Brief an die Außenministerin
Bismarck schreibt an Baerbock
Das ehemalige Bismarck-Zimmer im Auswärtigen Amt wurde umbenannt, zum Wohlwollen der derzeitigen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne). Diese Entscheidung kritisiert der Nachfahre des früheren Reichskanzlers, Ex-Familienvorstand und Rotarier Ernst von Bismarck in einem Brief.
Sehr geehrte Frau Bundesministerin Baerbock,
mir gefällt der frische Wind, der mit Ihnen im Auswärtigen Amt eingezogen ist. Gestatten Sie mir gleichwohl einige kritische Anmerkungen zur Umbenennung des Bismarck-Zimmers, da die öffentlichen Diskussionen zu diesem Thema den wesentlichen Kern der Angelegenheit leider bisher nur am Rand gestreift haben.
Es geht doch eigentlich um die Frage, wie gehen Länder mit ihrer Geschichte um.
Da zeigt sich generell ein sehr klares Bild: Diktaturen, vor allem die mit ideologisch geprägter Basis, entstellen die Geschichte und finden sozusagen nur die „Ostereier“, die sie selbst versteckt haben. Alles andere schneiden sie ab, also auch die heute noch gesellschaftlich tragfähigen Verhaltensweisen (das unterstelle ich Ihnen nicht, denn der neue Name „Saal der Deutschen Einheit“ kann ja auch zu Otto von Bismarck überleiten).
Demgegenüber bemühen sich Demokratien mit ihrer meist unabhängigen Geschichtswissenschaft um eine möglichst realitätsnahe Sicht ohne Denkverbote. Wenn man genau hinschaut, kann man sogar sehen, daß der Reifegrad und damit auch die Stabilität von Demokratien an der Qualität dieser Differenzierung zu erkennen ist. Warum soll man auch das Gedenken an die Entstehung von gesellschaftlichen Prozessen vernachlässigen, wenn sie heute noch unsere demokratische Gesellschaft tragen und ihre Tragfähigkeit erprobt ist. Ideologien vergröbern demgegenüber nur, brechen alle Brücken hinter sich ab und gehen damit immer fehl. Das spaltet nur und gefährdet ohne Not den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
Gerade, wenn es um das Gedenken an demokratische Entwicklungen angeht, ist die Regierungszeit Otto von Bismarcks ein gutes Beispiel (insofern greift die erste Begründung des Auswärtigen Amtes für die Umbenennung, er sei kein Demokrat gewesen, zu kurz):
Natürlich konnte er als „Angestellter“ des Kaisers den heutigen Ansprüche an einen lupenreinen Demokraten nicht entsprechen – Geschichte kann selbstverständlich nur aus ihrer Zeit heraus beurteilt werden - , aber in seiner Regierungszeit hat Bismarck viele demokratische Mitwirkungsrechte eingeführt, auf die beispielsweise die Engländer, also im Mutterland der Demokratie, noch Jahrzehnte warten mussten. Das alles trotz seiner erzkonservativen Herkunft und einer klassischen Autokratie, die er vorfand.
Ich nenne hier nur beispielhaft einige Mitwirkungsrechte, die er in Deutschland eingeführt hat:
Das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht im Norddeutschen Bund und im Kaiserreich (allerdings nur für Männer, aber das gab es im 19. Jahrhundert noch nirgendwo für Frauen).
Die Deutsche Einigung, die dem Willen fast aller Schichten der deutschen Bevölkerung entsprach und die nach zwei Katastrophen im 20. Jahrhundert bis heute überlebt hat.
- Eine Verfassung für den Norddeutschen Bund und das Kaiserreich.
- Einen für die damaligen Verhältnisse modernen Parteienstaat.
- Die Gleichstellung der Juden, die Zivilehe und viele andere Rechtkodifikationen.
- Eine vom Parlament mitgetragene Sozialversicherung.
Selbstverständlich hat Bismarck nach meiner Ansicht auch Fehler gemacht (zum Beispiel Sozialistengesetze, Kulturkampf). Aber auch da hat er sich teilweise korrigiert (Kulturkampf). Ihm deswegen die Anerkennung für seine unbestreitbaren Erfolge in Richtung demokratischer Prozesse zu entziehen wäre kleinmütig. Das haben beispielsweise auch die Amerikaner und Engländer mit ihren Volkshelden aus der Geschichte (Jefferson, Lincoln, Churchill) nicht getan, obwohl es bei diesen viel, viel mehr zu kritisieren gibt.
Bismarck war unbestreitbar ein lernender Politiker.
Nach den begrenzten Einigungskriegen, die keine Eroberungskriege waren, hat er Deutschland und Europa durch geschicktes Handeln für sehr lange Zeit den Frieden gesichert.
Als Begründung für die Umbenennung des Bismarck Zimmers hört man aus dem Auswärtigen Amt darüber hinaus, er sei ein großer Kolonialist und Frauenfeind gewesen. Das geht an der Wirklichkeit vorbei. Ich erinnere an seinen Satz: “Meine Karte von Afrika ist die von Europa“ und man muss nur in seinem sehr umfangreichen und bemerkenswerten Briefwechsel mit seiner Frau blättern, um zu erkennen, wie sehr er sie auf Augenhöhe behandelte.
Gesellschaften sind wie Pfahlbauten auf dem Wasser. Wenn man auch die tragfähigen Pfeiler aus der Geschichte missachtet, gerät die Basis ins Schlingern und wir bekommen nasse Füße.
Zum 100. Todestag von Otto von Bismarck (vor 25 Jahren) würdigte der sozialdemokratische Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Dr. Reinhard Höppner, die Weitsicht des Kanzlers in Bezug auf seine Sozialgesetze, die in seinem Satz zum Ausdruck kommt: “Ohne eine Grundsolidarität ist der Aufbau einer Nation nicht möglich.“
Verehrte Frau Ministerin, gewähren Sie den erinnerungswürdigen Fakten unserer Geschichte eine Grundsolidarität. Geschichte läßt sich nicht löschen!
Für eine differenzierende Würdigung des Reichskanzlers bestünde im kommenden Jahr, in das sein 125. Todestag fällt, eine gute Möglichkeit.
Ich wünsche Ihnen für Ihr in diesen Zeiten sehr schweres Amt viel Kraft und Erfolg.
Mit bestem Gruß
Ihr Ernst von Bismarck