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Titelthema

Bedeutsam, aber unbekannt

Titelthema - Bedeutsam, aber unbekannt
© Illustration: Edel Rodriguez

Die iranischen Großreiche der Antike haben zwei Kontinente wirtschaftlich und kulturell miteinander verbunden – das Volk verehrt ihre Stätten.

Josef Wiesehöfer01.01.2023

Die Geschichte Afroeurasiens in der Antike wurde maßgeblich von drei Großreichen bestimmt, deren ideologisches wie faktisches Zentrum auf dem Hochland des Iran lag. Wer dies weiß, denkt, wenn er das Wort Iran oder sein in Europa bis heute gebräuchliches Synonym Persien hört, in erster Linie an die Perserkönige des 5. Jahrhunderts v. Chr. und ihren (angeblichen) Versuch, Hellas zu unterwerfen. Ein Unterfangen, das von den tapferen Kriegern Athens beziehungsweise des Hellenenbundes bei Marathon, Salamis und Plataiai vereitelt wurde.

Den despotischen persischen Herrschern Dareios (lat. Darius) und Xerxes werden meist hellenische Helden wie Miltiades, Leonidas oder Themistokles gegenübergestellt, die nicht nur für die außenpolitische Handlungsfreiheit ihrer heimatlichen Stadtstaaten (nicht zuletzt Athens und Spartas) gekämpft haben sollen – was zutrifft –, sondern auch für Demokratie und Meinungsfreiheit sowie den kulturellen Fortschritt Griechenlands und damit Europas.

Propagierte Zerrbilder

Der kurz zuvor herrschende Begründer des Perserreiches, Kyros II., ist durch das positive Bild, das der griechische Autor Xenophon in seiner Kyropaideia (Erziehung des Kyros) und die Bibel, das zweite Buch der Chronik und Deuterojesaja, von ihm zeichnen, bis in die europäische Neuzeit hinein zu einem Idealkönig und Vorbild für Regenten und Prinzen stilisiert worden.

Dank der Bemühungen des letzten Schahs von Persien gilt Kyros bis heute gar weltweit – zu Unrecht – als Begründer und Förderer der Idee der Menschenrechte.

Der die Herrschaft der Großkönige aus den Häusern der Teispiden und Achaimeniden beendende Feldzug Alexanders (in den 330er und 320er Jahren), mit dem üblicherweise „die Öffnung der Welt“ und die Implantierung griechischer Kultur im Osten verbunden werden, bringt dann gleichsam die weltgeschichtliche Rolle Vorderasiens an ein Ende. Politischer, ökonomischer und kultureller Fortschritt findet danach im Westen, in Europa statt, wobei zu bemerken ist, dass Europa als zivilisatorischer Begriff erst im Mittelalter in Gebrauch kam. Nach einer kurzen Phase makedonischer Herrschaft im Osten wurden die iranischen Parther aus dem Hause des Arsakes spätestens ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. und bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. die Herren über Territorien von Zentralasien bis zum Euphrat, gefolgt von der Dynastie der Sassaniden, die Anfang des 7. Jahrhunderts n. Chr. gar über ganz Vorderasien bis Ägypten und über große Teile Arabiens herrschte. Beide Herrscherhäuser sind weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit gänzlich unbekannt.

Warum sollte es nun auch heute noch wichtig sein, sich mit der Geschichte dieser drei antiken Großreiche zu beschäftigen? Und angesichts des kritischen Untertons zu Beginn: Wie ist deren Rolle nach dem neuesten Stand der Forschung zu beschreiben? Schließlich: Welche Bilder des alten Iran sind in der heutigen Islamischen Republik Iran in Umlauf, bei wem und warum?

Altiran noch lange nicht erforscht

Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, seien noch einige allgemeine Bemerkungen vorausgeschickt: Erstens war die Bezeichnung Iran in der Antike umfassender als heute. Sie schloss Regionen ein, die heute in folgenden Nationalstaaten liegen: Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan, Afghanistan, Aserbaidschan und Iran.

Zweitens wurde der Terminus Iran (eigentlich mittelpersisch „Eranschahr“: Land/Reich der Arier/Iraner) als maßgeblicher politisch-ideologischer Begriff erst von den Sassaniden geprägt. Ähnlich dem Hellenen-Barbaren-Gegensatz auf griechischer Seite wurden damals im Iran Identität und Alterität in dem Begriffspaar „Eran/Aneran“ (Iran/Nichtiran) gefasst, wobei ideologisch-weltanschaulich die politische, kulturelle und religiöse Inferiorität und Gegensätzlichkeit Anerans betont wurde. Unter „Persien“ verstand man zunächst nur den südwestlichen Teil des Iran, die heutige Provinz Fars. Erst allmählich wurde der Name dann, ähnlich dem Begriffspaar Holland/Niederlande in Europa, später auch im Iran selbst zum Synonym für „Iran“. Erst 1925 wurde im Übrigen der Terminus „Persien“ als offizielle Bezeichnung des Nationalstaates aufgegeben.

Ein dritter Punkt sei noch erwähnt: Einer angemessenen Berücksichtigung altiranischer Geschichte stand nicht nur die bis heute nicht gänzlich überwundene graeco- beziehungsweise eurozentrische Weltsicht im Wege, sondern auch der Umstand, dass im Iran, abgesehen vom Verwaltungsschriftgut und herrscherlichen Verlautbarungen, dem gesprochenen Wort bis in die Spätantike hinein größere Bedeutung zukam als dem geschriebenen. Mit anderen Worten, der Iran war eine ausgesprochen orale Kultur, bei der von Literatur im Sinne einer verschrifteten Tradition eigentlich erst ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. gesprochen werden kann.

Kein Wunder also, dass in Europa die griechisch-römische Sicht auf die Rolle des Iran in der Geschichte bestimmend wurde: In den Werken von Autoren wie Herodot, den Alexanderhistorikern oder Prokop, die im Übrigen ihre je eigenen Wirkabsichten besaßen, findet sich viel von dem, was bis heute europäische Altiranbilder bestimmt.

Viele Fragen an das Überlieferungsmaterial, gleich welcher Herkunft, sind noch nicht gestellt, viele methodische Zugänge zu ihm noch nicht eröffnet worden. Und gerade im Nahen Osten und in Zentralasien erweitern spektakuläre Neufunde, etwa der einer jüngst in der Nähe von Persepolis ergrabenen Kopie des im Pergamonmuseum in Berlin zu bewundernden babylonischen Ischtar-Tores, unser Bild von Altiran ganz erheblich. Die Erforschung Altirans ist und bleibt unabgeschlossen.

Zusammenwachsende Welt

Kommen wir auf unsere erste Leitfrage zurück: Warum sollte man sich auch heute noch mit der Geschichte Altirans beschäftigen? Zum Ersten: Die Perserkönige des 6. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. haben, auf älteren Traditionen aufbauend, Mittel- und Schwarzmeerraum, das Gebiet des „Fruchtbaren Halbmondes“ und des Hochlands von Iran, Zentralasien und den Bereich des Indischen Ozeans wirtschaftlich, ökologisch, kulturell und politisch in einem Ausmaß miteinander verbunden, dass das weitere Zusammenwachsen der Welt ohne sie kaum verständlich wird. In diese vielfach vernetzte Welt brachten sich verstärkt dann auch die Griechen-Makedonen ein, und der parthisch und sassanidisch bestimmte Osten wurde schließlich gleichsam zur Drehscheibe kulturellen Austausches über politische Grenzen hinweg.

Die wichtigste Verwaltungsschriftsprache der Achaimeniden, das Aramäische, war, neben dem Griechischen seit der Alexanderzeit, gewissermaßen die „Lingua franca“ der Antike im Orient. Kulturelle, ökonomische und politische Diversität war, wie in allen Imperien, auch ein Kennzeichen der iranischen Großreiche und wurde von den Herrschern ideologisch betont und faktisch gefördert. Loyalität zahlte sich für viele Untertanen politisch wie ökonomisch aus, Unbotmäßigkeit wurde allerdings zu allen Zeiten streng geahndet.

Zum Zweiten: Eine Beschäftigung mit den iranischen Großreichen ist in der Lage, antike wie spätere, manchmal sogar noch heute vorhandene Stereotype und Klischees zu erkennen und aufzubrechen: das in der Antike grundgelegte und in der Frühen Neuzeit zur Kritik der eigenen politischen Verhältnisse revitalisierte Bild vom orientalischen Despotismus etwa oder die Vorstellung, der Alte Orient habe, im Gegensatz zum prosperierenden Westen, ökonomisch stagniert.

Rezeptionsgeschichtlich bedeutsam

Zum Dritten: Die iranischen Großreiche der Antike waren rezeptionsgeschichtlich immer bedeutsam: in Form etwa des Ahasverus (Xerxes) des biblischen Estherbuches oder des Kyros als eines Gesalbten (Messias) Jahwes; in der fälschlichen Nutzung der Schlachtorte der Perserkriege als europäische Gedächtnisorte; in der Vorstellung vom Paradiesgarten, die sich begrifflich wie faktisch an den königlichen Parks der Achaimeniden orientiert; in der Rolle der Sassaniden als kultureller Vermittler, die Schachspiel und Backgammon, aber auch philosophisches und medizinisches Wissen und indische Fabeldichtung zwischen Ost und West und vorislamischer und islami scher Zeit verhandelten; in der Bedeutung des parthischen und sassanidischen Zweistromlandes für die Entwicklung jüdischer (Stichwort: Babylonischer Talmud) und christlicher Gemeinschaften. Auch der Zarathustrismus, in parthischer und sassanidischer Zeit religiöses Bekenntnis der meisten Iraner, hat Spuren in der Rezeptionsgeschichte hinterlassen; etwa bei Nietzsche oder den Parsen in Indien.

Abgesehen vom Wissen um diese Herrscher- und Heldengestalten der iranischen Tradition und der anhaltenden Verehrung des Kyros, der inzwischen selbst iranischen Nationalisten wie dem früheren Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad als Vorbild erscheint, existiert im Iran bei vielen Menschen eine Vorstellung von der historischen Größe des Iran, einer Größe, die oft genug auch mit den katastrophenresistenten Qualitäten seiner Bewohner be gründet wird.

Anders als die meisten Mitglieder der religiös-politischen Elite der Islamischen Republik, denen der vorislamische Iran nicht zur Herrschaftslegitimierung dient, adelt ein Großteil der Bevölkerung die Stätten der altiranischen Kulturen durch stetigen Besuch. In der Ablehnung westlicher „Zerrbilder“ altiranischer Größe, etwa in Filmen wie 300 oder eurozentrischen Geschichtsdarstellungen, sind sich Regime und Bevölkerung allerdings einig. ­

Josef Wiesehöfer
Josef Wiesehöfer ist Professor em. für Alte Geschichte an der Universität Kiel. Er ist Verfasser zahlreicher Arbeiten zur Geschichte Altirans und seiner Beziehungen zur Mittelmeerwelt und zu Zentralasien, zur antiken Sozialgeschichte und zur Rezeptionsund Wissenschaftsgeschichte.