkamp, RC Berlin-Alexanderplatz, ist Ärztlicher Direktor und Geschäftsführer des BG Klinikums Unfallkrankenhaus Berlin und Ordinarius für Unfallchirurgie der Universitätsmedizin Greifswald.  ukb.de