Titelthema
Bitte keine Glückskeks-Weisheiten
Kein Schüler muss sich für den Glauben entscheiden, aber er sollte wenigstens wissen, warum er sich dagegen entscheidet. Ein Blick in die Unterrichtspraxis
Bei kaum einem anderen Grundrechtsartikel klaffen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit so weit auseinander wie bei Artikel 7 Absatz 3, der garantiert, dass „der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ werden soll. Wie die meisten anderen religionsbezogenen Artikel stammt auch er aus der Weimarer Kirchenrechtsverfassung aus dem Jahr 1919, als noch 90 Prozent der Bevölkerung den christlichen Kirchen angehörten. Genau ein Jahrhundert später, im Jahr 2019, gehören nur noch 52 Prozent einer der großen Kirchen an, 27,2 Prozent der katholischen, 24,9 Prozent der Evangelischen. 5,2 Prozent sind muslimischen Glaubens, vier Prozent zählen zu anderen Religionsgemeinschaften und 38,8 Prozent sind konfessionslos.
Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass eine Änderung dieses Grundgesetzartikels die Mehrheit von Bundestag und Bundesrat fände. Denn der Religionsunterricht war im Schuljahr 2017/18 laut einer Statistik der Kultusministerkonferenz in acht Bundesländern noch immer beliebter als die Ersatzfächer. Das sind Bayern, Baden-Württemberg, das Saarland, Rheinland-Pfalz, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Dort besuchten etwa 71 Prozent der Schüler den Religionsunterricht. Der evangelische Religionsunterricht war schon immer offen für alle Religionen, auch Konfessionslose. Er wollte nie missionarisch sein oder gar bekehren, beim katholischen Religionsunterricht ist das noch immer anders. Ein Unterricht in gemischtkonfessionellen Lerngruppen bedarf noch immer der ausdrücklichen Zustimmung der Diözesen. In der Regel wird sie aber gewährt. So wird in Baden-Württembergs Grundschulen je ein halbes Jahr von einem katholischen und einem evangelischen Religionslehrer erteilt. Auch in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen gibt es solche Kooperationsmodelle. Hinzu kommen Modellversuche mit unterschiedlichen Religionen und Lehrern, die sich vor allem an Oberstufenschüler richten – etwa in Offenbach bei Frankfurt, wo das Fach Ethik (Ersatzfach für Religionsunterricht) mitbeteiligt war.
Neben Bremen ist Berlin das einzige Bundesland, das Religion als ordentliches Unterrichtsfach nicht kennt. Dort führt der Religionsunterricht als freiwillige Unterweisung am Nachmittag schon immer ein Schattendasein. Nur noch 20 Prozent der Schüler nahmen 2019/20 noch am evangelischen Religionsunterricht teil, 6,5 Prozent am katholischen. Immer größeres Interesse weckt der Humanistische Verband mit seiner „Lebenskunde“, die gut 18 Prozent der Schüler besuchten, sechs Prozent der Schüler nehmen am Religionsunterricht der Islamischen Föderation teil – hier steigt die Nachfrage deutlich.
Religion oder Konfession?
In Hamburg, wo es schon immer einen eigenen Weg gab, hat sich der Religionsunterricht für alle etabliert, der zunächst in evangelischer Verantwortung stattfand, was schon deshalb niemanden störte, weil die Mehrheit der Hamburger ohnehin der protestantischen Nordkirche angehörte. Der neue Religionsunterricht (Rufa 2.0) wird nun aber gleichberechtigt von der evangelischen Kirche, drei muslimischen Verbänden, der alevitischen Gemeinde und der Jüdischen Gemeinde getragen. Die katholische Kirche prüft ihre Beteiligung noch. Auch bei diesem Modell gibt es eine klare Zuordnung von Lehrer und Unterricht. Ob es dennoch gelingt, die Unterschiede zwischen Religionen und Konfessionen zu vermitteln und in den weitgehend areligiös sozialisierten Kindern nicht nur ein Einheitsbrei entsteht, ist unsicher. Das neue Modell wird deshalb wissenschaftlich begleitet und auf seine inhaltliche Qualität überprüft.
In ihren Thesen aus dem Jahr 2006 hat die Evangelische Kirche in Deutschland vor allem die Pluralitätsfähigkeit als Ziel definiert. Religionsunterricht soll also die Extreme von Fundamentalismus und Extremismus vermeiden. Dazu bedarf es allerdings anspruchsvoller inhaltlicher Vermittlung, die sich gerade nicht auf moralische Rezepte oder Verhaltensstrategien beschränkt, sondern die Grundlagen für eigene Urteilsfähigkeit und eigene Orientierung bietet. Wenn ein Religionslehrer das aus einer aufgeklärten und trotzdem konfessionell klar erkennbaren Perspektive übernimmt, die sich als kritik- und diskussionsfähig erweist, dürfte das schon ein Glücksfall sein.
Auf den Lehrer kommt es an
Den Religionsunterricht zwischen Lebensbegleitung und Glückskeks-Weisheiten im Blick auf seine Inhalte zu hinterfragen, wäre auch bei den konfessionellen Modellen dringend nötig. Die Lehrpläne sind durchaus anspruchsvoll, das gilt vor allem für die Grund- und Leistungskurse, der Unterricht selbst hängt aber noch mehr als bei anderen Fächern vor allem vom unterrichtenden Lehrer ab. Gerade in den weiterführenden Schulen fesseln Lehrer auch vollkommen nicht-religiös sozialisierte Kinder mit dem Wissen über die Entstehung der Bibel, mit Kenntnissen über Schriftrollen und Texttraditionen, also mit den Grundlagen eines textkritischen Ansatzes. Sie klären Begriffe, grenzen Religion von Konfession ab und führen in die beiden Testamente ein. Das geschieht nicht aus einer religionskundlich-neutralen Perspektive, sondern aus der Perspektive eines aufgeklärten Glaubens, der sich dem Gespräch mit Naturwissenschaften und Wissenschaften stellen kann, ohne in Bekenntnisformeln abzugleiten. Doch solch ein anspruchsvoller Unterricht bildet leider eher die Ausnahme als die Regel. Dabei wäre er genau das, was bei einer wachsenden Unkenntnis religiöser Inhalte gebraucht würde: Religionsverständnis, Bibelkenntnis, religionsgeschichtliche Grundeinsichten und echtes Verständnis für religiöses Leben. Solch ein Unterricht wäre auch ein interessanter Kooperationspartner für Deutsch-, Geschichts-, Kunst- oder Musiklehrer. Denn weder Literatur, noch bildende Kunst oder Musik lassen sich ohne religiöse Grundeinsichten verstehen.
Kein Schüler muss sich für den Glauben entscheiden, aber er soll wenigstens wissen, warum er sich dagegen entscheidet. Gerade weil religiöse Praktiken, Riten, Gebote für viele Schüler völlig unbekannt sind – das gilt vor allem für die weitgehend entkirchlichten ostdeutschen Länder – wäre es wichtig, zumindest die Bedeutung kirchlicher Feiertage und des Kirchenjahrs zu kennen, aber auch Erklärungsmodelle für alle existenziellen Fragen zu ergründen. Der Ethikunterricht – und sei er philosophisch noch so fundiert – bietet dafür keinen Ersatz. Er reduziert Religion auf Ethik, aber sie ist weder Metaphysik noch Moral, sondern „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ – so hat der Berliner Theologe und Philosoph Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Religion 1799 in seinen Reden „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ umschrieben und damit trotz seiner Sprache, die dem Zeitalter der Romantik verpflichtet ist, eine durchaus moderne Definition gefunden.
Ethik als Alternative?
Dass Religionsunterricht sich nicht auf lebenskundliches Handlungswissen beschränken kann, hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem entscheidenden Urteil vom 25. Februar 1987 festgehalten. Darin heißt es, der Religionsunterricht sei „keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloß Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- oder Bibelgeschichte“. Diesem hohen Anspruch wird der Religionsunterricht sicher nicht immer gerecht. Aber die Alternativen zum Religionsunterricht als ordentliches und deshalb auch versetzungsrelevantes Lehrfach in den meisten Bundesländern überzeugen noch weniger, zumal es sich oft um unzureichend ausgebildete Lehrer handelt. Um das Fach Ethik anspruchsvoll unterrichten zu können, wäre eigentlich ein Philosophiestudium nötig, das haben aber nicht alle Ethiklehrer. Viele haben später eine Zusatzausbildung gemacht.
Religionslehrer haben in der Regel ein volles Theologiestudium absolviert. Sie können zu prägenden Lehrerfiguren in Bildungsbiographien werden, wenn sie glaubwürdig, anspruchsvoll und persönlich engagiert unterrichten. Religiöses Leben lässt sich nicht durch Informationen verstehen, sondern nur durch persönliche Vermittlung. Dazu muss sich kein Schüler zu einer Religion bekennen. Aber es ist wichtig zu wissen, wovon man redet. Denn es ist ziemlich schwierig, etwas zu verachten, was man gar nicht verstanden hat. Insofern wird die Phase eines Religionsunterrichts als sinnvolles Experiment, von der Ernst Troeltsch schon im 19. Jahrhundert redete, andauern.
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12/2009
Akademischer Rohrkrepierer
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