Titelthema
Beats aus dem Kessel
Ausgerechnet in Stuttgart hat sich eine lebendige Hip-Hop-Szene etabliert. Wie konnte das passieren?
Endlich! Hip-Hop hat es im November 2017 ins Stuttgarter Museum geschafft. Im Stadtpalais, diesem schönen Bau, direkt an der unschönen Haltestelle Charlottenplatz, wurde der Weg der Kolchose nachgestellt. Es gab alte Flyer, ein DJ-Pult und es kamen einige Wegbegleiter. „Im Grunde waren wir Nerds“, sagte Johannes von Strachwitz bei der Eröffnung. Alle kennen ihn unter dem Spitznamen „Strachi“, er war und ist der Strippenzieher im Hintergrund, managte die Massiven Töne und etablierte den 0711-Club im Norden der Stadt. Die Kolchose, dieser lose Zusammenschluss von Rappern, Breakdancern und Sprayern, war ein Kollektiv, aus dem immer wieder Neues entstand. Orientiert haben sich diese Nerds ganz klar an ihren Vorbildern in Amerika, während Die Fantastischen Vier bereits Topseller waren.
Wenn man einen Geburtstag von Hip-Hop in Stuttgart festmachen möchte, wäre das vermutlich der 7. Juli 1989, als vier Buben in einem ehemaligen Kindergarten im Stadtteil Wangen ihre ersten Lieder auf Deutsch darboten. Unter ihrem neuen, selbstbewussten Namen: Die Fantastischen Vier. Der Eintritt: 3,50 Mark.
Kreative Köpfe und glückliche Zufälle
Stuttgart Ende der 1980er Jahre, das war Provinz und kulturelles Brachland. Was die Region aber hatte, war die Nähe zur US-amerikanischen Musik. GIs aus den Kasernen tanzten zu Black Music in den Clubs der Stadt – und vier weiße, pubertierende Buben, die in ihren Kinderzimmern C64 zockten, schauten gebannt zu und begannen als „Terminal Team“ mehr schlecht als recht auf Englisch zu rappen. Später wurden sie als Die Fantastischen Vier bekannt.
Überhaupt träumten die Kids von Amerika: Philippe Kayser und Max Herre von Freundeskreis, Ju und Wasi von den Massiven Tönen waren 1994 in San Francisco – zu einer Art Schüleraustausch für Hip-Hopper. Viele Jahre später stellen sie noch fest, wie wichtig diese Reise war. Die Geschichte der Kolchose ist eine von vielen glücklichen Zufällen, kreativen Köpfen und schwäbischen Schaffern. Wie viel Prozent was ausmacht, weiß niemand so genau.
Einig sind sich viele in einem weiteren Standortvorteil der Stadt: die Enge des Kessels. Es ist nicht weit von A nach B, nicht weit vom Jugendhaus Mitte zum Radio-Barth-Gebäude, vom Schlossplatz zum Club „Red Dog“. Dank der Hügel, die später der Freundeskreis in „Esperanto“ besang, konzentrierte sich das Geschehen auf den Kessel. Es gab einen engen Austausch zwischen Rappern, Breakern und Sprayern. Künstler, die Freundeskreis, Massive Töne, Afrob oder Die Krähen hießen, gründeten neue Projekte. Es war 1996, als der erste Stuttgart-Song von den Massiven Tönen veröffentlicht wurde. „Eins für den Rap, zwei für die Bewegung, von klein auf geprägt durch die Umgebung. Es ist nicht, wo du bist, es ist, was du machst. Herzlich willkommen in der Mutterstadt.“ Das Lied „Mutterstadt“ wurde zur Hymne eines Lokalpatriotismus, der nicht auf dem Fernsehturm gründete, sondern auf ihrer ganz eigenen Lebensrealität. Jan Delay von den Absoluten Beginnern in Hamburg erklärte 2016 im Interview mit der Stuttgarter Zeitung: „Die Leute aus Stuttgart waren so alt wie wir, haben aber Dinge gestemmt, von denen wir nicht zu träumen wagten. Die hatten den ersten krassen Hip-Hop-Club, die haben ein eigenes Label gegründet, die hatten Bands wie Freundeskreis oder Massive Töne. Die Stuttgarter haben Hamburg vorgemacht, wie es gehen kann. Wir waren mit denen befreundet, haben aber schon immer ein bisschen neidisch geschaut.“ Die Vorwahl 0711 stand als Synonym für einen Clubabend, aber eben auch für ein Lebensgefühl, aus dem ein großes Business wurde.
Als Die Fantastischen Vier ihre Plattenfirma „Four Music“ gründeten, für die Büros gleich ein ganzes Medienhaus im Stadtteil Heslach kauften, nahmen sie auch Künstler aus der Kolchose unter Vertrag, wie etwa Freundeskreis und Afrob. Dem Label Chimperator wiederum gelang viele Jahre später mit dem Pandarapper Cro ein großer Coup. Er war der erste deutsche Popkünstler, den das Internet hervorgebracht hat.
Überhaupt ist es in diesen virtuellen Zeiten nicht mehr wichtig, wer wo wohnt. Nicht nur die „Fanta 4“, auch die Orsons leben verteilt in der Bundesrepublik, verbunden immer durch ihre schwäbische Herkunft.