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Wie der Osten Europas nach 1945 von einer Schreckensherrschaft zur anderen kam

Befreit – und zugleich unterdrückt

Der 8. Mai 1945 gehört zu den markanten Daten unserer Geschichte. Lange wurde darüber gestritten, ob er ein Tag der Niederlage oder der Befreiung, des Triumphs oder der Schmach gewesen ist. Das Urteil darüber hing letztlich immer von den Erlebnissen der Betroffenen ab. Siebzig Jahre später, wo die Zeitzeugen kaum noch am Leben sind, ist es an der Zeit, den 8. Mai als das zu betrachten, was er jenseits der Schicksale von Millionen Menschen war – ein Wendepunkt der europäischen Geschichte, der die Entwicklung unseres Kontinents bis heute entscheidend prägt.

Anne Applebaum16.02.2015

Während das Ende des Zweiten Weltkriegs für die Westeuropäer die Befreiung von deutscher Besatzung und vom Nationalsozialismus brachte, mussten die Bewohner Osteuropas schnell erkennen, dass sie mit der Ankunft sowjetischer Truppen lediglich von einem Schreckensregime unter eine neue Form totalitärer Herrschaft geraten waren. Hinter dem „Eisernen Vorhang“ wurden die Staaten in der östlichen Hälfte des Kontinents gewaltsam in sozialistische Gesellschaften verwandelt. Die Niederschlagung des Arbeiteraufstandes in Ost-Berlin und in der DDR am 17. Juni 1953 sowie des ungarischen Volksaufstandes 1956 samt späterer Hinrichtung des reformwilligen Regierungschefs Imre Nagy oder das Niederwalzen des Prager Frühlings 1968 durch russische Panzer stehen symbolhaft für den totalitären Herrschaftsanspruch der von Moskau aus geführten kommunistischen Parteien.

Ein kurzer „Berliner Frühling“

Der Kommunismus veränderte jedoch nicht nur die Wirtschaft und die Politik, sondern drang in alle Bereiche des Lebens vor. Auch Sportvereine, Krankenhäuser, Universitäten, Sommerlager, außerschulische Freizeitbeschäftigungen von Kindern, Kunst, Musik und Museen unterstanden über Jahrzehnte hinweg dem Herrschaftsanspruch der jeweiligen Staatspartei. Dabei gingen die Machthaber nicht nur gegen einstige Nazis oder offene Regimegegner vor, sondern gegen alle, die ihrem Anspruch auf totalitäre Herrschaft auch nur im Geringsten gefährlich werden konnten. Mit bleibenden Folgen für die Gesellschaften der betroffenen Länder.

Ein in dieser Hinsicht eindrucksvolles Beispiel ist aus der früheren „Reichshauptstadt“ Berlin überliefert. Nachdem im Frühjahr 1945 das Schießen ein Ende hatte, waren Tausende von Kindern und Jugendlichen, die in der zerstörten und besiegten Stadt lebten, sich selbst überlassen. Um sie herum fanden sich überall verzweifelte Erwachsene. Schulen waren geschlossen. Eines von fünf deutschen Schulkindern hatte seinen Vater verloren, bei einem von zehn saß der Vater in einem Kriegsgefangenenlager.

Im Berliner Stadtteil Neukölln beschloss eine Gruppe junger Menschen, die Apathie der Erwachsenen zu bekämpfen und die Dinge selbst in die Hände zu nehmen. Mit der Ankündigung ihrer Absichten, bei dem Wiederaufbau der Stadt zu helfen, gründeten sie eine „antifaschistische“ Gruppe, die innerhalb weniger Tage 600 Mitglieder zählte. Bis zum 20. Mai, also weniger als zwei Wochen nach dem Waffenstillstand, hatten die jungen Menschen fünf Waisenhäuser eingerichtet und zwei Sportstadien von Schutt befreit. Begeistert durch dieses Beispiel begannen auch andere Jugendliche in Berlin, das zu diesem Zeitpunkt vollständig unter sowjetischer Kontrolle stand, ähnliche antifaschistische Gruppen zu organisieren.


Doch währte dieser besondere „Berliner Frühling“ nicht lange. „Diese Gruppen sind sofort aufzulösen“, erklärte Walter Ulbricht, der gerade dabei war, die Grundlagen für die Wiedergründung der kommunistischen Partei zu schaffen, als er von der jugendlichen Eigeninitiative erfuhr. Am 31. Juli 1945 verbot dann die Sowjetische Militäradminis-tration in Deutschland (SMAD) alle nicht registrierten Organisationen. Von diesem Zeitpunkt an mussten alle Gruppen, Vereine und Vereinigungen in der Ostzone Deutschlands eine ausdrückliche Genehmigung für ihre Existenz erhalten. Allzu viele bekamen diese jedoch nicht.

Muster der „Totalisierung“

Ulbrichts Forderung und der Beschluss der SMAD waren nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Aufgrund zahlreicher Archivfunde und Forschungsarbeiten wissen wir heute, wie wichtig die Verfolgung bürgerlicher Aktivisten für sowjetische und osteuropäische kommunistische Parteien war. Sie nahm oft eine Vorrangstellung vor anderen politischen und wirtschaftlichen Zielen ein und wurde häufig gewaltsam durchgesetzt. Dabei handelte es sich nicht um Massengewalt, diese vermieden die osteuropäischen Kommunisten nach 1945, sondern um selektive Gewalt, die sorgsam auf die Elite abzielte – Intellektuelle, Geschäftsmänner, Geistliche, Polizisten, Anti-Nazi-Parteianhänger. Vor allem jedoch zielte die Gewalt auf jeden ab, der in der Lage war, selbständig irgendeine Art von Organisation, ganz egal wie unpolitisch sie war, zu gründen oder zu führen. Folglich waren auch Pfadfinder, Freimaurer und katholische Jugendleiter unter den frühen Opfern kommunistischer Regime zu finden. Mit dieser Methode beherrschten die Kommunisten letztendlich so unterschiedliche Länder wie das primitive Albanien, das industriell hochentwickelte Böhmen und sogar Polen, das 1920 einen blutigen Krieg mit der Sowjetunion gekämpft und gewonnen hatte.

In den nachfolgenden Jahrzehnten wurde das sowjetische Muster der „Totalitarisierung“ – der Versuch, die totale Kontrolle über alle Aspekte des öffentlichen Lebens zu erhalten – zu einem der wenigen weltweit gefragten Exportartikel des Kommunismus. Sowohl der Irak zu Zeiten Saddam Husseins als auch das Libyen des Muammar al Gaddafi erhielten aus Moskau und Ost-Berlin Ratschläge für die Arbeit der Geheimpolizei. Auch die Regime Chinas, Ägyptens, Syriens, Angolas, Kubas und Nordkoreas erhielten Hilfestellung durch die Sowjets. Viele Despoten imitierten auch ohne Beratung den Drang der Sowjetunion, die sozialen, kulturellen, gesetzlichen und erzieherischen Institutionen sowie Wirtschaft und Politik zu kontrollieren. Bis 1989 schien die Herrschaft der Sowjetunion über Osteuropa ein dauerhaftes Erfolgsmodell für Möchtegern-Diktatoren zu sein; eines, das den Anschein einer ewigen Machtgarantie hatte. Wie wir heute wissen, funktionierten diese Methoden in Osteuropa jedoch niemals vollständig so, wie sie funktionieren sollten. Auch in Asien, Afrika oder Lateinamerika waren sie niemals gänzlich erfolgreich.

Dennoch richtete die kommunistische Durchdringung ganzer Gesellschaften gewaltigen Schaden an. In ihrem Drang nach Macht verdrängten oder untergruben die Bolschewiki und ihre osteuropäischen Gefolgsmänner Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Zeitungen, Berufsvereine, Literatur- und Bildungsgesellschaften, Unternehmen und Einzelhandelsgeschäfte, Aktienmärkte, Gewerkschaften, Banken, Sportvereine und Universitäten, die seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten existiert hatten.

Nicht zuletzt beweist die Geschichte Osteuropas in der Nachkriegszeit, wie zerbrechlich von Menschen getragene Organisationen in Wirklichkeit sind. Wenn Despoten nur ausreichend entschlossen sind, können sie historische und scheinbar dauerhafte gesetzliche, politische, erzieherische und religiöse Einrichtungen zerstören, manchmal für immer.

Rückkehr des Bürgertums

Als Folge dieser Beeinträchtigung verlangten die postkommunistischen Länder nach 1989/91 weit mehr als die reinen Institutionen der Demokratie – wie Wahlen, politische Parteien und deren Kampagnen –, um wieder funktionierende liberale Gesellschaften zu werden; und weit mehr als nur ein paar makroökonomische Reformen, um wieder zu gedeihen. Sie mussten auch unabhängige Medien, private Unternehmen, ein florierendes Gemeindeleben und – obwohl dies oftmals vergessen wird – ein Rechts- und Regulierungssystem zur Unterstützung all dessen neu erschaffen. Nicht zuletzt mussten sie auch eine Kultur etablieren, die unabhängige Gruppen und Organisationen aller Art toleriert. Nicht zufällig waren die erfolgreichsten postkommunistischen Staaten jene, die es trotz staatlicher Unterdrückung geschafft hatten, Elemente der Zivilgesellschaft aus der Zeit vor der kommunistischen Herrschaft zu bewahren; sowie jene, die begierig waren, die Gesetze und Einstellungen Westeuropas zu übernehmen, um das Wachstum einer neuen bürgerlichen Kultur zu unterstützen.

Am wenigsten erfolgreich waren jene Länder – wie zum Beispiel Russland –, wo selbst heute alle Gruppierungen, die nicht der Regierung angehören, immer noch mit Unterstellungen und Verdächtigungen attackiert werden. So bestrafte und schikanierte der Kreml eine ganze Reihe unabhängiger Organisationen auch dann, wenn sie sich mit Politik gar nicht befassten. Man verbot unter anderem ausländische Finanzierungen für Gruppen, die dazu bestimmt sind, HIV und TB vorzubeugen, Kinder mit Behinderungen zu unterstützen, Giftmüll zu reinigen und Gefängnisse umzugestalten.

Die Nachwirkungen des Kommunismus in den Köpfen der Menschen sind weitaus schwerwiegender als die Folgen jahrzehntelanger Mangelwirtschaft. Doch brauchen die vormals unterdrückten Gesellschaften eine motivierte Bevölkerung, wenn sie in politischer Hinsicht wieder an Dynamik gewinnen sollen. Patriotismus, Geschichtsbewusstsein, Bildung, Ehrgeiz, Optimismus und vor allem Geduld sind dafür entscheidende Zutaten. Der Wiederaufbau der Zerstörungen, die durch die totalitären Regime angerichtet wurden, wird trotz beeindruckender Leistungen in den letzten 25 Jahren auch künftig nicht Jahre, sondern Jahrzehnte und Generationen andauern.

Anne Applebaum
Anne Applebaum ist Historikerin und Publizistin. Sie begann ihre Karriere 1988 als Korrespondentin des „Economist“ in Warschau, von wo sie über den Zusammenbruch des Kommunismus berichtete. Heute ist sie Direktorin des Legatum-Instituts in London und schreibt als Kolumnistin für „Slate“ und „Washington Post“. Zu ihren Büchern gehören u.a. „Der Gulag“ (2003) und „Der Eiserne Vorhang“ (2013, beide Siedler). anneapple baum.com