Titelthema
Aufruf zur Disziplin
Es geht um mehr als Solidarität: Vorsätzliche oder fahrlässige Infektionen Anderer zu vermeiden, entspricht einer Rechtspflicht – dem Verbot der Verletzung Dritter.
In den vergangenen Wochen hat das Infektionsgeschehen in fast allen Regionen Deutschlands wieder stark an Fahrt aufgenommen – jedoch anders als im Frühjahr. Jetzt gibt es eine kaum noch überschaubare Anzahl kleinerer Infektionsgeschehen und nicht mehr nur gut zu lokalisierende größere Ausbrüche. Zudem erfolgen die meisten Übertragungen, die zu Infektionen in Deutschland führen, hier im Lande und nicht mehr auf Reisen im Ausland. Die Nachverfolgung der Fälle kann in vielen Fällen nicht mehr sichergestellt werden.
Die Pandemie entwickelt sich weiterhin dynamisch, aber das Virus hat sich nicht verändert: Die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, steigt mit dem Alter deutlich und ist mehr als zehn Mal höher als bei der Influenza. Angemessen auf die Pandemie zu reagieren, die Menschen zu schützen, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten und dabei individuelle Freiheitsrechte nicht über Gebühr einzuschränken, das öffentliche Leben und die Wirtschaft am Laufen zu halten und die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen nicht zu verspielen – das alles ist und bleibt ein Drahtseilakt, der mit vielen Unsicherheiten verbunden ist. Aber auf diesem Seil müssen wir vorangehen, und wir können es auch. Untätig stehen zu bleiben oder die Fakten auszublenden, ist keine Option.
Schneller und gezielter testen
Im Unterschied zum Frühjahr wissen wir inzwischen sehr gut, welche Situationen eine Übertragung begünstigen: geschlossene Räume, wenig Frischluftzufuhr, dichtes Gedränge drinnen oder draußen, Sprechen in lebhafter oder lauter Umgebung und enger Kontakt. Der allergrößte Teil der Infektionen lässt sich auf solche Situationen zurückführen, und hier müssen die Verantwortlichen in der Politik, aber auch wir alle, ansetzen.
Zudem haben wir seit dem Frühjahr viel über das Virus, seine Ausbreitung, aber auch über die negativen Effekte der Pandemie gelernt. Wir wissen nun – vor allem unterstützt durch die unermüdliche Arbeit von Tausenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen –, welche Maßnahmen es im Wesentlichen sind, die uns den möglichst sicheren Gang über das Drahtseil ermöglichen können.
In den kommenden Monaten wird die erfolgreiche Eindämmung der Pandemie vor allem davon abhängen, ob es gelingt, die bekannten Schutzmaßnahmen noch konsequenter als bislang umzusetzen und sich entsprechend zu verhalten. Die Leopoldina hat die Prioritäten für ihr Handeln in ihrer 6. Stellungnahme zur Coronavirus-Pandemie mit dem Titel „Coronavirus-Pandemie: Wirksame Regeln für Herbst und Winter aufstellen“ klar benannt.
Erstens müssen die Schutzmaßnahmen konsequent eingehalten und durchgesetzt werden. Korrekt über Mund und Nase getragene Masken, einen Abstand von zwei Metern einhalten, regelmäßiges Lüften, Vermeiden von Menschenansammlungen und lautem Sprechen sind zentral für die Kontrolle des Infektionsgeschehens.Diese Maßnahmen sind nicht nur effektiv, sondern vor allem auch kostengünstig und einfach. Die Verhaltensregeln sollten im Interesse aller bundesweit einheitlich sein und je nach dem regionalen Infektionsgeschehen greifen.
Zweitens ist es notwendiger denn je, schnell und gezielt zu testen, um infizierte Personen oder solche mit einem hohen Infektionsrisiko unverzüglich zu erkennen, sie zu isolieren oder unter Quarantäne zu setzen und so Infektionsketten zu brechen. Antigen-Schnelltests werden, trotz ihrer im Vergleich zum „Goldstandard“ des PCR-Tests geringeren Spezifität, wichtig werden, weil sie den raschen Nachweis erbringen können, ob eine Person überhaupt noch ansteckend ist.
Genesen, aber nicht gesund
Drittens gilt es, die sozialen und psychischen Folgen der Pandemie abzumildern. Sie hinterlässt bei vielen Menschen ihre Spuren, und das voraussichtlich mit zum Teil über Jahre hinweg dauernden Einschränkungen der Gesundheit. Daher sind leicht zugängliche Hilfsangebote notwendiger denn je, insbesondere ein deutlich vergrößertes psychotherapeutisches, beziehungsweise psychiatrisches und beratendes Angebot hinsichtlich Prävention und Therapie.
Und viertens muss verantwortungsvolles Verhalten allen erleichtert werden. Denn machen wir uns nichts vor: Schnelles Testen, die Corona-Warn-App, die Sorge füreinander und die Durchsetzung von Schutzmaßnahmen sind unabdingbar. Aber das alles wäre letztendlich vergeblich, wenn sich die Menschen nicht freiwillig den Schutzregeln entsprechend verhalten. Als Person, die auch in Pandemiezeiten viel unterwegs ist, frage ich mich häufig, welche Regeln jetzt an dem Ort, an dem ich gerade bin, gelten. Wo kann ich schnell nachsehen, falls ich es nicht weiß? Warum muss ich meine Kontaktdaten in einigen Bundesländern im Restaurant hinterlegen, in anderen nicht? Wo bekomme ich schnell entsprechende Informationen? Warum bin ich immer noch an Orten, wo es nicht möglich ist, Räume zu lüften, lediglich aber Trennwände aufgestellt werden in der Annahme, dass das ein gleichwertiger Ersatz wäre?
Eine wichtige Unterscheidung erfolgt aus meiner Wahrnehmung häufig nicht: die Unterscheidung zwischen der Reaktion auf ein Infektionsgeschehen und der Prävention von Übertragungen. Lokal auf ein Infektionsgeschehen zu reagieren ist wichtig und richtig. Das ist jedoch etwas anderes, als objektiv sinnvolle und wissenschaftlich begründete Präventionsmaßnahmen überall umzusetzen. Wir sind aber nur so gut über den Sommer gekommen, weil Prävention funktioniert hat und die Menschen in so großer Zahl mitgemacht haben. Jetzt, wo die äußeren Bedingungen schwieriger werden, ist es wichtig, die Menschen bei der Stange zu halten und es ihnen leichter zu machen, sich richtig zu verhalten.
Die Leopoldina-Arbeitsgruppe formuliert es in ihrer 6. Stellungnahme unmissverständlich: „Um es Bürgerinnen und Bürgern zu erleichtern, Schutzmaßnahmen weiterhin – und konsequenter als bislang – einzuhalten, benötigen sie Wissen, Motivation und die Möglichkeit, sich entsprechend zu verhalten, sowie klare Regeln. Dabei sollten die geltenden Verhaltensregeln zu automatisierten Gewohnheiten werden.“ Und zwar überall. Auch wenn das Infektionsgeschehen an manchen Orten in Deutschland (noch) geringer als in den Risikogebieten ist, sollten wir jetzt anfangen, diese Verhaltensweisen einzuüben. Dabei handelt es sich nicht nur um ein moralisches Gebot der Solidarität: „(Bedingt) vorsätzliche oder fahrlässige Infektionen Anderer zu vermeiden, entspricht einer Rechtspflicht: dem Verbot der Verletzung Dritter ...“.
Unser föderales System hat sich in der Pandemie bisher als belastbar und in mancherlei Hinsicht vorteilhaft erwiesen. Doch müssen wir jetzt aufpassen, dass das gemeinsame Musikstück, welches die Länder und der Bund zusammen spielen, nicht in einer föderalen Disharmonie endet. Es wäre wichtig, dass ihr Zusammenklang einem Stück zeitgenössischer Musik gleichen würde, das zwar nicht immer leicht und angenehm anzuhören ist, aber innovativ, nachvollziehbar und wirkungsvoll komponiert wurde.
Prof. Gerald Haug ist Paläoklimatologe, der die Wechselwirkungen zwischen
dem Klima-, Ozean-, und Atmosphärensystem von geologischen bis hin
zu jährlichen Zeitskalen erforscht und sich auf die Untersuchung
von Sedimentkernen aus Ozeanen und Seen spezialisiert hat. Seit März 2020 ist er Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.