Titelthema
Bilder von einem Land
Der Brexit und die Debatten darüber zwingen die Briten zur Klärung der Frage, wer sie sind. In vielen Darstellungen erkennen sie sich jedoch nicht wieder
Sich selbst so zu sehen, wie man von anderen wahrgenommen wird, ist eine der Tugenden, die schwer zu erreichen, jedoch immer erstrebenswert sind. Natürlich müssen die eigenen Wahrnehmungen nicht mit denen der anderen übereinstimmen; es ist jedoch hilfreich, diese zu kennen. Der Brexit war zumindest in diesem Sinne eine hilfreiche Übung, die den „Anderen“ die Möglichkeit gegeben hat, ausführlich ihre Gedanken zu Großbritannien zu äußern. Doch in vielen Beschreibungen der Briten in letzter Zeit, vor allem in den Analysen der englischen Seele von außen, habe ich mein Land schlichtweg nicht erkannt.
Verzerrte Darstellungen
Zu den zahllosen Köpfen, die sich seit jenem 23. Juni 2016, als die Bürger Großbritanniens für den Brexit stimmten, an einer Deutung der Ereignisse versuchen, gehört der irische Schriftsteller Fintan O’Toole. Als Kolumnist der Irish Times kann O’Toole zu den einflussreichsten Brexit-Kritikern in der liberalen Presse Irlands, Großbritanniens und den USA gelten. Sein neues Buch „Heroic Failure. Brexit and the Politics of Pain“ (Heroisches Versagen. Der Brexit und die Politik des Schmerzes) ist voll von präzisen kulturellen Beobachtungen, und es bringt Boris Johnson in urkomischer Form zur Strecke. Aber in seiner Darstellung vor allem Englands gibt es so vieles, das ich nicht erkenne, wodurch er mich – der ich für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU gestimmt habe und doch denke, dass das Brexit-Votum respektiert werden muss – gezwungen hat, mir Gedanken über einige echte Dilemmata zu machen, die der Brexit an die Oberfläche gebracht hat: vor allem die englische Frage.
O’Toole’s Brexit ist – wie so viele aktuelle Texte – eine Collage der englischen Hässlichkeit: Sie zeigt ein Volk angetrieben von Rassismus, Engstirnigkeit, Selbstmitleid, Überlegenheit, Besessenheit vom Empire und Deutschland, angeführt von einer dilettantischen, politischen Oberschicht-Elite, deren Projekt ein Anti-Wohlfahrtsstaat in Form einer extremen Globalisierung ist, das hinterlistig als eine populäre Revolte gegen die Globalisierung getarnt wird. Wie viele Linksliberale ist auch O’Toole damit höchst zufrieden, die Motivation der Briten vor allem in wirtschaftlichen Gründen zu suchen. Dass vernünftige Menschen Souveränität und starke nationale Zugehörigkeitsgefühle wertschätzen können, kommt ihm erst gar nicht in den Sinn.
Die EU hingegen – die heute zweifellos eine andere ist als 1973, als Irland und Großbritannien ihr beitraten – wird nahezu vollständig unkritisch gesehen. Und jegliche Einwände gegenüber Brüssel werden als Phantasien der Konservativen von einer „eingebildeten Unterdrückung“ abgetan. Die unglückselige Geschichte des Euro und das Drama um die Staatsschulden Griechenlands, Spaniens oder Italiens (und in kleinerem Maße Irlands) wird ebenso ausgeblendet wie das Versagen der europäischen Außenpolitik von Bosnien bis hin zur Ukraine. Und auch die Art und Weise, mit der einige Kern-Länder die Vorschriften zum Wirtschaftsdefizit oder zum Umgang mit Flüchtlingen ungestraft gebrochen haben, findet keine kritische Erwähnung.
Ähnlich klischeebehaftet wie die Darstellung Großbritanniens ist auch die Beschreibung seiner führenden Politiker, vor allem der konservativen Tories. Auch wenn es viele, vor allem Linke, immer noch nicht wahrhaben wollen: Margaret Thatcher hat den britischen Sozialstaat nicht zerstört; die staatlichen Sozialausgaben stiegen von 1979 bis 1997 deutlich an und sind höher als in Irland. Die Konservative Partei vertritt heute in deutlich stärkerem Maße die breite Mittelklasse als je zuvor. Weniger als die Hälfte der konservativen Parlamentsabgeordneten hat eine Privatschule besucht, in Theresa May’s Kabinett sind es sogar nur ein Drittel (und keiner davon ist Eton-Absolvent!). Die Behauptung, dass die Brexiteers der politischen Klasse kleinstaatlerische, den Sozialstaat ablehnende Käuze sind, ist eine comichafte Übertreibung. Jacob Rees-Mogg zum Beispiel, der derzeit wohl prominenteste Kopf dieses Lagers, unterstützt den staatlichen Gesundheitsdienst NHS deutlich. Der ehemalige Arbeitsminister Iain Duncan Smith trat nach sechs Jahren Amtszeit vor dem Hintergrund von Einschnitten bei den Sozialausgaben zurück. Und Michael Gove, der bis dato u.a. Justizminister und Bildungsminister war und derzeit das Umwelt- und Ernährungsressort verantwortet, ist sicherlich kein Dilettant, wenn es um Bildung in sozialen Brennpunkten geht.
Richtig ist, dass die Londoner Politiker sich beim Brexit-Procedere nicht mit Ruhm bekleckert haben: Das Ausrufen des Austritts nach Artikel 50 des EU-Vertrags ohne Vereinbarung eines konkreten Fahrplans; das Versagen, die öffentliche Meinung auf die zu erwartenden Abstriche vorzubereiten; und die Erlaubnis für die EU, die Tagesordnung und die Abfolge der Verhandlungen festzulegen und das dabei in einigen Fällen gezeigte beschämende Niveau an Unwissen über die Kernthemen vermittelten allzu oft das Bild einer kopflosen politischen Führung. Es ist jedoch nicht fair, die gesamte Schmach hierfür der „dekadenten englischen Regierungsklasse“ aufzuladen. Angesichts der historischen Empfindlichkeiten und des allseitigen Konsenses über das Vermeiden einer harten künftigen Grenze, hätte durchaus auch von der EU das eine oder andere Entgegenkommen erwartet werden können.
Das Kolonial-Klischee
Ein weiteres Klischee, das die Briten permanent begleitet, ist die angebliche Sehnsucht nach dem untergegangenen Empire. So heißt es bei O’Toole, dass „der Widerstand gegen die irische Unabhängigkeit … schlichtweg grundlegend für den modernen britischen Konservativismus ist.“ Ist den Verfechtern einer solchen These nicht bewusst, dass die Grundlagen des Karfreitagsabkommens, das vor zwanzig Jahren einen beispiellosen Friedensprozess in Gang setzte, von John Major’s konservativer Regierung gelegt wurden?
Richtig ist, dass es kaum zwei souveräne Staaten auf der Welt gibt, die sowohl kulturell als auch persönlich so stark miteinander verbunden sind wie das Vereinigte Königreich und die Irische Republik. Gleichwohl gibt es in England keinerlei aggressive Stimmung gegenüber der Nachbarinsel. Weder gibt es Beschwerden oder gar Missgunst darüber, dass Irland inzwischen ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als Großbritannien besitzt, noch gibt es – trotz der derzeitigen Unsicherheiten über den künftigen Status der inner-irischen Grenze, die offensichtlich einem sanfteren britischen Ausscheiden aus der EU im Weg steht – eine anti-irische Stimmung. Wenn sich die Engländer wirklich so nostalgisch an ihr Empire und Irlands Platz darin erinnern würden, hätte es im Laufe der letzten Monate zweifellos deutlich mehr anti-irisches Geschrei gegeben.
Tatsächlich ist das Bemerkenswerte an der britischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie wenig Widerstand es im Allgemeinen nach 1945 gegen die Entkolonialisierung gab. Sicherlich empfindet ein Großteil der Briten heutzutage einen vagen Stolz auf das Empire; aber dieser Stolz ähnelt eher dem Empfinden der Italiener für das Römische Reich. Das eine große, der Geschichte des Empires gewidmete Museum schloss 2009, während das Commonwealth Institute 2007 verkauft wurde.
Das England von heute ist ein ungewöhnlich fließendes, offenes und vielfältiges Land: 25 Prozent seiner Bevölkerung ist nicht weiß-britisch, ein Großteil seiner Wirtschaft und Infrastruktur ist im Fremdbesitz, seine Kultur und sein Establishment sind vor allem in Richtung der „Anglosphäre“ stark durchlässig (so führt ein Kanadier die Zentralbank, und die Schotten haben Labour dominiert); und es gibt eine schnellwachsende Mittelschicht ethnischer Minoritäten. Sieht so ein abgeschottetes Land aus?
Das englische Problem
Ein Schlüsselproblem für die künftige Verfasstheit Großbritanniens ist die englische Frage. Das Königreich hat, von den Europäern kaum wahrgenommen, in den vergangenen 25 Jahren eine starke Dezentralisierung erfahren. Nordirland (und auch die Republik), Schottland und Wales verfügen über neue regionale Institutionen und ein stärkeres regionales Bewusstsein. Das englische Bewusstsein besitzt jedoch keine derartigen Institutionen (außer den Metropolregionen und den Nationalmannschaften in Fußball oder Rugby); das englische Selbstverständnis war und ist es, tragende Kraft des gesamten Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland zu sein. Während in Schottland Autonomiebestrebungen nach Aufbruch und Unabhängigkeit klingen, stehen sie in England für Provinzialität und Selbstverzwergung. Darum meiden die politische Klasse und die Intellektuellen das Thema Regionalisierung.
Wie stark das „englische Fühlen“ tatsächlich ist, ist schwer zu beziffern. Umfragen ergaben eine eigenständige England-Identifizierung von weniger als 20 Prozent, was deutlich unterhalb der Werte für die Identitäten eines eigenständigen Schottlands und Wales liegt. Gleichwohl identifiziert John Denham vom Centre for English Identity and Politics durchaus eine starke Gruppe mit zutiefst „englischen Interessen“, die ein englisches Parlament unterstützt und den englischen Interessen gegenüber sowohl der Union Großbritanniens als auch der EU Priorität einräumen.
In jedem Falle dürfte die Frage, wer die Engländer sind, wenn sie nicht mehr zur Europäischen Union gehören, sondern nur noch Bürger des Vereinigten Königreichs sind, an Bedeutung zunehmen. Sie werden klären müssen, wie sie ihre eigenen nationalen Interessen in dem künftig allein stehenden Britannien gegenüber dem gewachsenen Selbstbewusstsein der Schotten, Waliser und Nordiren vertreten, ohne die Interessen der kleineren Länder zu missachten und diese möglicherweise zu noch mehr Unabhängigkeitsbestrebungen anzustacheln.
Der Wille zur Unabhängigkeit
Anstelle einer Zurückweisung der Dezentralisierungsbestrebungen im Vereinigten Königreich hat sich das politisch stumme Englische in den vergangenen Jahren darauf verlegt, die eigene Identität in der Opposition gegenüber dem zunehmenden Verlust von Souveränität an die EU zu suchen. Die Briten, vor allem die Engländer, haben eine Anpassung an die EU schon immer schwerer akzeptiert als die meisten anderen Europäer. Dies liegt nicht an einer vermeintlichen Arroganz, sondern in der Tatsache begründet, dass die englische Identität stärker an politische Institutionen und Ideen der Eigenregierung sowie an Kultur, Sprache und Lebensweise gebunden ist als dies auf dem europäischen Festland der Fall ist.
Technokratische Entscheidungsfindungen sind in England unbeliebter als in den meisten anderen EU-Gemeinwesen. Während sich kleinere Länder der EU wie Irland schon immer mit größeren Kräften arrangieren mussten, sind es die Engländer gewöhnt, allein über ihre Geschicke zu bestimmen. Das erklärt, warum sie Entscheidungen aus Brüssel oder anderen europäischen Hauptstädten immer als Fremdbestimmung empfanden.
Wie dem auch sei – die Briten haben sich entschieden, die Europäische Union zu verlassen. Der Ausgang ist ungewiss. Klar scheint zu sein, dass die Verhältnisse für beide Seiten – Briten wie EU – unsicherer werden. In dieser Situation bemühen einige Brexiteers mit freundlichen Worten das alte Bild von der Seefahrernation, die ihre Reise auf das Meer hinaus startet, ohne zu wissen, welche Unwetter unterwegs kommen werden. Dies mag ein naives Konzept von Souveränität in der heutigen Welt sein – im Gegensatz zur oft behaupteten Empire-Nostalgie ist es jedoch eine Vision von Freiheit und kein Verlangen nach erneuter Dominanz.
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