Titelthema: Populismus
Die „Anywheres“ und die „Somewheres“
Die wachsende Kluft zwischen der breiten Mitte der Gesellschaft und der liberalen Oberschicht
Die Politik in Großbritannien und anderen wohlhabenden Demokratien hat in den vergangenen Jahren an Stabilität verloren. Der Grund dafür ist eine wachsende Wertekluft zwischen den – wie ich sie nenne – „Anywheres“ und den „Somewheres“.
Die „Anywheres“ sind normalerweise gut ausgebildet und mobil. Sie legen großen Wert auf Autonomie, Offenheit und Fluidität. Sie haben eine „erarbeitete Identität“, die auf Bildungs- und Berufserfolgen basiert und dazu führt, dass sie sich überall selbstsicher und wohl fühlen. Die „Somewheres“ sind stärker verwurzelt und weniger gut ausgebildet. Ihnen sind Gruppenzugehörigkeiten, Vertrautheit und Sicherheit wichtig. Sie haben eine „zugeschriebene Identität“, die auf einer Orts- und Gruppenzugehörigkeit basiert, was dazu führt, dass Veränderungen ihnen eher Unbehagen bereiten.
Die Dominanz der Oberschicht
Vor vierzig Jahren war der britische Common Sense ein „Somewhere“-Common Sense. Über die letzten ein oder zwei Generationen hinweg wurde er jedoch zum „Anywhere“-Common Sense. Wir „Anywheres“ sind meist Akademiker und wohlhabend. Wir sind weniger als 25 Prozent der Bevölkerung, während die „Somewheres“ fast die Hälfte ausmachen. Doch wir dominieren die Politik und die Gesellschaft unabhängig von der Partei, die an der Macht ist.
Die „wissensbasierte Wirtschaft“, die sich in den letzten Jahren herausgebildet hat, funktioniert z. B. gut für die Hochgebildeten, während ein sanduhrförmiger Arbeitsmarkt viele Jobs im mittleren Bereich, die den „Somewheres“ Status verliehen, zunichtemachte. Während die Hochschulbildung – eine Welt, in der sich „Anywhere“-Kinder gut entwickeln – massiv ausgebaut wurde, haben wir zugleich den Niedergang der Berufs- und Lehrlingsausbildung, von der so viele „Somewheres“ profitierten, zugelassen. Wir schufen eine viel offenere Wirtschaft und förderten die Masseneinwanderung, während wir das Unbehagen über die schnellen ethnischen Veränderungen im ganzen Land ignorierten oder als fremdenfeindlich abstempelten. Und die Familienpolitik geht von der Annahme aus, dass Männer und Frauen nicht nur gleich sind, sondern auch die gleichen Prioritäten haben und die bezahlte Arbeit an die erste Stelle setzen, während sich die herkömmliche Familie weiterhin im Niedergang befindet.
Uns „Anywheres“ liegt die Welt am Herzen, wir können aber blind vor Rücksicht auf uns selbst sein. Wir haben die Dinge nach unseren eigenen Interessen geführt und dies als nationales Interesse bezeichnet. Nehmen wir die EU-Freizügigkeit: Ein Rechtsanwalt kann ein paar Jahre zum Arbeiten nach Berlin gehen und muss nicht zu Hause, wie dies bei Arbeitern in einer Lebensmittelfabrik in Nordengland mit großer Wahrscheinlichkeit der Fall sein wird, mit Osteuropäern, die den Mindestlohn erhalten, konkurrieren.
Diese Wertekluft hat es schon immer gegeben, doch in den letzten Jahren hat sie aus zwei Gründen an Bedeutung gewonnen. Der erste ist die schlichte Tatsache, dass soziokulturelle Fragen wichtiger geworden sind. Die alten Klassen- und sozioökonomischen Spaltungen in inks und Rechts sind nicht verschwunden, wurden aber zum Teil durch Fragen der nationalen Identität und der Souveränität, der ethnischen Zugehörigkeit und der Einwanderung, der Sicherheit und der Geschwindigkeit des Wandels in den Hintergrund gedrängt. Zweitens hat sich das „Anywhere-Somewhere“-Gleichgewicht in den vergangenen 30 Jahren durch eine starke Zunahme der Anzahl und des Einflusses der erstgenannten Gruppe auch dank der raschen Expansion der Hochschulbildung deutlich verschoben.
Vielen Menschen wird die Kluft zwischen den „Anywheres“ und den „Somewheres“ als Schwarz-Weiß-Denken und zu vereinfachend erscheinen. In meinem Buch „The Road To Somewhere“ gebe ich eine detailliertere und nuanciertere Beschreibung. Es gibt viele Arten von „Anywheres“ und „Somewheres“: Die extremsten „Anywheres“ bezeichne ich als „Global Villagers“ (ca. fünf Prozent der Bevölkerung) und die extremeren „Somewheres“ als „Hard Authoritarians“ (ca. fünf bis sieben Prozent). Dazwischen gibt es noch eine große Gruppe, die ich als die „Inbetweeners“ bezeichne und die ca. ein Viertel der Bevölkerung ausmacht.
Der Triumpfzug des Liberalismus
Die Zahlen stammen aus den British Social Attitudes Surveys und unzähligen anderen Meinungs- und Werteumfragen der vergangenen Jahre. Eine Umfrage spiegelt die von mir beschriebenen Werteblöcke perfekt wider. In den letzten Jahren ergab die wichtigste Meinungsumfrage zur Einwanderung, dass 75 Prozent der Bevölkerung der Ansicht sind, dass die Einwanderung „zu hoch“ oder „viel zu hoch“ sei. Dies teilt sich wie folgt auf: 50 Prozent glauben, sie sei viel zu hoch (die „Somewheres“), 25 Prozent glauben, sie sei ein wenig zu hoch (die „Inbetweeners“), weitere 20/22 Prozent glauben, sie sei ungefähr richtig (Durchschnitts-„Anywheres“) und drei bis vier Prozent würden sich sogar noch mehr Einwanderung wünschen (die „Global Villagers“).
Den Umfragen können wir noch etwas anderes Interessantes entnehmen. Wir sind heute alle liberal, zumindest was den Lebensstil anbetrifft. In den vergangenen 40 Jahren gab es eine „große Liberalisierung“ der kulturellen Einstellungen zur Rasse, zum Geschlecht und zur Sexualität (weniger jedoch zur Einwanderung und zu den Sozialleistungen), die zwar von den „Anywheres“ getragen wurde, aber auch viele „Somewheres“ mitgezogen hat.
Aus diesem Grund bezeichne ich die Weltsicht der „Somewheres“ als „anständigen Populismus“. Abgesehen von einem kleinen Teil sind sie weder intolerant noch fremdenfeindlich, halten aber an verschiedenen Gruppenidentitäten fest und stehen dem raschen Wandel misstrauisch gegenüber. Viele „Somewheres“ gehen nicht mehr zu Parlamentswahlen, weil alle großen Parteien seit den 1990er Jahren die Weltsicht der „Anywheres“ vertreten. Beim Brexit-Referendum nutzten sie jedoch ihre Chance und sagten: „Genug, eure ‚Anyway‘-Form der Offenheit bringt uns nichts.“
Aufgabe der Eliten
Obwohl ich den „Anywheres“ und der „liberalen Allumfassendheit“ der letzten Jahre, die sich in der EU in einer übertriebenen Ausweitung des Euro und im Konzept der Europa-Bürgerschaft beispielhaft ausdrückt, kritisch gegenüberstehe, bin ich der Meinung, dass beide Weltsichten auf ihre jeweils eigene Weise vollkommen anständig sind. Die Aufgabe der Politik besteht für die nächste Generation darin, einen neuen Ausgleich zwischen diesen beiden Werteblöcken zu finden und dadurch die Wahrscheinlichkeit weiterer Brexit-ähnlicher Schocks zu verringern.
Das Erreichen dieses neuen Ausgleichs ist abhängig vom Ausgang der aktuellen Debatte unter den „Anywheres“: zwischen jenen, die ich als die gewarnten „Anywheres“ bezeichne; die anerkennen, dass sie nicht genug auf die Besorgnisse der „Somewheres“ gehört haben – und den militanteren „Anywheres“, die der Meinung sind, dass sie die Barbaren bekämpfen.
Wollen wir hoffen, dass die gewarnten „Anywheres“ – in Großbritannien vielleicht am besten durch Theresa May vertreten – die Debatte gewinnen. Andernfalls müssen wir uns auf noch stürmischere Zeiten gefasst machen.
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